Efeu - Die Kulturrundschau

So ungeheuer vieles zur gleichen Zeit

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10.08.2021. Der Filmdienst bewundert die raue Schönheit in den Filmen von Alberto Lattuada, dem das Festival Locarno seine Retrospektive widmet. In der FR sinniert Max Dax über die Langeweile des Alltags und den Trost der Sprache. Die aufregendste Architektur kommt momentan aus China, ist die SZ überzeugt. Hyperallergic blickt betrübt auf die muffigen Teppiche, mit der in der Hagia Sophia christliche Kunstwerke verdeckt werden, seit der Bau zur Moschee umgewandelt wurde. Und die NZZ huldigt dem Musiker, Bodybuilder und Lebenskünstler Rummelsnuff.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.08.2021 finden Sie hier

Film

Alberto Lattuadas "Bandit" mit Anna Magnani 

Die diesjährige Retrospektive von Locarno ist dem italienischen Regisseur Alberto Lattuada gewidmet: Mit "Der Bandit" schuf er 1946 eines der "wichtigsten Werke des italienischen Neorealismus", stieg aber trotz einer kontinuierlich wachsenden Filmografie nie so recht in den Pantheon des italienischen Autorenfilms auf, schreibt Michael Ranze im Filmdienst. Das dürfte wohl auch daran gelegen haben, dass Lattuada ein eher kommerziell orientierter Regisseur war. "Mit 'Ohne Gnade' kehrt er 1948 zur unmittelbaren Nachkriegszeit zurück, er dreht an Originalschauplätzen in Livorno, in Bars, Straßen, am Hafen, auf dem Schwarzmarkt. ... Wie schon 'Der Bandit' ist auch dieser Film bemerkenswert für seine raue Authentizität, für seine Wucht und seinen schnellen Rhythmus, für seine Menschlichkeit und Lebendigkeit, für seine Mischung aus Melodram und Realismus. Die irritierendste Figur des Films ist der Gangsterboss Pier Luigi, ein bedrohlich wirkender Mann im weißen Leinenanzug und mit weißem Hut, der das Paar für seine Zwecke einspannt und so das tragische Ende einleitet. Lattuada zeigt sich hier vom amerikanischen Gangsterfilm, den er als Cinephiler gut kennt, von der Gewalt und der Action beeinflusst, und diese Mischung aus Neorealismus und Genrekino macht seinen Film so besonders."

Außerdem: Für den Filmdienst unternimmt Lukas Barwenczik einen Streifzug durch die Filme von M. Night Shyamalan. Auch Philipp Stadelmaier freut sich in der SZ über die Wiederentdeckung der Filmpionierin Alice Guy-Blaché (mehr dazu bereits hier). Rolf Giesen schreibt in der Welt einen großen Nachruf auf den Filmverleiher und -produzenten Hanns Eckelkamp.
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Architektur

Im Winter nur 7 Quadratmeter, im Sommer 30: Das Mikrohofhaus von Guobin Shen. Foto: Atelier Kaiser Shen

Auch wenn es in Europa niemand wahrhaben möchte, ist Laura Weißmüller in der SZ überzeugt, entstehen die spannendsten Architekturentwürfe für die Biennalen oder die Dezeen Awards derzeit in China: "'Wir werden uns noch wundern. Nicht nur dass sie an uns vorbeilaufen, sondern wie wenig wir wissen', sagt Hans-Jürgen Commerell, Direktor von Aedes, der privaten Architekturgalerie aus Berlin. Vor Jahren hat Aedes mit 'TU MU' die erste Generation unabhängig arbeitender Architekten aus China vorgestellt. Mit dabei waren Ai Wei Wei und Wang Shu. 'Alle Welt wollte damals in China bauen', erinnert sich Commerell. 'Wir wollten wissen, wie baut China?' Die Frage hatte bis dahin kaum jemanden interessiert. Lange her. Die 'sehr kleine Gruppe' von damals habe sich längst vervielfacht, so Commerell. Aber die westliche Ignoranz, die Vorstellung, in Europa über allem zu stehen, verhindere, dass wir das bemerkten. Deutlich werde das zum Beispiel bei Wettbewerben: 'Warum laden wir dazu keinen einzigen chinesischen Architekten ein?'"
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Stichwörter: Chinesische Architektur

Literatur

In der FR spricht Max Dax über seinen aktuellen Roman "Dissonanz", in dem er das Jahr 2009/10, als er Chefredakteur der Spex war, Revue passieren lässt, nicht ohne dabei immer wieder ins Surreale und Magisch-Realistische zu fliehen. Ihm geht es "um die Magie des Alltags. ... Vielleicht gibt es an einem Tag nur zwei, drei Sätze, die herausstechen. Vielleicht, weil am Nachmittag Alexander Kluge angerufen hat und einen entwaffnend einfach wirkenden Satz gesagt hat: 'Es geschieht so ungeheuer vieles zur gleichen Zeit.'" Und "wenn man viele solcher Sätze aufeinander folgen lässt, weil sie es sind, die vom Tag übrig bleiben, kann natürlich der Eindruck entstehen, als sei der Alltag immer interessant. Das ist er aber tatsächlich - wenn man nur richtig fokussiert. Mir geht es um diese Verdichtung von Zeit, was passiert, wenn man die wenigen aber regelmäßig wiederkehrenden Momente der Erkenntnis aneinanderreiht."

Weitere Artikel: Auch Joseph Hanimann staunt in der SZ über den sensationellen Fund in Frankreich, bei dem tausende Manuskriptseiten von Céline aufgetaucht sind (unser Resümee). Hamed Taheri und Michael Schwarz erinnern in der FAZ daran, dass ein Frankfurter Suhrkamp-Abend mit Samuel Beckett, Theodor Adorno und Karl Korn 1961 ein geselliges Beisammensein im kleinen Kreis zur Folge hatte. Ganz "hinreißend" findet SZ-Kritikerin Johanna Adorján die Nebenfigur Lucianne in Goethes "Wahlverwandtschaften". Die FAZ dokumentiert Christoph Ransmayrs Dankesrede zur Auszeichnung mit dem Ludwig-Börne-Preis.

Besprochen werden unter anderem Marion Löhndorfs Essay "Geschüttelt, aber ungerührt. Was England anders macht" (taz), eine auf handliches Format eingedampfte Ausgabe von Arno Schmidts Ziegelsteinklassiker "Zettel's Traum" (Tagesspiegel), Quentin Tarantinos Romandebüt nach seinem letzten Film "Once Upon a Time in Hollywood" (Filmdienst), Matthias Nawrats "Reise nach Maine" (ZeitOnline), Maki Shimizus Berlin-Comic "Über Leben" (Tagesspiegel), Paul Nizons "Der Nagel im Kopf. Journal 2011-2020" (Tages-Anzeiger), Keith Gessens "Ein Schreckliches Land" (Tagesspiegel), neue Manga von Taiyo Matsumoto (NZZ), Jean-Philippe Toussaints "Die Gefühle" (NZZ), neue Comics für Kinder (Zeit), Stephen Kings "Billy Summers" (Welt), Michael Lichtwarck-Aschoffs "Robert Kochs Affe" (SZ) sowie Bücher zur Geschichte der Romantik von Rüdiger Görner und Stefan Matuschek (FAZ).
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Kunst

Vor einem Jahr ließ der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Hagia Sophia wieder in eine Moschee umwidmen. In Hyperallergic schickt Hakan Topal nach einem Besuch des Monuments einen Stoßseufzer der Verzweiflung gen Himmel: "Nichts an den Neuerungen war schön. Der Raum hatte etwas Schmutziges. Billige Plastikteppiche bedeckten das schöne Mauerwerk und verbreiteten unangenehme Gerüche. Wunderschöne Fresken wurden mit Vorhängen verdeckt, die man eher in  Hafencafés vermutet hätte. Die Jungfrau Maria war doppelt verhüllt. Und die große Kuppel, die Mimar Sinan so intensiv erarbeitet hatte, wirkte nicht mehr majestätisch."

Besprochen werden die große Fotografinnen-Retrospektive "The New Women Behind the Camera" im New Yorker Metropolitan Museum (taz), Simon Starlings Bearbeitung von Adolph Menzels Gemälden in der Berliner Galerie neugerriemschneider (FR), der Parcours im  Skulpturenpark Schwante (taz) und ein Band des belgischen Fotograf Bart Heynen über schwule Väter (Monopol).
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Bühne

Besprochen werden die Produktionen beim Sommerfestival auf Kampnagel (SZ) Jossi Wielers Inszenierung von Hofmannsthals "Bergwerk zu Falun" bei den Salzburger Festspielen (die Judith von Sternburg in der FR im Gegensatz zu ihren begeisterten Kollegen gestern recht einfallslos findet).
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Stichwörter: Wieler, Jossi, Kampnagel

Design

Eine Schönheit: der Citroen DS im Moma


Sicherlich, alles, was mit der Verbrennung fossiler Energiestoffe zu tun hat, steht derzeit nicht hoch im Kurs, entschuldigt sich Christian Zaschke in der SZ. Absolut aufregend findet er die aktuelle Automobil-Ausstellung im New Yorker MoMA aber eben doch: Zwar sind Autos "in der großen Mehrzahl ausgesprochen hässliche Gebilde. Aber dann steht man im Skulpturengarten des MoMA, einem der angenehmsten Orte Manhattans im Übrigen, und blickt auf einen Citroën DS 23 Sedan von 1973, und wer sich davon nicht im Inneren bewegen lässt, dem hat die Natur ein steinernes Herz in die Brust gepflanzt. ... Das Auto, wie wir es kennen, wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben. Dieses Wissen verleiht der Show eine melancholische Note."
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Stichwörter: Auto, Citroen Ds

Musik

Gerade einmal 25 Jahre alt ist der texanische Jazzmusiker James Francies und schon balgt man sich im Jazz um ihn, schreibt Andrian Kreye in der SZ. "So wuchtig ist auch sein Spiel, mit dem er schon auf dem Flügel und erst recht auf den Keyboards großformatige Klänge erzeugen kann, die an cineastische Panorama-Schwenks erinnern. Und die jeden Mitmusiker mitziehen in diese Weite. Es wirkt fast, als hätte Francies eine etwas andere Wahrnehmung seines Instruments als die meisten anderen. Linke und rechte Hand sind zwar auch bei ihm Harmoniegeber und Solist, aber sie scheinen an einem gemeinsamen großen Projekt zu arbeiten." Neben zahlreichen Gastauftritten auf den Platten anderer Musiker ist eben auch sein zweites Album "Purest Form" erschienen:



Der an den Ost-Berliner Seen und Buchten lebende und wirkende Sachse, Bodybuilder, Musiker und Lebenskünstler Rummelsnuff "hat das originellste Gesamt-Pop-Werk der letzten Jahrzehnte im deutschsprachigen Raum geschaffen", schwärmt Jörg Scheller in der NZZ. "Der selbsternannte 'Käpt'n' besingt mit seinem Partner Christian 'Maat' Asbach in einer verschrobenen Mischung aus Arbeiterlied, Elektropop und Kirmesmusik allerlei Unzeitgemässes: archaische Ausbildungsberufe, Kraftsportarten, rustikale Traditionen, Orte und Nahrungsmittel ('Eiorschägge')." Das gilt auch für das neue, weiterhin mit obsoleter Software produziertes Album "Äquatortaufe": "Die herrlich exzentrischen, der hohen Kunst der Albernheit nicht abholden Lieder handeln von Müllabfuhr, Sauerkraut, Weltraumreisen, Einhörnern, Vätern, Ferien. ... In 'Berlinverbot' nimmt er auf ungewohnt unmissverständliche Weise die Gentrifizierung der Hauptstadt aufs Korn - wo eben noch DDR-Bosse herrschten, seien es nun Kapitalbosse." Wir hören ins Titellied:



Besprochen werden ein von Andris Nelsons dirigiertes Mahler-Konzert bei den Salzburger Festspielen (SZ), Prince' posthum veröffentlichtes Album "Welcome 2 America" (Welt), ein Abend mit Hugo Ticciati, Luciana Mancini und dem O/Modernt New Generation Orchestra bei Young Euro Classic (Tagesspiegel), Lucy Dacus' neues Album "Home Video" (FR) und Jana Rushs "Painful Enlightenment" (Pitchfork).
Archiv: Musik