Efeu - Die Kulturrundschau

Die alles bestimmende Diskursmode

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25.06.2021. Die SZ liest noch einmal Uwe Timms Roman "Morenga", der sich schon vierzig Jahren mit den Kolonialverbrechen der Deutschen beschäftigt hat. Der Tagesspiegel reist mit Alice Winocours feministischem Kosmonautendrama "Proxima" ins All. Der Künstler Christian Boltanski spricht mit Monopol über den Tod. In Van möchte die designierte Intendantin der Semperoper Nora Schmidt lieber nichts mit Genies zu tun haben.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.06.2021 finden Sie hier

Kunst

Christian Boltanski, Ausstellungsansicht "Danach". Foto: Lepkowski Studios Berlin, Courtesy: Christian Boltanski und Kewenig Galerie


Mit Corona ist der Tod in unserer Gesellschaft plötzlich sehr präsent geworden, meint im Interview mit Monopol der Künstler Christian Boltanski, dessen Ausstellung "Danach" in der Berliner Galerie Kewenig sich ebenfalls mit dieser Zeitenwende beschäftigt. "Für mich hat dieses 'Danach' mehrere Bedeutungsebenen: Ich habe schon häufig mit dem Titel 'Après' gearbeitet, der für mich in erster Linie auf die Zeit nach dem Tod anspielt. Nun ist dieser Titel aber auch leicht ironisch, denn in der Berichterstattung und in unserer Gesellschaft hat sich diese Mähr vom 'Leben danach', von dem 'Leben nach Corona' eingebürgert. Michel Houellebecq ist da pessimistischer, und ich könnte mir vorstellen, dass er damit Recht haben könnte, dass wir Menschen wieder sehr schnell in alte Angewohnheiten und Verhaltensweisen zurückfallen werden.  Und dann gibt es noch eine dritte, sehr persönliche Bedeutungsebene, denn diese Ausstellung ist die erste nach dem Tod meines langjährigen Freundes und Begleiters Michael Kewenig."

Time to be Together. Foto: © Lesha Pavlov


Ganz andere Erfahrungen machte der Fotograf Lesha Pavlov. Während der Selbstisolation in Petersburg vereinsamte er immer mehr, erzählt er im Interview mit LensCulture. Und dann verliebte er sich - in eine Künstlerin, Polina, die er auf Instagram entdeckte. Beide entwickelten das Projekt "Time to be Together", das die Entwicklung ihrer Beziehung dokumentieren sollte. "Ich stellte mir vor, dass dies eine einfache Geschichte über Menschen sein würde, die sich kennenlernen und ineinander verlieben", erzählt Pavlov. "Eine Art romantisches Tagebuch. Visuell wollte ich einen filmischen Look erreichen - als würde jemand ein romantisches Drama anschauen und auf Pause drücken. Mir scheint, dass dies den ganzen Surrealismus des vergangenen Jahres und die Besonderheit der Umstände, unter denen ich Polina kennen gelernt habe, widerspiegelt. ... Natürlich habe ich viel in dokumentarischer Manier gedreht. Aber um ehrlich zu sein, gefiel es mir besser, wenn Polina und ich uns zusammensetzten und besprachen, wie wir dieses oder jenes Element unseres Alltags mit Hilfe der inszenierten Fotografie zeigen könnten. Wir dachten über alles nach - die Situation, die Bedeutung, die Komposition, das Licht. Ich spürte in diesen Momenten eine besondere Verbundenheit, denn es ist wunderbar, sich von einer Sache mitreißen zu lassen. Das gemeinsame Schaffen hat sehr geholfen, denn eine Kamera in einer Beziehung zu haben, war für uns beide neu."

Außerdem: Ganz allergisch gegen Esoterik darf nicht sein, wer die Ausstellung "Kosmos weben" der niederländischen Textilkünstlerin Hella Jongerius im Berliner Gropius-Bau besucht, meint Sonja Zekri in der SZ angesichts des Angebots von Jongerius, ein gemeinsames Garn zu ertanzen. "Und zur Beratung über Farben, Formen und kosmische Kreisläufe hat sie Schamanen herangezogen. Andererseits visualisiert ihre Kunst Themen, die zugleich uralt und hochaktuell sind, und das ist doch erfrischend."
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Literatur

Vor 43 Jahren erschien Uwe Timms nun in einer Neuausgabe veröffentlichter Roman "Morenga". Dass sein Roman zumindest einen gewissen Anteil daran hat, dass Deutschland sich heute seinen Kolonialverbrechen im heutigen Namibia zu stellen vorhat, will der Autor nicht ausschließen, erzählt er Peter Richter von der SZ, der ihn besucht hat. Zum Erscheinen sah Deutschland sich noch als guter Kolonialherr, selbst Linke interessierten sich wenig für diese Geschichte. Auch zur "Empfindsamkeitsliteratur der Gegenwart" steht der Roman ziemlich quer: "'Postkolonialismus' ist die alles bestimmende Diskursmode. Der wird jetzt auch Timms Roman gerne zugeordnet, obwohl er von diesem Begriff, der erst Ende der Siebziger aufkam, noch gar nichts wissen konnte, dafür aber Begriffe unverblümt verwendet, die manche jetzt am liebsten auch aus historischen Kontexten tilgen würden. Trotz neuer Rechtschreibung und Nachwort von Robert Habeck lässt Timm aber auch in der aktuellen Neuausgabe von 'Morenga' seinen Veterinär nicht von 'Schwarzafrikanern' an Land tragen, sondern er verwendet das Wort, das dieser Veterinär 1904 verwendet hätte."

Weitere Artikel: Matthias Heine liest für die Welt Bertolt Brechts Sommergedicht "Vom Schwimmen in Flüssen und Seen". Besprochen werden unter anderem Leïla Slimanis "Das Land der Anderen" (FR), eine kommentierte Ausgabe von Thomas Manns "Späte Erzählungen" (Tagesspiegel) und Zadie Smiths Erzählungsband "Grand Union" (SZ).
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Bühne

Regine Müller berichtet in der taz vom Festival "Theater der Welt". Im Van Magazin denkt Susanne Schulz über Führung und Druck am Theater nach.

Besprochen werden Tiago Rodrigues' Stück "Catarina oder von der Schönheit, Faschisten zu töten", das der portugiesische Nationalheldin Catarina Eufémia ein Denkmal setzt, bei den Wiener Festwochen (nachtkritik), Wichaya Artamats Stück "Four Days in September", ebenfalls bei den Wiener Festwochen (Standard, nachtkritik), der European Philosophical Song Contest, eine Casting-Show-Parodie von Massimo Furlan und Claire de Ribaupierre  am Düsseldorfer Schauspielhaus (nachtkritik) und Armin Petras' Inszenierung von von Ella Hicksons "Öl der Erde" am Staatstheater Hannover (taz).
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Film

Eva Green auf dem Weg ins All: "Proxima" von Alice Winocour

Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche reist in Alice Winocours "Proxima" gerne mit Eva Green ins All, wo es sonst im Kino doch meist nur traurige Männer hinzieht. Traurig ist auch Green, da ihre einjährige Fahrt in den Kosmos auch von allerlei Mutterfragen abhängt. "Ähnlich wie ihre Kollegin Céline Sciamma versteht es Winocour, die Sensorik zwischenmenschlicher Beziehungen visuell zu erkunden." Und "Green, die im US-Kino viel zu oft das Stereotyp der Femme Fatale bedienen muss, erträgt die subtilen Herabsetzungen, die Härte der Ausbildung, die Verlustangst mit undurchdringlicher Miene. 'Proxima' sondiert in hypnotischer Schwerelosigkeit Familien- und Arbeitsverhältnisse. ... Männliche Kinohelden brechen in den Weltraum auf, um ihre Versäumnisse als Väter zu kompensieren, Sarah will ihrer Tochter ein Vorbild sein."

Weitere Artikel: Dominik Kamalzadeh porträtiert im Standard die Schauspielerin und Filmemacherin Maria Schrader, deren (in der Zeit besprochener) neuer Film "Ich bin dein Mensch" jetzt in die Kinos kommt. Frank Arnold (taz) und Robert Wagner (critic.de) empfehlen die heute im Berliner Zeughauskino beginnende Ulli-Lommel-Retrospektive. Das hatten wir übersehen: Bereits vergangenen Sonntag verneigte sich Michael Ranze im Filmdienst vor Jane Russell, die vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden Ben und Joshua Safdies auf DVD veröffentlichter "Mad Love in New York" (critic.de, Artechock), George Grillos "Kings of Hollywood" mit Robert de Niro, Morgan Freeman und Tommy Lee Jones (SZ), "The Father" mit Anthony Hopkins (NZZ), die Serie "Solos" (taz, FAZ) und Tate Taylors "Breaking News in Yuba County" (Welt).
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Musik

Am Mittwoch zitierte Julia Spinola in der SZ den Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung Gerald Mertens, der die Nicht-Verlängerung des Vertrags von Christian Thielemann mit der Dresdner Semperoper begrüßt hatte, "da die 'Zeit der Pultgötter' nun einmal vorbei sei. Als Dirigent müsse man heute mehr Qualifikationen mitbringen, als nur gut zu dirigieren. Unter den Dirigenten der Mittzwanzigergeneration sehe er Kandidaten, die besser kommunizieren könnten". Darauf angesprochen meint die designierte neue Intendantin der Semperoper, Nora Schmidt, im Interview mit dem Van Magazin: "Es gibt natürlich Künstler und Künstlerinnen, die außergewöhnlich sind. Die Frage ist aber immer, ob man mit diesen Bildern nicht von dem Eigentlichen ablenkt und Ersatzbewertungskriterien schafft, die einfach etwas behaupten. Der Geniebegriff kann auch eine Ausrede sein, um sich in gewissen Belangen gar nicht richtig anzustrengen. Ich mag so knappe Verkürzungen nicht. Vieles ist im Moment im Umbruch. Ich glaube, dass die Institutionen am besten durch die Krise gekommen sind, in denen es gleich zu Beginn ein geteiltes Bewusstsein dafür gab, dass man nur gemeinsam über die Ziellinie kommt."

Jochen Overbeck spricht im Tagesspiegel mit der Roots-Musikerin Amythyst Kiah, die gerade ein neues Album veröffentlicht hat. Unter anderem geht es um die musikhistorische Rolle des Banjos, das lange Zeit vor allem mit weißer amerikanischer Musik wie Country in Verbindung gebracht wurde. "Es geht nicht darum, Besitzansprüche zu erheben. Es geht viel eher darum, das Banjo als Teil nicht nur der amerikanischen, sondern auch der Schwarzen Geschichte zu lesen. Denn das fantastische an der amerikanischen Musikgeschichte ist doch, dass es so viele verschiedene Einflüsse aus der ganzen Welt gibt. Wenn wir wahrnehmen, dass die Gitarre aus Spanien kommt, können wir auch wahrnehmen, dass dieses Instrument aus Westafrika stammt." Ihr Song "Black Myself" hat eine tolle Energie:



Außerdem: In der taz warnt Carolina Schwarz davor, in der (durch die Verschriftlichung von Spears' ziemlich heftigen Gerichtsaussagen neu befeuerte) Berichterstattung über Britney Spears' Kampf gegen ihre Entmündigung die Grenze zum "skandalgetriebenem Boulevard" nicht zu überschreiten. Im ZeitMagazin verneigt sich Anna Kemper vor Manu Chao, der gerade 60 Jahre alt geworden ist.

Besprochen werden das von Valery Gergiev dirigierte Konzert der Russisch-Deutschen Musikakdamie zum 80. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion (FAZ), die Uraufführung von Bryce Dessners "Neue Werk für Orchester" in der Tonhalle-Maag in Zürich (NZZ) und das neue Album von Lucy Dacus (ZeitOnline).
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