Efeu - Die Kulturrundschau

Gemeinschaft und Ekstase

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22.07.2021. Die Filmkritiker erleben mit Thomas Vinterberg das Glück im Alkoholrausch und die Abgestumpftheit von Lehrern in mittleren Jahren. Monopol blickt mit postkolonialen Künstlern vom gegenüberliegenden Spreeufer aufs Humboldt Forum und frotzelt: Warum nicht gleich ganz Mitte rekonstruieren? Das Künstlerkollektiv Forensic Architecture wusste längst über die Pegasus-Überwachung Bescheid, erinnert ebenfalls Monopol. Die Literaturkritik arbeitet sich weiter an Denis Schecks Anti-Kanon ab. Und die SZ hört Kuriosa der Jazzgeschichte von Alice Coltrane.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.07.2021 finden Sie hier

Film

Mads Mikkelsens pichelt in "Der Rausch" gut mit (Mauritius/Weltkino)

Das große Saufen? Thomas Vinterberg erzählt in "Der Rausch" jedenfalls von einer Gruppe Lehrer, die sich vornimmt, fortan keinen Tag mehr nüchtern zu verbringen. "Je länger der Film dauert, desto mehr erkennt man das Porträt einer westlichen Gesellschaft, in der kaum ein Ereignis ohne Alkohol denkbar ist", schreibt Daniel Kothenschulte in der FR. Moralinsauer ist das dennoch ganz und gar nicht, denn "schließlich sieht man hinter der Schwäche der Protagonisten, ihr Glück nur betrunken erleben zu können, eben dieses Glück. Und das wiederum, die Freude von Gemeinschaft und Ekstase, vermag uns gerade heute, mit dem Lockdown im Rücken, besonders kostbar erscheinen." Auch tazlerin Katharina Granzin hält fest: "Wer hier nach einer eindeutigen Botschaft sucht, wird jedenfalls mit leeren Händen abziehen müssen. Alkohol tut gut, Alkohol zerstört; beides ist der Fall, manchmal sogar gleichzeitig. Wenn es eine Sache gibt, die dieser Film einer am Ende eindeutig vernichtend ausgefallenen Prüfung unterzogen hat, dann ist es das Leistungssystem Schule. Wie kann es sein, dass diese Lehrertypen in mittleren Jahren schon derart abgestumpft und desillusioniert sind?"

Weitere Artikel: Für die Berliner Zeitung porträtiert Nina Hermann den Schauspieler Hinnerk Schönemann.

Besprochen werden Lisa Gottos und Dominik Grafs Buch "Kino unter Druck" über osteuropäische Filme (SZ), Stefan Kolbes und Chris Wrights Dokumentarfilm "Anmaßung" über einen Mörder (Tagesspiegel, mehr dazu bereits hier), die Verfilmung von Lin-Manuel Mirandas Musical "In the Heights" (ZeitOnline, Tagesspiegel), François Ozons "Sommer 85" (Presse), Arne Körners Satire "Gasmann" (taz), Justin Lins neuer Teil der "Fast & Furious"-Reihe (Welt, unsere Kritik hier), die Amazon-Serie "Them" über Rassismus in den USA der 50er (taz), Mona Fastvolds "The World to Come" (Standard), David Clay Diaz' "Me, We" (Standard), Peter Thorwarths Actionhorrorfilm "Blood Red Sky" (taz), die Disney-Serie "Scott & Huutsch" (FAZ) und die Ausstellung "Katastrophe" im Frankfurter Filmmuseum (FAZ).
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Literatur

Die Literaturkritik arbeitet sich weiter an Denis Schecks SWR-Reihe "Schecks Anti-Kanon" ab, insbesondere das Verdikt über Christa Wolfs Erzählung "Kassandra", in der die Autorin die Achtzigerjahre der DDR mit Motiven der griechischen Antike kreuzt, sorgt für erhebliche Irritation. "Gerade der zentrale Vorwurf Schecks, dass die Männerfiguren des Trojanischen Krieges nicht im Mittelpunkt der Erzählung stehen", verwundert Charlotte Szász im Freitag. "Auf Biegen und Brechen versucht Scheck durch seine 'Kritik' eine Lanze für die Männlichkeit zu brechen, bei einer Erzählung, von der es Abertausende männliche Versionen gibt. Und so ist die weibliche Perspektive wiederholt als Außenseiterin in die Literaturkritik eingegangen: 'Unmöglich war es doch, dass Menschen auf die Dauer einer, die ihr Recht beweist, nicht Glauben schenken sollten.' Leider, liebe Christa Wolf, ist es doch immer noch so."

Obgleich Scheck ein ums andere Mal immer wieder "Pathos" zeiht, ist sein eigenes Auftreten nichts anderes als pathetisch, meint Paul Jandl in der NZZ, "auch wenn es clownesk als Ironie verkauft werden soll. Denis Scheck ist ein Nachbild seines Vorbilds Marcel Reich-Ranicki. Mit ihm teilt er eine Vorliebe für helle Anzüge und böse Pointen. Wo aber das Original solche Dinge einfach aus dem Ärmel schütteln konnte, liest Scheck die Pointen ab und poliert sie beim Sprechen noch genüsslich nach. Viel Aufwand für das bisschen wohlfeiler Häme. ... Erstaunlich, dass sich das Fernsehen immer noch etwas Neues einfallen lässt, um richtig alt auszusehen. Die Literaturkritik im deutschen Fernsehen krankt an ihren beflissenen, ewiggleichen Ich-weiss-was-Darstellern."

Besprochen werden unter anderem Francis Neniks "E. oder die Insel" (ZeitOnline), Quentin Tarantinos Romandebüt nach seinem letzten Film "Once upon a Time in Hollywood" (online nachgereicht von der FAZ), Ferdinand Schmalz' Romandebüt "Mein Lieblingstier heißt Winter" (Standard), neue Veröffentlichungen mit Texten von Wolfgang Welt (SZ) und Jirí Hájíceks "Vignetten mit Segelschiff" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Spektogrammanalyse hörbarer Aufnahmen | © Forensic Architecture, 2021
Besuchern der Ausstellung "Investigative Commons" im Berliner Haus der Kulturen der Welt und der Schau "Circles" von Laura Poitras und Sean Vegezzi im Neuen Berliner Kunstverein sind die Pegasus-Enthüllungen, die derzeit medial Furore machen (Unsere Resümees) längst bekannt, schreibt Saskia Trebing in Monopol: "So hat das Künstler- und Forscherkollektiv Forensic Architecture zusammen mit der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, dem Citizen Lab der Universität Toronto, der Filmemacherin Laura Poitras und anderen Anfang Juli eine Recherche veröffentlicht, die zeigt, wie die Überwachung mit Pegasus funktioniert. Die Kunstdetektive visualisieren dokumentierte Fälle von kaum bemerkbaren Hacking-Angriffen auf die Smartphones von Aktivistinnen und Journalisten in einer interaktiven Grafik und bringen die Cyber-Attacken mit Repressalien gegen die ausspionierten Personen in der physischen Welt zusammen. Außerdem berichten sie vom (bisher recht aussichtslosen) juristischen Kampf gegen den Einsatz der Software." Trebing geht auch der Frage nach, weshalb politische Kunst oft so wirkungslos bleibt.

All jenen, die noch keine Karte fürs endlich eröffnete Humboldt Forum bekommen haben und vor allem jenen, die das Schloss am liebsten gleich wieder abreißen würden, empfiehlt Philipp Hindahl ebendalls in Monopol einen Besuch in der Ausstellung "Re-Move Schloss" im gegenüberliegenden "Spreeufer" mit Protest-Kunst gegen den Museumsbau: "Der Künstler Johannes Paul Raether stellt in einem satirischen Video Pläne vor, ganz Mitte nach Art des Stadtschlosses zu rekonstruieren, inklusive der neuen Reichskanzlei. Das Designbüro Schroeter und Berger hat Postkarten und Aufkleber gestaltet, und im Schaufenster läuft das Kampagnenvideo der Coalition of Cultural Workers Against the Humboldt Forum: 'Defund the Humboldt Forum'. 'Kitsch und Clanwirtschaft', heißt es da, würden im Verband mit alten und neuen Antidemokraten Unmengen von Steuergeldern verschlingen. Der Protest ist vielstimmig. Es geht um Preußen-Nostalgie und Kolonialverbrechen, es geht um Raubkunst und das Kreuz auf der Kuppel des Neubaus." Im Tagesspiegel bespricht Anna Thewalt die Ausstellung.

Eine Wahlverwandtschaft erkennt Stefan Trinks in der FAZ im Duisburger Lehmbruck-Museum in der Ausstellung "Lehmbruck - Beuys. Alles ist Skulptur", die den Parallelen der beiden Künstler nachspürt: "Eine der wesentlichen Ähnlichkeiten ist die Grundüberzeugung, dass im Scheitern eine Gelegenheit zur Heilung liegt, vermittelt durch Kunst und Kultur. Beide versuchten, ihre Traumatisierungen und Verwundungen durch den Krieg, bei Lehmbruck der Erste Weltkrieg, bei Beuys der Zweite, in Kunst zu verwandeln. Ein unkriegerischeres 'Kriegerdenkmal' als Lehmbrucks 'Gestürzter' mit seinem Dolch in der Hand lässt sich jedenfalls nicht denken. Schräg dahinter zum Gerade-noch-Zusammensehen ist eine unbetitelte Installation Beuys' von 1971 aufgebaut. Ein bronzenes Kreuz mit Sonnenaureole liegt wie ein Siegel auf einer hölzernen Munitionskiste, über die diagonal eine brutal gestutzte Fichte mit einer Berglampe aufragt. Die Natur ist hier wie so oft bei Beuys Stellvertreterin für einen im Krieg 'Gestürzten', die Fichte speziell steht bei ihm für Tod, das Kreuz allgemein für Leben und Heil."

Außerdem: Der Porno-Streamingdienst Pornhub zeigt unter der Kategorie "Classic Nudes" unter anderem Aktgemälde von Caravaggio, Tizian, Botticelli oder Goya, die Werke werden von Pornodarstellen nachgestellt. Die Uffizien prüfen derzeit eine Klage gegen die Plattform, meldet Oliver Meiler in der SZ: "Es liege eine "sehr schwerwiegende Verletzung des Urheberrechts vor. Oder anders: Pornhub, mit Büros in Kanada und Steuersitz in Luxemburg, 460 Millionen Dollar Jahresumsatz, zeigt die Bilder, ohne dafür zu bezahlen." (Mal nebenbei: Urheberrecht auf Caravaggio, war der nicht schon mehr als siebzig Jahre tot? ein paar der völlig harmlosen Bilder kann man hier sehen.) Im Guardian schaut sich Stuart Jeffries die fünf britischen Museen, die es auf die Shortlist für den Art Fund Museum of the Year-Preis geschafft haben, an. In der taz schreibt Oliver Koerner von Gustorf den Nachruf auf den Künstler Gerhard Faulhaber.

Besprochen werden Birgit Schlieps Buch "Aktau, Bildphänomene einer Plattenbaustadt in der kasachischen Steppe" (taz) und die Ausstellung "Pop Punk Politik - Die 1980er" in der Münchner Stadtbibliothek (Zeit).
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Bühne

Bei Katharina Thalbachs Inszenierung des Agatha-Christie-Klassikers "Mord im Orient-Express" wird das Schillertheater trotz erlaubter Vollbelegung nur zu fünfzig Prozent ausgelastet sein - Intendant Martin Woelffer reagiert so auf den Wunsch von 3000 befragten Stammkunden, meldet der Tagesspiegel. In der FAZ liegt Gina Thomas dem 82jährigen Ian McKellen als Hamlet in Sean Mathias' Inszenierung am Londoner Theatre Royal Winsor weniger zu Füßen als das Publikum: Zu manieriert erscheint ihr dessen "Zurschaustellung von Virtuosität". Für den Guardian bespricht Arifa Akbar das Stück.

Besprochen werden Carl Hegemanns Buch "Dramaturgie des Daseins. Everyday live" (nachtkritik), Lisa Padouvas' Inszenierung von Mozarts "Entführung aus dem Serail" bei den Opernfestspielen in Gars am Kamp (Standard), Brigitte Fassbaenders Inszenierung von Wagners "Rheingold" bei den Tiroler Festspielen (Zeit) und Lukas Bärfuss' Historienstück "Luther" bei den Nibelungenfestspielen in Worms - ein "betulich historisierendes" "Stück, das keinem wehtut", winkt Christian Gampert in der Zeit ab.
Archiv: Bühne

Musik

Andrian Kreye hört sich für die SZ durch Alice Coltranes Album "Kirtan: Turiya sings". Die Aufnahmen stammen aus den frühen 80ern, als Coltrane sich fernöstlichen Religionen zuwandte und ihre um allerlei Synthesizer-Spuren angereicherte Musik Ashram-Besuchern als Kassette zusteckte - unter Sammlern galten diese Tapes "als Kuriosa der Jazzgeschichte". Erstmals regulär veröffentlicht hat sie nun der Sohn Ravi Coltrane, dabei allerdings die New-Age-Synthesizer-Overdubs herausgenommen und die Musik somit "auf die reine Essenz reduziert", wie Coltrane sagt. Zu hören gibt es ausschließlich Sanskrit-Gesänge mit Wurlitzer-Orgel. Das "klingt anstrengend minimalistisch, hat aber eine Sogwirkung", meint Kreye, denn "Coltrane hatte als Jazzmusikerin ein unglaubliches Gespür für Timing und Flow, deswegen war die Musik nicht nur das übliche Krishna-Geleier. ... Coltranes Stimme bekommt in den Sanskrit-Linien eine ganz eigene Qualität, die mit dem Jazz nur noch das Gespür für Puls und Ausdruck gemein hat." Auf Youtube kann man sich das Album anhören (und mit den alten New-Age-Versionen - hier zum Beispiel das erste Stück - vergleichen).



Weitere Artikel: Beim Verbier-Festival in der Schweiz musste das Orchester nach einem positiven Coronatest aufgelöst werden, meldet Corina Kolbe im Tagesspiegel. Hannes Hintermeier berichtet in der FAZ von den Europäischen Wochen in Passau. Harry Nutt (FR) und Jan Feddersen (taz online) gratulieren Mireille Mathieu zum 75. Geburtstag. Besprochen wird Monolinks neues Album "Under Darkening Skies" (taz).
Archiv: Musik