Efeu - Die Kulturrundschau

Mehr Office und weniger Home

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.06.2021. Die Berliner Zeitung entdeckt einen Dürer in Crailsheim. In der SZ beklagt ausgerechnet Hubert Winkels die Betriebshaftigkeit der Literaturkritik. Der Tagesspiegel berichtet erschüttert von Christophe Cognets auf der Berlinale gezeigtem Dokumentarfilm "From Where They Stood". Die FAZ erklärt dem Berliner Senat, dass niedrige Hochhäuser nicht halb, sondern doppelt schlimm sind. Die NZZ erlebt Wagners "Rheingold" als Grand Guignol. Und die SZ zieht jetzt in ihr eigenes Vorstandszimmer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.06.2021 finden Sie hier

Literatur

Morgen beginnt der Bachmann-Lesewettbewerb in Klagenfurt. Zum letzten Mal steht der Kritiker Hubert Winkels der Jury vor, der im SZ-Gespräch melancholisch wird, wenn er auf die große Zeit der Literaturkritik mit daran angeschlossenen, bis weit in die Gesellschaft hineinstrahlenden Debatten erinnert. Seitdem gebe es einen "Bedeutungsverlust", man bewege sich vor allem unter seinesgleichen im Betrieb. "Ich denke, es gibt eine allgemeine Ausdifferenzierung der Lebensbereiche, sodass Leute, die mit Literatur zu tun haben, mit Leuten zu tun haben, die mit Literatur zu tun haben. Mir ist aber wichtig, dass das kein Orchideenfach ist, sondern jedem klar sein muss, dass es in der Literatur um alles geht. Dazu kommt, dass man die nicht rational oder funktional zu bearbeitenden Teile der Welt oder der Gesellschaft schrumpft, das Imaginäre kaserniert." Die Literatur aber "muss die dominierenden politischen und sozialen Ansprüche entstellen oder gar zersetzen, um zu sehen: Wie formieren diese sich eigentlich?"

Weitere Artikel: In der Dante-Reihe der FAZ erinnert Jörg-Dieter Kogel an Sigmund Freuds Commedia-Lektüren. Michael Maar denkt in der "Was folgt"-Reihe der SZ über letzte Sätze nach. Im Tagesspiegel meldet Gerrit Bartels, dass der Erste Deutsche Sachbuchpreis an den krassen Außenseiter Jürgen Kaube ("Hegels Welt") ging.

Besprochen werden unter anderem Helga Schuberts "Vom Aufstehen" (54books), John Sauters Lyrikband "Zone" (Intellectures), Yukiko Motoyas "Die einsame Bodybuilderin" (ZeitOnline), Bücher von und über H.C. Artmann zu dessen 100. Geburtstag (Tagesspiegel), Ute Stefanie Strassers Autobiografie (FR), Steven Applebys Comic "Dragman" (Tagesspiegel) und Volha Hapeyevas "Camel Travel" (FAZ).
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Bühne

Stefan Herheims "Rheingold"-Inszeneirung. Foto: Bernd Uhlig /Deutsche Oper

Hingerissen ist
Eleonore Büning in der NZZ von Stefan Herheims "Rheingold"-Inszenierung, mit der auch die Bühnen in Berlin wieder zu Live-Premieren übergehen. Herheim bedient alle Sinne, versichert Büning: "Er erzählt das Märchen vom Streit der Zwerge, Riesen und Götter um die Weltmacht als Vorgriff auf die gesamte Weltuntergangs-Tetralogie; aber auch in kritischer Kenntnis der politischen Wirkungsgeschichte Wagners und in ironiesatter Anspielung auf die Inszenierungstraditionen. Eine Mixtur aus Puppenspiel, Zirkus und Grand Guignol - mit Bildern, die zugleich süß sind und bitter, mager und drall, wild und witzig, banal und kompliziert, provozierend ehrlich und voll reizvoller Rätsel." In der FAZ hätte sich Gerald Felber allerdings gewünscht, dass das von David Runnicles "in schlanker Transparenz" geführte Orchester mehr Raum bekommen hätte.

Besprochen werden außerdem Stephan Kimmigs Inszenierung von Ibsens "Wildente" (Nachtkritik, FAZ), Puccinis "La Fanciulla del West" an der Berliner Staatsoper (mit einer überragenden Anja Kampe, wie Julia Spinola in der SZ beteuert, auch wenn Lydia Steiers Inszenierung FR-Kritikerin Judith von Sternburg etwas ratlos zurücklässt, Tsp), Richard Strauss' "Rosenkavalier" wurde an der Wiener Staatsoper (Standard), das Erinnerungsmosaik "Klang des Regens" am Staatstheater Augsburg, in dem Carmen Jeß und Miriam Ibrahim Kolonialismus und Rassismus thematisieren (taz) sowie Nicol Ljubics Stück "Ein Mensch brennt" mit dem Freien Schauspiel Ensemble (FR).
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Kunst

Für den spätgotischen Flügelaltar der Crailsheimer Johanneskirche kündigt sich eine Sensation an: Unter Experten verdichtet sich die Vermutung, wie Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung meldet, dass ausgerechnet eine der meist zugeklappten Tafeln von Albrecht Dürer stammen könnte: "Auf dem Gemälde besticht nicht bloß das Leuchten der Farben. Es sind auch die martialische Szene und das Personal, das in den Bann zieht: Gerade war der Henker, dem man direkt ins ungerührte Gesicht gucken kann, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln zugange. In der Rechten hält er das Schwert, in der Linken zerrt er das abgeschlagene Haupt von Johannes dem Täufer an den Haaren, setzt die Trophäe einer jungen Frau - Salome - im grünen Gewand auf den hingehaltenen Silberteller. Hinter dem Schergen sinkt der kopflose Rumpf des Täufers, der einst Jesus im Jordan getauft hatte, blutspritzend zu Boden."

Besprochen werden die Ausstellung "The Body Electric" im Wiener Museum Leopold, die Erwin Osen und Egon Schiele nebeneinanderstellt (FAZ) und Yael Bartanas Schau ""Redemption Now" im Jüdischen Museum Berlin (Standard).
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Design

Nils Moormann: "Vorstand"
Ein schlichter Schrank, der ein ganzes Arbeitszimmer fürs Home Office in kleinen Räumen in sich trägt: Gerhard Matzig staunt in der SZ nicht schlecht über den "Vorstand", den Nils Holger Moormann, der "Ironiker der sonst lustbefreiten Design-Szene", entworfen hat. Dieses Möbel "sieht im Normalfall aus wie ein besserer Schuhschrank und steht dort, wo er das Wohnen nicht weiter stört. Wenn aber das Leben dieses schöne Wohnen doch einmal stören sollte, etwa in Form eines Anrufs von der Chefin, die das Home-Office-Wesen zu mehr Office und weniger Home anleiten möchte, dann ist die Stunde des Vorstands gekommen. Auf Rollen lässt sich die Front herausfahren, sichtbar wird ein im Korpus verankerter Sekretär mit herausklappbarer Tischplatte. ... Das Raumwunder auf Vollgummi-Rollen misst im sozusagen erigierten Zustand 170 Zentimeter in der Tiefe. Zum Schrank geschrumpft sind es gerade mal knapp 37,5 Zentimeter. Das Möbel ist knapp einen Meter breit und gut zwei Meter hoch. Das Tiny House Movement ist um einen winzigen Arbeitsraum reicher."

Die Mode pflegt derzeit den Trend zur Marmorierung, ist ZeitMagazin-Kolumnist Tillmann Prüfer aufgefallen. Darin liegt auch eine gewisse Ironie der Geschichte: "Während wir heute Marmor als ein Muster sehen, das wir auf Textilien aufbringen können, damit sie zeitlos edel wie in Stein gehauen aussehen, war er in der Antike vor allem ein Untergrund, um Farbe aufzubringen, damit ein in Stein gemeißelter Gott einen möglichst schrillen Fummel tragen konnte."

Außerdem: In Pirmasens, wo mal die Hälfte der Bevölkerung in den einst 330 Schuhfabriken der Stadt gearbeitet hat, schließt nun auch Peter Kaisers Fabrik, mit der mal alles angefangen hat, berichtet Gianna Niewel in ihrer Reportage für die Seite Drei der SZ.
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Architektur

Bekümmert blickt Ulf Meyer in der FAZ auf die Pläne, mit denen Berlin insgesamt fünfundzwanzig Hochhäuser in Angriff nimmt, ihnen aber nur mickrige Höhen von zwölf bis zwanzig Geschossen gönnt. Als müsste Berlin alle Fehler der Vergangenheit wiederholen: "Es handelt sich nicht um ausgewachsene Wolkenkratzer von 150 Metern Höhe und mehr, sondern zumeist um niedrige Stummel, was sie unförmig oder zumindest unelegant aussehen lässt. Zudem sind die Türmchen über das Stadtgebiet verteilt, statt sich zu Clustern zu fügen. Eine wiedererkennbare Skyline kann auf diese Weise nicht entstehen. Vielmehr erinnert die Entwicklung an Josef Stalins Plan zum Bau von 'Sieben Schwestern' für Moskau: Er sah vor, weit über das Stadtgebiet verstreut sieben Hochhaus-Solitäre zu errichten. Schuld an der Fehlentwicklung ist vor allem die halbherzig agierende Politik, die ehrgeizigere Planungen gekappt hat."
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Stichwörter: Stalin, Josef

Film

Ein Still aus Christophe Cognets "From Where They Stood" (Berlinale/L'atelier documentaire)

Die Berlinale zeigt Christophe Cognets Dokumentarfilm "From Where They Stood" über die Fotografien, die Insassen in KZs geschossen haben. "Ihre schiere Zeugenschaft ist erschütternd", schreibt Christiane Peitz im Tagesspiegel. "Manche posieren, Hände in den Hosentaschen, Standbein, Spielbein - auch wenn Haut und Knochen von grausamen medizinischen Versuchen entstellt sind. Die Posen besagen: Wir werden nicht als Menschen behandelt, aber wir lassen uns das Recht auf unser Bild nicht nehmen, auf den letzten Rest unserer Würde. ... Eine physische Manifestation, wie die winzigen Knochenreste, die der Regen aus der Erde von Dachau spült. Die letzten Überlebenden sterben, die Zeitzeugen verschwinden, auch deshalb sei ihr materielles Erbe immer wichtiger."

Außerdem: Susanne Lenz berichtet in der FR von ihrem Treffen mit einigen Protagonisten aus Aliaksei Paluyans auf der Berlinale gezeigtem Dokumentarfilm "Courage" über die Proteste in Belarus. Kirsten Taylor schreibt im Tagesspiegel über das Kinder- und Jugendfilmprogramm der Berlinale. Im Guardian spricht Ben Wheatley über seinen neuen, von der Pandemie geprägten Horrorfilm. Peter Bradshaw (Guardian) und Tobias Kniebe (SZ) schreiben Nachrufe auf den Hollywoodschauspieler Ned Beatty.

Besprochen werden Dasha Nekrasovas und Madeline Quinns auf der Berlinale gezeigter Film "The Scary of Sixty-First" über Verschwörungstheorien (Jungle World) und der Disneyfilm "Cruella" mit Emma Stone (Standard).
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Musik

Harald Eggebrecht würdigt in der SZ die Violinistin Tabea Zimmermann, die wegen Corona erst heute, mit einem Jahr Verspätung, den Ernst-von-Siemens-Musikpreis erhält. Das Spiel ihres Instruments bietet "einzigartige Klangabenteuer", darunter "Melancholien mit plötzlichen Ausblicken", schwärmt Eggebrecht, der von Zimmermann zudem erfahren hat, dass sie sich in den präpandemischen Status Quo nicht gerade zurücksehnt: Zwar mag sie es, zu spielen, "aber sie reise nicht wirklich gern. Da sie auch keinen Spaß an den von aller Welt betriebenen Streamings hat, ... ließ sich die Musikerin etwas anderes, viel Einfacheres einfallen. Seit rund zwanzig Wochen gibt sie an den Wochenenden in ihrem Berliner Domizil Treppenhaus-Konzerte, auch mit ihren Kindern, für die Nachbarn. 'Sie spielen anders, wenn der Raum anders ist. Und Musik ist immer ein Raumerlebnis für alle Beteiligten, ob Spieler oder Zuhörer."



Besprochen werden das neue Album von Sleater-Kinney (ZeitOnline, Guardian) und neue Jazzveröffentlichungen, darunter  Binker Goldings "Moon Day", auf dem man "drei wirklich großen Musikern beim Denken zuhören" kann, schreibt SZ-Kritiker Andrian Kreye. Wir hören rein:

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