Efeu - Die Kulturrundschau

Hedonistisch ausufernde Kunst-Happenings

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02.06.2021. Die taz stöbert in den kenianischen Beständen des Rautenstrauch-Joest-Museums. Außerdem meldet sie die Freilassung des kubanischen Künstlers Luis Manuel Otero. Die SZ lernt im Vitra-Designmuseum, wie nah sich die Avantgarden von DDR und BRD waren. Die NZZ schwärmt von der HBO-Miniserie "Mare of Easttown", in der Kate Winslett wie auch die amerikanischen Provinz ihre schroffe Schönheit offenbaren dürfen. Die Jungle World beobachtet, wie die BDS-Bewegung jetzt auch einen Fuß in die Technoszene bekommt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.06.2021 finden Sie hier

Design

Das "Senftenberger Ei": Von Peter Ghyczy im Westen gestaltet, aus Kostengründen aber in der DDR produziert (Jürgen Hans/Vitra Design Museum)

Begeistert kehrt SZ-Kritiker Kito Nedo von seinem Ausflug ins Vitra-Design-Museum zurück, wo sich eine Ausstellung der Geschichte des deutsch-deutschen Designs widmet: DDR und BRD hatten demnach mehr miteinander zu tun, als es Kalten Kriegern seinerzeit lieb gewesen sein dürfte. Die Schau "mutet in ihrer gelassenen deutsch-deutschen Sachlichkeit und der paritätischen Gewichtung von Ost- und Westdesign geradezu revolutionär an" und "funktioniert vor allem deshalb so gut, weil die komplexe Verwobenheit von Politik, Ökonomie, gemeinsamen Traditionen (Werkbund und Bauhaus), Zeitgeist und Kultur ernst genommen wird. ... Noch in den avantgardistischen Verästelungen der Achtziger wirkt manches unglaublich wesensverwandt. Der Punk-Chic des Ostberliner Untergrund-Modekollektivs Allerleirauh um die beiden Designerinnen Katharina Reinwald und Angelika Kroker schien aus einer ähnlichen Haltung zu kommen wie die unglaublichen Strickdesigns der Westberliner Modemacherin Claudia Skoda, deren Mode auch in New York gefeiert wurde. Beide, das Ost-Kollektiv wie die West-Designerin, inszenierten ihre Modeschauen in den Achtzigern wie hedonistisch ausufernde Kunst-Happenings."
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Kunst

Menschenfresser oder göttlicher Ahn? Die Löwen des Projekts Simbambili. Foto: Rautenstraustrauch-Joest-Museum

Im Besitz des Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum befinden sich 83 kenianische Objekte, von denen 82 noch nie ausgestellt wurden, lernt taz-Autorin Dorothea Marcus in der Ausstellung "Invisible Inventories", für die unter anderem das kenianische Künstlerkollektiv The Nest den Spuren geraubter Kulturgüter nachspürt. Offenbar ohne zimperlich zu sein: "'Invisible Inventories' will daher vor allem eine konzeptuelle Ausstellung sein, die blinde Flecken und fehlende Diskurse aufzeigt. Etwa, indem an einer Wand die Wertsteigerung von Objekten nach ihrem Raub demonstriert wird: der Wert des zeremoniellen Nodoome, ein Tanzschild, hat sich locker vertausendfacht. Wie auf Verbrecherplakaten sind die Bilder und Lebensläufe der 'Sammler' ausgestellt: ein Archäologe, ein Arzt, ein Ethnologen-Ehepaar und eben der brutale Söldner Meinertzhagen, beteiligt an der Ausbeutung während der britischen Kolonialzeit (1895-1963)."

In der taz berichtet Knut Henkel von der Freilassung des kubanischen Künstlers Luis Manuel Otero, der als einer der führenden Köpfe des Movimiento San Isidro (MSI) verhaftet worden war. Der MSI entstand aus dem Protest gegen das Zensurgesetz 349, wie Henkel weiter informiert: "Thais Franco und Esteban Rodríguez sitzen bis heute in Haft, ohne dass deren Familien über die Gründe informiert wurden, so berichtet die kubanische Menschenrechtsorganisation Cubalex. Mary Karla Ares wurde entlassen und unter Hausarrest gestellt. Verstöße gegen geltendes kubanischen Recht, urteilt Cubalex auf ihrer Website. Doch genau das ist, sagt Dokumentarfilmer Michel Matos, in Kuba mehr und mehr Alltag. 'Wir werden seit Monaten systematisch kriminalisiert. Als Terroristen, als Söldner im Dienst der USA, als Konterrevolutionäre werden wir in den Medien bezeichnet, obwohl wir nur Grundrechte einfordern und gegen die Regulierung eintreten', sagt Matos." Wie Valentina di Liscia auf Hyperallergic ergänzt, hatten sich etliche amerikanische Künstler - darunter Theaster Gates, John Akomfrah und Carrie Mae Weems -  für Oteros Freilassung eingesetzt."

Weiteres: Nach einem Rundgang durch die Wiener Galerien stellt Katharina Rustler im Standard fest, dass die meisten das Pandemiejahr gut überstanden haben. Besprochen wird die Ausstellung "Send me an image" im C/O Berlin (Tsp).
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Film

Kate Winslet in "Mare of Easttown" (Sky/HBO Films)

Das US-Kino und -Fernsehen widmet sich derzeit vermehrt dem "Rauen und Echten, der peripher gelebten Existenz", schreibt Jana Janika Bach in der NZZ über Craig Zobels HBO-Miniserie "Mare of Easttown". Aber insbesondere Kate Winslet als Kleinstadt-Ermittlerin against all odds ist hier ein Ereignis schwärmt die Kritikerin: "Meist ist sie in Allwetter-Montur und festem Schuhwerk unterwegs, die Haare mit herausgewachsener Blondierung im Nacken geknotet, als könne sie sich so nicht bloß gegen die winterlichen Temperaturen rüsten, sondern gegen Widrigkeiten aller Art." Sie ist "ein Hollywoodstar, der vertraglich darauf besteht, dass weder das Gesicht verschmälert noch die Falten oder Dellen wegretuschiert werden. Letztlich steckt auch bei Mare hinter all der Härte Verletzlichkeit, die sich irgendwann in Winslets Gesicht offenbart: entwaffnend pur, schroff und schön."

Weitere Artikel: Patrick Heidmann spricht für ZeitOnline mit der Berliner Filmemacherin Anja Marquardt darüber, wie sie zur Regisseurin der dritten Staffel von Steven Soderberghs Anthologieserie "Girlfriend Experience" geworden ist. Am Wochenende wurde in Krakau ein Dokumentarfilm über Roman Polanski uraufgeführt, freut sich Hanns-Georg Rodek in der Welt.
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Literatur

Stefan Weidner berichtet in der FAZ von der Buchmesse in Abu Dhabi, wo die in Kanada lebende Ägypterin Iman Mersal für einen Roman über das Leben der Autorin Enayat Al-Zayyat, die sich 1963 mit 26 Jahren umbrachte, ausgezeichnet wurde. Diese passe zum zeithistorischen Trend in der arabischen Gegenwartsliteratur, erklärt Weidner. Ebenfalls ausgezeichnet wurde der Jordanier Jalal Barjas mit 'Die Notizbücher des Buchhändlers", der damit "die apokalyptische Stimmung trifft, die in vielen Ländern der arabischen Welt um sich gegriffen hat." Da "Abu Dhabi dieses Jahr auch den arabischen Booker Prize finanziert, hat das Emirat inzwischen beinahe eine Monopolstellung bei den großen arabischen Literaturpreisen inne. Dennoch weisen alle ausgezeichneten Bücher ein weitreichendes kritisches Bewusstsein auf, sind progressiv im emanzipatorischen, sozial engagierten Sinn, regen zu politischem Widerspruch an und treten beschönigenden Darstellungen der arabischen Gesellschaften teils rabiat entgegen, religiösen zumal."

Außerdem: Das CrimeMag dokumentiert Ute Cohens Nachwort aus Valentine Imhofs bereits vergangenen Herbst veröffentlichtem, aber offenbar sträflich unrezensiert gebliebenem Kriminalroman "Aus lauter Zorn". Bascha Mika spricht in der FR mit Karl-Josef Kuschel über Goethe und dessen "West-östlichen Divan". In der Dante-Reihe der FAZ schreibt Andreas Kilb darüber, wie Dante im Purgatorio doch noch mal auf den irdischen Pinienwald von Classe zu sprechen kommt. Merle Krögers im Ägypten der 60er spielender Politthriller-Erfolg "Die Experten" inspirierte CrimeMag-Herausgeber Alf Mayer außerdem dazu, nochmal den Roman "Verrat am Nil" aus der Trivialliteratur-Räuberpistolenreihe "Mister Dynamit" zu lesen.

Besprochen werden unter anderem David Peace' "Tokio, neue Stadt" (FR), Kae Tempests Essayband "Verbundensein" (Tagesspiegel), Oyinkan Braithwaites "Das Baby ist meins" ("ein ausgesprochen gescheiter Corona-Lockdown-Roman", meint Ulrich Noller im CrimeMag), ökologisch bewusste Comics von Thomas Cadène und Benjamin Adam, sowie von Miguelanxo Prado (taz), der Band "Was ist eigentlich los mit?" mit ausgewählten Essays von Monika Maron (SZ, FAZ) und Rumena Bužarovskas Storyband "Mein Mann" (FAZ).
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Bühne

Nachtkritikerin Sophie Diesselhorst spricht mit Aino Laberenz und Akinbode Akinbiyi über Christoph Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso, aus dem mittlerweile ein Residenzprogramm für Künstler geworden ist, mit Schule, Krankenstation und landwirtschaftlichen Projekten. Besprochen werde Susanne Zauns Parcours-Stück "Männer allein im Wald", mit dem das Schlosstheater Moers das Wallzentrum bespielt (SZ) und Händels Oper "Agrippina" in Hamburg (SZ).
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Musik

Anastasia Tikhomirova blickt für die Jungle World ausführlich darauf, wie die BDS-Bewegung in der Technoszene Fuß fasst - etwa in Form einer Benefiz-Compilation, auf der sich gröbster Antizionismus und naives Getue nebeninander gesellen. "Es scheint, als böte der israelisch-palästinensische Konflikt in Zeiten des steigenden Drucks, öffentlich in sozialen Medien Stellung zu beziehen, die optimale Gelegenheit zum einfachen, digitalen politischen Pseudoengagement. Technokonsumenten und -produzenten bewegen sich in einem beinahe komplett entpolitisierten Milieu, das aber von ständiger Sinnsuche und Identitätsfindung bestimmt wird. BDS-Aktivismus lässt sich öffentlichkeitswirksam als 'Kampf für das Richtige' präsentieren und bietet die Möglichkeit, das eigene Image aufzupolieren. Diese kurzschlüssige Selbststilisierung schließt eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Konflikt aus, die als solche im Bereich der elektronischen Musik ohnehin kaum möglich wäre. Künstler, die sich in vielen Fällen nicht einmal des antisemitischen Charakters ihres Denkens und Handelns bewusst sind, werden so für antiisraelische Agitation instrumentalisiert."

Außerdem: Robert Mießner weist in der taz auf das Festival "Klangteppich" mit in der Diaspora entstandener iranischer Musik hin. Im Guardian erinnert sich Anton Corbijn an seine Anfänge als Haus- und Hoffotograf von Depeche Mode vor 40 Jahren. Im CulturMag erinnert sich Thomas Wörtche, wie er in den 70ern "nach Moers" fuhr. Florian Bissig (NZZ) und Wolfgang Sandner (FAZ) gratulieren der Jazzpianistin Irène Schweizer zum 80. Geburtstag. Ebenfalls 80 Jahre alt wird Rolling Stone Charlie Watts, dem Christian Schröder (Tagesspiegel) und Harry Nutt (FR) Glückwünsche entbieten.

Besprochen werden die Compilation "Heisei No Oto: Japanese Left-Field Pop from the CD Age (1989-1996)", an der tazler Lars Fleischmann sehr viel Freude hat, eine CD-Box mit den Aufnahmen von Thomas Dausgaards "Brandenburg Project", der dafür sechs Komponisten bat, Antworten auf Bachs Brandenburgische Konzerte in der Originalinstrumentierung zu komponieren (SZ), ein Streamkonzert von Marlis Petersen (FR), neue Popveröffentlichungen, darunter "Life's A Beach" von Easy Life (es erwarten einen "schwüle Keys, fein angedengelte Gitarre, ganz smooth schwingende Nuschel-Singsang-Raps", informiert SZ-Popkolumnist Jakob Biazza), und ein Album der Schauspielerin Birgit Minichmayr mit jazzigen Interpretationen der Shakespeare-Sonnetten (SZ). Wir hören rein:

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