Efeu - Die Kulturrundschau

Kernschmelze des Attraktionskinos

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14.07.2021. In der taz sieht Florian Kessler nicht die Literatur in der identitätspolitischen Krise, sondern das Ego der Kritiker. Die SZ erlebt in Gerd Kührs Oper "Paradiese", wie eine erotische Urgewalt über den Prenzlauer Berg hereinbricht. Die FAZ erstarrt mit Wunderbaum vor der Eiswand der Intellektuellen. Die NZZ ruft dazu auf, die Geschichte schwarzer Komponisten in der Klassik aufzuarbeiten, von denen etliche, wie etwa Williams Dawson, in unverdiente Vergessenheit geraten sind.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.07.2021 finden Sie hier

Literatur

Hanser-Lektor Florian Kessler greift in der taz die Debatte um Moritz Baßlers  "Midcult"-Kritik an der deutschen Gegenwartsliteratur auf, die seiner Ansicht nach auf ein Komplizenverhältnis zum Publikum abzielt (unsere ersten Resümees hier und dort). "Warum soll allein das angeblich 'Nichtidentitäre' in den Himmel der Literatur führen", fragt sich Kessler und fürchtet, "Baßlers symptomatisches Problem mit der Gegenwartsliteratur ist gar nicht die Literatur. Das Problem steckt vielmehr im Zustand ihrer Kritik." Denn "das Abfertigen aktueller Texte als 'kuschelige ästhetische Geschlossenheit von Angebot und Nachfrage' (Baßler) oder kürzer: 'Identitätskitsch' (Klagenfurt-Juror Philipp Tingler) kaschiert nur eines: Das Missbehagen etablierter Kritiker*innen darüber, dass ihre eigene wertgeschätzte Identität mit den zugehörigen ästhetischen Kriterien nicht die allgemeinverbindliche Messlatte darstellt. ... Die literaturkritische Überzeugung, dass allein man selbst sich nach tiefgründigen ästhetischen Maßstäben richtet, alle abgekanzelten Ästhetiken aber profan-stillose Politik treiben, ist selbst nichts anderes als eine zutiefst politische Handlung - die des Ausschließens."

Weitere Artikel: Nach dem jüngsten Ärger um den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis - die Bischofskonferenz hatte die Juryentscheidung kassiert, mutmaßlich weil ein Buch über Transsexualität ausgezeichnet werden sollte - werden die Bischöfe bei der Vergabe des Preises künftig nicht mehr mitreden dürfen, meldet Roswitha Budeus-Budde in der SZ. Fast spiegelbildllich dazu die Entwicklung in Ungarn: Weil die Anfeindungen gegen ihn anhalten und auch aus Protest gegen Ungarns neue homophobe Gesetze verlässt der Kinderbuchredakteur Boldizsár Nagy das Land, meldet Sarah Zapf in der SZ. Für Tell stellt Herwig Finkeldey sich die Frage: "Proust oder Joyce?" Gustav Seibt erzählt in der SZ von dem Genuss, den es ihm bereitet, mit Proust-Hörbüchern auf den Ohren durch Brandenburg zu radeln.

Besprochen werden unter anderem Mary MacLanes "Meine Freundin Annabel Lee" (NZZ), Carolina Schuttis "Der Himmel ist ein kleiner Kreis" (taz), Peter Sprengels "Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1830-1870. Vormärz - Nachmärz" (online nachgereicht von der FAZ), Sarah Halls "Die Töchter des Nordens" (SZ) und Kristian Wachingers Neuübersetzung von Claude Anets "Ariane - Liebe am Nachmittag" (FAZ).
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Bühne

Gerd Küghrs "Paradiese" an der Oper Leipzig. Foto: Kirsten Nijhof

Sehr melancholisch, fast schon resignativ findet Julia Spinola in der SZ Gerd Kührs in Leipzig uraufgeführte Oper "Paradiese", die nach einem Libretto von Hans-Ulrich Treichel ins geteilte Berlin führt. Die Gesangspartien sind allerdings ganz fabelhaft besetzt, lobt sie: "Vor allem Mathias Hausmann gelingt es mit seinem warmen Baritontimbre, dem Albert ein Maximum an Leben einzuhauchen. Julia Sophie Wagner hat verführerisch irisierende, hell-flötende Töne für die Friederike. Magdalena Hinterdobler füllt als erotische Urgewalt das Prenzlauer Berg-Spießeridyll mit ihrem farbenreichen, sinnlichen Sopran."

Auch die Clowns sind in der Krise, lernt FAZ-Kritiker Kevin Hanschke beim "Clowns-Kongress" des niederländischen Theaterkollektiv Wunderbaum in Jena: "Das Publikum sei wie eine Eiswand, niemand lache, 'wahrscheinlich Intellektuelle', wirft ein Clown ein. 'Geht es uns um das ausgiebige Lachen' oder das 'Lächeln, das den Menschen über seine Existenz nachdenken lässt', fragt Leonardo. Was ist die Aufgabe von Clowns? 'Die Performance muss wahrhaftig sein', sagt Schaumberger. 'Nein', die Tradition sei wichtig, raunzt der Maestro. 'Wir müssen wissen, woher wir kommen, um zu wissen, wer wir sind.'"

Weitere Artikel: Uwe Mattheis porträtiert in der taz den Gründer des morgen in Wien startenden Impulstanz-Festivals, Karl Regensburger. SZ-Autor Till Briegleb durchsteht einige seiner Ansicht nach deprimierend platte Performances beim Festival Theaterformen in Hannover

Besprochen werden die Ausstellung "Der absolute Tanz" zu Tänzerinnen der Weimarer Republik im Georg Kolbe Museum in Berlin (SZ) und die Fotografie-Schau "The New Woman Behind the Camera" im Metropolitan Museum in New York (NYT),
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Film

Rasant in die Katastrophe: Peter Tscherkasskys "Train Again" (Bild: Sixpackfilm)

Die Filmkritiker schwärmen in Cannes auch weiterhin von Wes Andersons "The French Dispatch" (etwa Anke Leweke auf ZeitOnline und Daniel Kothenschulte in der FR), zu dem wir bereits gestern Kritiken zitierten. Weitere Festivalfilme sind da Nebenschauplätze. Standard-Kritiker Dominik Kamalzadeh etwa kann sich sehr für "Train Again", Peter Tscherkasskys neue Arbeit und eine "fulminante Geschwindigkeitsstudie", begeistern: Der österreichische Experimentalfilmemacher schließt darin "eines der Urmotive des Kinos, die Zugfahrt, mit apokalyptischen Reitern und einer Pferdekutsche zu einer sinnesbetörenden Raserei kurz. Tscherkassky experimenteller Actionfilm führt per Montage, ruckelnde Frames und Mehrfachbelichtungen noch einmal eine abstrakte Kernschmelze des Attraktionskinos vor. Moderne und ungebremster Fortschrittsglauben laufen hier auf dem Fast Track ab, das Unglück, die Katastrophe ist schon unausweichlich."

Im Cannes-Blog der FAZ berichtet Andreas Kilb unter anderem von seinem Besuch auf der Arte-Jacht: Der deutsch-französische Kultursender "hat diesmal allein elf Filme im Wettbewerb kofinanziert, also fast die Hälfte, und dazu an die zwanzig Beiträge in anderen Sektionen." Im Filmdienst zieht Josef Lederle eine Festival-Halbzeitbilanz: "Auffällig häufig sind Frauen die Hauptfiguren, die sich in einer von Männern dominierten Welt behaupten und die Verhältnisse ein Stück weit nach ihren Vorstellungen umgestalten."

David Steinitz versucht in der SZ, aus den von Disney veröffentlichten Zahlen zum neuen Marvelblockbuster "Black Widow" schlau zu werden. Im Kino erzielte der Film bislang weltweit 160 Millionen Dollar Umsatz, via Streaming auf dem eigenen Portal 60 Millionen Dollar. Ist das für einen Superheldenfilm im Kino nun relativ schlecht oder für einen in der Pandemie gestarteten Film relativ gut? Außerdem kann man die Streamingeinnahmen "nicht so einfach zu der Kinosumme dazu addieren. Denn die Kino-Einnahmen muss Disney mit den Kinobetreibern teilen; das Streaming-Geld wiederum bleibt dem Konzern fast ganz. Also ein Erfolg? Nicht, wenn man sich überlegt, dass Disney+ weltweit über 103 Millionen Abonnenten hat. Denn die müssen für "Black Widow" zusätzlich zum Abo eine Gebühr von knapp 30 Dollar zahlen. Was bedeutet, dass nur zwei von 103 Millionen Abonnenten sich den Film gegönnt haben - und das wiederum ist eher schlecht."

Besprochen werden Ueli Meiers Dokumentarfilm "Ich habe in Moll geträumt" über die Schwabinger Jahre des Schweizer Schriftstellers Walter Rufer (NZZ), die Arte-Doku "Hongkong - Eine Stadt im Widerstand" (FR), die ZDFNeo-Serie "Deadlines" (FAZ) und die Ausstellung "Katastrophen" im Filmmuseum in Frankfurt (FR).
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Kunst

Nina Bovensiepen dröselt auf der Seite 3 der SZ noch einmal die Lebensgeschichte des Medienunternehmers Leo Kirch auf, aus dessen Kunstsammlung jetzt was werden soll.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Hexenverfolgung im Taxispalais Innsbruck (Standard) und das Ausstellungsprojekt "Smell it!" zum Geruch in der Kunst in mehreren Bremer Museen (SZ), die bereits in Basel gezeigte Retrospektive der Schweizer Künstlerin Sophie Taeuber-Arp in der Tate Modern (Guardian)
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Musik

Marcus Stäbler plädiert in der NZZ dafür, die Geschichte schwarzer Komponisten in der Klassik aufzuarbeiten. Als Beispiel dient ihm William Dawsons 1934 in New York uraufgeführte "Negro Folk Symphony", die nach ihrer Premiere bald wieder verschwand, obwohl sie von Publikum, Kritik und den Musikern gefeiert wurde. Als der Dirigent Roderick Cox sie kürzlich mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen aufführen wollte, dauerte es fast ein halbes Jahr, bis überhaupt auch nur die Noten vorlagen. Dies "steht beispielhaft für ein strukturelles Problem. Viele Werke von schwarzen Komponistinnen und Komponisten wurden, ohne Rücksicht auf ihre künstlerische Qualität, vergessen oder aussortiert." Doch "hätte ein Leonard Bernstein die 'Negro Folk Symphony' geschrieben - stilistisch wäre dies durchaus denkbar gewesen -, dann nähme sie heute gewiss eine andere Rolle ein und gälte womöglich verdientermaßen als eins der wichtigsten amerikanischen Werke des 20. Jahrhunderts. ... 'Hier ist ein Verbrechen vorhanden, wenn ich das so sagen darf', klagt der renommierte Bariton Thomas Hampson. 'Wir feiern als Amerikaner nicht die komplette Schönheit unserer Kultur!'" Eindrücke des von Hampson kuratierten Programms "Celebration of Black Music" bietet diese Aufnahme aus der Elbphilharmonie:



Weitere Artikel: Anina Pommerenke porträtiert in der taz die Hamburger Soulmusikerin Miu, die mit ihrer Single "The Reminder" gegen groteske historische Vergleiche von Coronamaßnahmengegnern Stellung bezieht.

Besprochen werden Rejji Snows neues Rap-Album "Baw Baw Black Sheep" (Freitag), Jacob Dylans neues Album mit den Wallflowers (Standard), Charlotte Day Wilsons Debütalbum "Alpha" (Tagesspiegel), neue Popveröffentlichungen, darunter neuer, hektischer Post-Internet-Pop von Aldn ("Der Soundtrack für einen schwer verkaterten Mittagsschlaf auf dem Nagelbrett", meint SZ-Popkolumnist Jens Christian Rabe) und das neue Album des vietnamesischen Experimentalmusikkollektivs Rắn Cạp Đuôi (taz). Wir hören rein:

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