Efeu - Die Kulturrundschau

Revolution beginnt immer in der Musik

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.08.2021. In Salzburg schickt Jossi Wieler die berückten Kritiker auf Sinnsuche mit seiner Inszenierung von "Das Bergwerk zu Falun" nach Hugo von Hofmannsthal. Im Standard denkt die Schriftstellerin Anna Kim über den Begriff "Muttersprache" nach. In der NZZ erzählt der Schriftsteller Tom Schulz, wie der Dichter W.H. Auden einst im Wienerwald Zuflucht fand. Der Guardian bewundert den Umgang der Blumendesignerin Constance Spry mit Grünkohl und Mangold. In der FAS erzählt Kiveli Dörken, wie man ein Musikfestival auf Lesbos in Hörweite von 13.000 Flüchtlingen macht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.08.2021 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Das Bergwerk zu Falun". Foto © Ruth Walz


In Salzburg hatte Jossi Wielers Inszenierung von "Das Bergwerk zu Falun" nach Hugo von Hofmannsthal Premiere. Das Stück hat die Dramaturgin Marion Tiedtke um die Hälfte gekürzt und um ein Märchen von Johann Peter Hebel ergänzt, informiert Egbert Tholl in der SZ. Es geht um einen Untoten, einen Seemann, eine Bergkönigin, "und dann ist da die Liebe", erzählt ein hingerissener Tholl. "Die Liebe von Anna zu Elis, von diesem von Lea Ruckpaul mit berückender Klarheit gespielten Mädchen, das eine Poesie hat ohne jedes Raunen. Eigentlich wäre sie der Kristall, den Elis im Berg sucht, aber das kapiert er kaum, weil schon bei Hoffmann die Menschen immer an dem Ort sind, an den sie nicht gehören, und woanders sein wollen, was sie aber nicht finden, weil es das Woanders gar nicht in der Realität gibt."

Auch nachtkritikerin Gabi Hift hat die Geschichte gepackt: "Ohne unfreiwillige Komik, ohne Momente unerträglicher Schwülstigkeit. Das gelingt durch eine eigene Sprachbehandlung aus einer Art höflichen Distanz heraus. Die Schauspieler*innen trennen ein Gruppe Wörter durch kleine Pausen mitten im Satz ab und horchen ihnen nach, nicht der psychologischen Bedeutung, sondern dem Klang, analytisch, ohne Pathos und kühl. Besonders faszinierend ist das bei André Jung, der den alten Torbern spielt, aber auch Marcel Kohler als Elis beherrscht das brillant. Weil Elis nie heiß und leidenschaftlich ist, sondern ein interessierter Beobachter seines eigenen Todestriebs, macht es ihn sympathisch, aber nicht mitreißend - man begreift nur theoretisch, was ihn in die Tiefe zieht." Weitere Besprechungen im Tagesspiegel und im Standard.

"Das Weinen (das Wähnen". Foto: Gina Folly


Am Schauspielhaus Zürich hat Christoph Marthaler für sein Projekt "Das Weinen (das Wähnen)" Texte des Künstlers Dieter Roth auf die Bühne gebracht. Der warf "gerne mal den Sinn der Worte für den richtigen Klang über Bord", schreibt Valeria Heintges in der nachtkritik. "Etwa wenn Olivia Grigolli von 'Onkel Hackenbrechtöter' und von der 'Doppelkoppknackekeulenhackbrettsäge' redet oder Elisa Plüss ihrem Boss berichtet, 'alles alles alles' sei 'zerkloppt, zertropft, vergangen, abgesahnt, Zahn!'. Wer da Sinn sucht, kann irre werden - und wäre da gleich am rechten Ort. Denn Christoph Marthaler, Duri Bischoff (Bühnenbild) und Sara Kittelmann (Kostüme) haben das Geschehen in eine Apotheke verlegt. Die bietet für alle Leiden das rechte Medikament, wie die Beschriftungen der Regale behaupten." Streckenweise amüsant, findet Heintges das, aber von Marthaler doch allzu typisch und "aseptisch" inszeniert.

Weitere Artikel: In der SZ freut sich Christiane Lutz über die Sommerbühne in Offenbach, die Theaterspielen draußen ermöglicht. Gerhard Stadelmaier gratuliert dem "grandiosen Mehr-als-Dramaturgen" Hermann Beil in der FAZ zum Achtzigsten.

Besprochen werden multimediale Performances beim Berliner Festival Tanz im August (taz), Bernardo Pasquinis Oper "L'Idalma", die die Festwochen Alter Musik in Innsbruck eröffnete (FAZ) und Mozarts "Così fan tutte" in der Inszenierung von Christof Loy und mit Joana Mallwitz am Pult in Salzburg (Standard, SZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Die koreanischstämmige österreichische Schriftstellerin Anna Kim denkt im Standard-Essay nach der Geburt ihres Sohnes über den Begriff "Muttersprache" nach. Ihre eigene Mutter spricht zwar Koreanisch, aber sie selbst hatte sich einst geschworen, "und dies ist eine meiner frühesten Erinnerungen, Deutsch und nur Deutsch sprechen zu wollen. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals koreanische Gedanken gehabt zu haben, Selbstgespräche, sogar geträumt habe ich immer auf Deutsch. Ganz selten liegt mir ein koreanisches Wort auf der Zunge, das ich für geeigneter, treffender halte als seinen deutschen Verwandten, dann benutze ich es bewusst. Davon abgesehen hat sich diese Sprache mit den Jahren in eine fremde Sprache verwandelt, in eine, die mir sogar ferner ist als Englisch. Dementsprechend kämpfe, diskutiere ich schon seit (mittlerweile) Jahrzehnten für mein Recht, Deutsch meine Muttersprache nennen zu dürfen, obwohl es nicht die Sprache meiner Mutter ist."

In einem online nachgereichten Artikel in der NZZ zeichnet der Schriftsteller Tom Schulz nach, wie der englische Dichter W.H. Auden einst im Wienerwald Zuflucht fand: "Im Hinterholz hatte er ein Refugium gefunden, fern der akademischen Welt und dem Rampenlicht. Hier konnte er im Bademantel unter Bäumen sitzen, in alten Schuhen, gekleidet fast schon wie ein Clochard durchs Dorf gehen. Mit Kallman, vierzehn Jahre jünger als er, in den er sich 1940 verliebt hatte, lebte er wie ein altes Ehepaar." Dort "fand er zwar keine Heimat, aber eine Scholle fester Erde unter den Füßen. Es gefiel ihm, der bestaunte, bewunderte Fremde zu sein. ... Kaum jemand ahnte, geschweige denn wusste, mit wem er es zu tun hatte. Die Schärfe seines Intellekts; die große Gabe, in allem Welt zu sehen, sie zu verwandeln in Magie, Glanz und subtile Komik."

Weitere Artikel: In der Dante-Reihe der FAZ schreibt der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering über das Motiv der Erlösung in der "Commedia". Stichwort "Dante": Marc Reichwein blickt für die Welt mit Dantes "Inferno" im Hinterkopf auf die Brandkatastrophe in Griechenland.

Besprochen werden unter anderem Katharina Volckmers Debüt "Der Termin" (FAS), Jonathan Lethems "Anatomie eines Spielers" (Standard), Barbara Frischmuths Erzählband "Dein Schatten tanzt in der Küche" (Freitag), Mark Twains Reisebericht "Unterwegs mit den Arglosen" (NZZ), Uwe Lindemanns literaturwissenschaftlicher Essay "Der Krake" (Jungle World), Seiko Itos "Das Romanverbot ist nur zu begrüßen" (Freitag), Gert Loschütz' "Besichtigung eines Unglücks" (Tagesspiegel) und Arnold Stadlers "Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo" (Standard).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Wolfgang Matz über Wilhelm Lehmanns "Auf sommerlichem Friedhof (1944) In memoriam Oskar Loerke":

"Der Fliegenschnäpper steinauf, steinab.
Der Rosenduft begräbt dein Grab.
..."
Archiv: Literatur

Design

Mangoldblätter in einer Vase von Constance Spry circa 1935. Foto: Reginald Malby / RHS Lindley Collections


Miss Betsan Horlicks Hochzeit mit Mr. John Coats am 31. Oktober 1933 in der Kathedrale von Southwark war ein gesellschaftliches Ereignis. "Aber es waren die Blumen, die die Show stahlen", erzählt Rachel Cooke im Guardian anlässlich einer Ausstellung zu der Blumendesignerin Constance Spry im Garden Museum in London. "Horlick, in weißem Samt gekleidet, trug einen Strauß strahlend blauer Enziane in eine Kirche, die mit 12 Fuß hohen Ständern aus grünen Hortensien und Pampasgras geschmückt war. Ihre Brautjungfern glichen in ihrer Masse einer Ansammlung menschlicher Säulen, und ihre unwahrscheinlich riesigen Sträuße aus Aronstab und Eukalyptus schienen an ihrem Äußeren fast Wurzeln geschlagen zu haben. Wie die Vogue aufgeregt berichtete, war das alles 'völlig neuartig'. Diese Blumen waren das Werk von Constance Spry, einer Blumendesignerin, die damals so in Mode war, dass keine gesellschaftliche Veranstaltung ohne sie auskam. ... Wie die jüngste Ausstellung des Gartenmuseums zeigt, gelang es ihr nicht nur kurzzeitig, ein paar Leute mit zu viel Geld davon zu überzeugen, dass Mangold in der richtigen Vase wunderschön aussehen kann (die Herzogin von Kent bat Spry einmal, ihre charakteristischen Grünkohlblätter aus einem Arrangement zu entfernen, mit der Begründung, dass ihre Mutter, die ehemalige Großfürstin Jelena Wladimirowna von Russland, zu Besuch sei 'und es vielleicht nicht verstehen würde')."

Die Leggins sind wieder da, beziehungsweise waren ja nie wirklich fort, glossiert Tillmann Prüfern im ZeitMagazin. Ursprünglich strikt für Männer vorgesehen, erfreuten sie sich lange Zeit insbesondere bei den Frauen großer Beliebtheit. Doch "auch bei den Männern sind Leggins nun wieder beliebt. Gern in der Form der Radlerhose. Oder auch als enge, lange Leggins, über die meist eine legere kurze Sporthose gezogen wird. Da ist sie also wieder, die männliche Lust am eigenen Bein. Hinzu kommt, dass Leggins auch sehr bequem sind. Das machte sie zu den großen Corona-Gewinnern. Als man nicht mehr aus dem Haus konnte, trug offenbar die ganze Welt Leggins."

Weiteres: Die FAZ hat Claudius Seidl Besprechung der Ausstellung zu Mart Stam im Museum der Dinge in Berlin online nachgereicht (mehr zu der Ausstellung bereits hier und dort).
Archiv: Design

Film

Bei Stichtagen zur deutschen Geschichte sieht das öffentlich-rechtliche Fernsehen stets die Stunde geschlagen, die Filmredaktion mit den Muskeln spielen zu lassen. Heraus kommt dabei jedoch meist bloß erkenntnisarmer Dekor-Mumpitz. So auch im Fall der Degeto-Produktion "3 1/2 Stunden", die 60 Jahre Mauerbau zum Thema hat, schreibt Matthias Dell auf ZeitOnline: Eine Gruppe von Zugreisenden kriegt Wind vom Mauerbau und muss sich entscheiden, welche Richtung der Zug nehmen soll. "Der 'bestechende Filmstoff' bleibt leider ein Versprechen, auch weil es der Film (Regie: Ed Herzog) mit der Spannung nicht übertreibt. Um die existenziellen Entscheidungen ermessen zu können, müsste man die Umstände des handelnden Personals besser kennen, deren persönliche Ängste, Sorgen und Nöte. ... Das ist das Merkwürdige an diesen Geschichtsverfilmungen: Statt etwas zu erzählen, was neu wäre, gefallen sie sich darin, all das an Thema, Stoff und Dialog abzuklatschen, was im Kontext von Mauerbau und DDR eh schon erzählt worden ist."

Weitere Artikel: Der Streit zwischen Scarlett Johansson und dem Disneykonzern (unser Resümee) gerät nach einer Wortmeldung des Disney-Anwalts endgültig zur Schlammschlacht, berichtet David Steinitz in der SZ.

Besprochen werden M. Night Shyamalans Horrorfilm "Old" über das Altern (SZ), Jasmila Žbanićs "Quo vadis, Aida?" (FAZ, unsere Kritik hier), "The Little Things" mit Denzel Washington (Tages-Anzeiger), die Drogendealer-Doku "Shiny_Flakes" (SZ), Stefan Jägers in Locarno gezeigter Spielfilm "Monte Verità" (NZZ) und Kirsten Beckens gleichzeitig auch als Hörspiel umgesetzter Experimental-Kunstfilm "Ihre Geister sehen" mit Sandra Hüller (Welt), der auf Youtube zu finden ist:

Archiv: Film

Kunst

Im Guardian annonciert Ben Quinn für den September eine Ausstellung antiker Kunst aus Kasachstan im Fitzwilliam Museum in Cambridge: "In der Ausstellung 'Gold der Großen Steppe' wird zum ersten Mal auf der Weltbühne gezeigt, was das Museum als 'archäologische Sensation' bezeichnet: Hunderte von herausragenden Goldartefakten, die vor kurzem in antiken Grabhügeln der Saka in Ostkasachstan entdeckt wurden."

Besprochen werden eine Ausstellung der Blumenbilder des Grünen-Politikers Anton Hofreiter in der Berliner Pop-up-Galerie pavlov's dog (Zeit online), eine Ausstellung mit Zero-Kunst und Arte Povera im dänischen Herning (taz), Installationen von Raphaela Vogel und Gabber Eleganza im Rahmen der Ausstellungsserie "Paradise Lost" im Kleinen Wasserspeicher in Berlin (taz) und die Flaubert gewidmete Ausstellung "Salammbô! Fureur! Passion! Éléphants!" im Musée des Beaux-Arts von Rouen (FAZ). Außerdem hat die Zeit Petra Kipphofs Besprechung der Dürer-Ausstellung im Suermondt-Ludwig-Museum in Aachen online nachgereicht.
Archiv: Kunst

Musik

Für die FAS spricht Thilo Komma-Pöllath mit Kiveli Dörken, der künstlerischen Leiterin des Kammermusikfestivals in Molyvos - fast schon in Sichtweite zu den 13.000 Flüchtlingen, die sich derzeit in Lagern auf Lesbos befinden. Ob das Festivalmotto "Liberty" da als Kommentar zu verstehen ist? "Die Frage ist, welchen Unterschied können wir als Musikfestival an den gegebenen Umständen machen? Man könnte diese Menschen mit einem Fingerschnippen auf Europa verteilen. Für die Zeit, die es braucht, einen Konsens in Europa zu finden, habe ich Frieden mit mir gemacht und gesagt, ich muss geduldig bleiben. Geduldig heißt nicht, warten und nichts tun, sondern ständig versuchen, Begegnungen zu kreieren, kulturellen Austausch zu organisieren. ... Revolution beginnt immer in der Musik, in der Kunst. Kultur ist der Politik immer drei Schritte voraus. Das, was in der Kultur aufbrodelt und wichtig wird, damit wird Politik fünf oder zehn Jahre später konfrontiert. In einer freien Gesellschaft triggert die Kultur die Politik und nicht umgekehrt."

Weitere Artikel: Jörg Wunder berichtet im Tagesspiegel vom Festival "21 Sunsets" in Berlin. Für die NMZ sichtet Wolfgang Molkow Filme mit Orgeln. Sam Sodomsky kramt für Pitchfork nochmal Bruce Springsteens Klassiker "Born in the U.S.A." aus dem Plattenschrank hervor. Für die FAS porträtiert Thomas Lindemann den Neoklassik-Komponisten Max Richter, der sein neues Album "Exiles" als "Aktivistenmusik" gegen die europäische Flüchtlingspolitik versteht.



Besprochen werden eine große Multimedia-Edition mit Bruckners Sinfonien (FAZ), ein Mahler-Konzert der Wiener Philharmoniker unter Andris Nelsons (Standard), Prince' posthumes Album "Welcome 2 America" (taz), Daren Barenboims Auftritt beim Rheingau Musik Festival (FR), ein Hamburger Auftritt von Element of Crime (Welt), das Konzert des Wiener Jeunesse Orchesters bei Young Euro Classic (Tagesspiegel), ein Konzert des Bundesjugendorchesters (Tagesspiegel) und Tinashes Album "333" (Pitchfork). Wir hören rein:

Archiv: Musik