Efeu - Die Kulturrundschau

In ihrer gewaltsam paranoiden Suggestion

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21.08.2021. Domus staunt über die Bilder des Fotografen Richard Mosse, deren Ästhetik genau durch die Techniken entsteht, die der dokumentierten Vernichtung dienen. Im Interview mit Van zeigt sich der aus Lagos stammende Künstler Emeka Ogboh überrascht von der Stille in Berlin. Artechock versucht die Katastrophe in Afghanistan mit John Hustons Film "Der Mann, der König sein wollte" dialektisch zu reflektieren. Im Interview mit der Literarischen Welt erklärt der afroamerikanische Schriftsteller Colson Whitehead allen Lesern seines neuen Romans, warum er darin das Wort verwendet, das nicht verwendet werden darf.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.08.2021 finden Sie hier

Kunst

Richard Mosse, Platon, eastern Democratic Republic of Congo, 2012, Infra, Collection Jack Shainman


Sollen Fotos in erster Linie die Realität abbilden oder "schön" sein? Eine Frage, die die Fotografie seit ihre Anfängen begleitet. Bei Richard Mosse stellt sie sich überraschenderweise nicht, staunt Raffaele Vertaldi (Domus), obwohl seine Bilder zumeist Kriegsszenarien und Katastrophen abbilden. Die Fondazione Mast in Bologna hat dem 1980 geborenen irischen Fotografen jetzt eine Retrospektive ausgerichtet. An den 77 großformatigen Fotos kann man gut studieren wie Mosse vorgeht: Für die Serie "Infra" zum Beispiel hat er "eine militärische Ortungstechnik übernommen, die das Infrarotfeld nutzt, das für das bloße Auge unsichtbar ist, aber durch die visuelle Aufzeichnung von Wärme die Anwesenheit von Menschen erkennen lässt." Die Serie erzählt von der "Demokratischen Republik Kongo, die jahrzehntelang von blutigen Konflikten heimgesucht wurde ... Sie führt die theoretische Dichotomie zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir auf einer tieferen Ebene fühlen, mit subtiler Entschlossenheit zu einer anderen und wichtigeren Offenbarung: Die Schönheit der Werke liegt gerade in ihrem Spannungszustand, in ihrer gewaltsam paranoiden Suggestion, in der die Instrumente der Lokalisierung und letztlich der Kontrolle genau die sind, die den 'Stil' ermöglichen, der uns so fasziniert. So wird der Schwindel, der sich einstellt bei der Wahrnehmung des Kontrasts zwischen der Üppigkeit der Natur und der Dramatik der Ereignisse, die sie verbirgt, durch das beunruhigende Gefühl verstärkt, diese Erfahrung genau mit Hilfe der Instrumente machen zu können, die in anderen Händen Verfolgung und Vernichtung bringen." Mehr über Richard Mosse im Fotolot des Perlentauchers.

Weiteres: Die Ausstellungen in der Neuen Nationalgalerie besuchen weiter Ronald Berg für die taz, Elke Buhr für monopol, Ingeborg Ruthe für die FR, Peter Richter für die SZ und Swantje Karich für die Welt. Die Zeit hat Tobias Timms Bericht online nachgereicht. In der taz empfiehlt Tom Mustroph das Berliner Galerienfestival "Sunday Open", das "Mies in Mind" hat. Christoph Koopmann berichtet in der SZ von den Schäden, die das Hochwasser in Ahrweiler bei vielen Kunstwerken angerichtet hat. Andreas Platthaus besucht für die FAZ die rekonstruierte Gewehrgalerie im Dresdner Residenzschloss. Zum Tod des amerikanischen Malers Chuck Close schreiben Catrin Lorch in der SZ, Oliver Basciano im Guardian und Alexandra Wach in der FAZ.
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Musik

Im stillgelegten Berliner Flughafen Tegel wird gerade noch (und übrigens ohne Termin) geimpft, aber auch Klangkunst kommt hier mit dem Festival "Sonambiente" unter: Blixa Bargeld, Emeka Ogboh und Susan Philipsz beschallen bis Anfang September die gespenstisch leeren Terminals und Gates, berichtet Gunda Bartels im Tagesspiegel. Mit dem aus Lagos stammenden Künstler Emeka Ogboh hat VAN gesprochen. Im Vergleich zum klanglich völlig anarchischen Lagos ist Berlin so leise, dass er hier kaum Schlaf findet, merkt er an. Noch ruhiger war der stillgelegte Flughafen: "Er kam einer Geisterstadt gleich. Die Flughafenansagen, das Gemurmel und Geschnatter der Besucher:innen fehlten. … Als ich mich durch die Räume bewegte, fing mein Gehirn an, die Klänge wieder aufleben zu lassen. … Ich werde in der Komposition mit Themen der Erinnerung, der Ortszeit und Nostalgie arbeiten. Es handelt es sich um eine elektroakustische Komposition, die elektronische Musik mit Field Recordings und aufgenommenen Ansagen kombiniert." Dlf Kultur hat mit Blixa Bargeld über dessen Komposition gesprochen. Auszüge aus den drei in Tegel installierten Arbeiten kann man dort ebenfalls nachhören.

Weitere Artikel: Gabriela Herpell unterhält sich in der SZ mit Julien Temple, der mit "Shane" gerade einen Dokumentarfilm über den Pogues-Sänger Shane MacGowan ins Kino bringt, über die wilden Punkzeiten im London der späten 70er. Andreas Rauscher hat ein epd-Porträt über den auf Musikfilme und -videos spezialisierten Filmemacher geschrieben. Thomas Abeltshauser spricht in der taz mit der Singer-Songwriterin Martha Wainwright über deren neues Album. Andreas Hartmann plaudert für die taz mit Wolfgang Schrödl, der sich von den Tantiemen seines 90s-One-Hit-Wonders "Narcotic" (Ohrwurm? Bitte gern!) seine avancierteren Musikprojekte finanziert. Daniel Bax berichtet im Freitag vom Middle-East-Union-Festival in Berlin.

Besprochen werden das neue Album "Solar Power" von Lorde (SZ, Standard), ein neues Album des Duos Ida Mae (FR) und Kas Rapalbum "A Martyr's Reward", das Pitchfork-Kritiker Mano Sundaresan begeistert feiert. Wir hören rein:

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Bühne

In der NZZ erklärt Udo Bermbach, warum Rudolf Steiner sich so für Wagner begeisterte. Peter von Becker unterhält sich für den Tagesspiegel mit Paulus Manker, der in der ehemaligen Siemens-Werkhalle in Berlin-Spandau das "Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus inszeniert hat.

Besprochen werden die Uraufführung von Florentina Holzingers "Divine Comedy" nach Dante als eine Art Martial-Arts-Fantasie bei der Ruhrtriennale in Duisburg (Standard, nachtkritik, SZ) und Alexander Moosbruggers intermediales Orgelwerk "Wind" bei den Bregenzer Festspielen (nmz)
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Architektur

Sieht die Bank vor lauter Bäumen nicht. Foto: Strohhut Pictures


In Leipzig zog im Juli die staatliche Sächsische Aufbaubank in ihr neues Quartier um, für das das Büro Acme verantwortlich zeichnet. Es ist von einem "Wald aus Stützen" durchzogen und orientiert sich an japanischen Architekten wie Toyo Ito und Junya Ishigami, meint Ulf Meyer in der FAZ. "Auch in Leipzig hat die Vielzahl von Stützen eine raumbildende Aufgabe, hier allerdings für einen städtischen Außenraum, dessen großer Bruder eher die Alhambra in Granada ist. Der Stützenwald der Leipziger Bank trägt nicht nur das teils mit runden Oberlichtern perforierte Dach, er schirmt auch dezent den Neubau gegenüber der lauten Gerberstraße und dem stark befahrenen Innenstadtring hin ab, bildet die Traufkante des städtischen Blockrands ab und bietet als Brise-Soleil-Element Schatten für die gläsernen Bürofassaden. Die 251 Säulen sind 22 Meter hoch und bestehen aus Schleuderbeton. Sie sollen die stützende Funktion der Aufbaubank symbolisieren." Dass Banken jemanden stützen, wäre neu.

Außerdem: Robert Kaltenbrunner erzählt in der FR eine kurze Geschichte der Baubotanik.
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Stichwörter: Kaltenbrunner, Robert

Literatur

Colson Whiteheads neuer Roman "Harlem Shuffle" ist nach seinen thematisch eher schwereren vorangegangenen Büchern eine lupenreine Heist Novel, angesiedelt im Harlem der Sechziger. Dass es darin nicht zimperlich geht, versteht sich von selbst. Anders als in der US-Originalausgabe steht in der der deutschen Ausgabe daher ein entschuldigender Hinweis, dass auch das N-Wort hier ausgeschrieben wird. In diesen Dingen "holt Europa jetzt auch und durchlebt seine eigenen Konvulsionen", sagt Whitehead im Gespräch mit Literarischen Welt. "Mein deutscher Verlag kriegt Briefe, in denen sich Leute über das N-Wort beschweren, und das tut mit schrecklich leid. Ein Verleger hat so viele Sachen auf dem Schirm, dass er nicht auch noch Briefe aufmachen muss, in denen er von irgendwem gemaßregelt wird, der nicht begreift, dass ein historischer Roman die dazugehörige Sprache verwenden muss. ... Ich versuche, historisch akkurat zu sein. Denken Sie an den Sklavenjäger Ridgeway in 'Underground Railroad'. Der sagt doch nicht: Ich kriege diesen Afroamerikaner!"

Besprochen werden unter anderem Daniela Kriens "Der Brand" (taz), Bov Bjergs wiederaufgelegter Debütroman "Deadline" (FR), Maxim Billers "Der falsche Gruß" (Welt), Elke Schmitters "Inneres Wetter" (taz), Douglas Stuarts "Shuggie Bain" (SZ), Werner Herzogs Romandebüt "Das Dämmern der Welt (Welt) und Alem Grabovacs "Das achte Kind" (FAZ).
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Film

Saeed Jaffrey, Sean Connery und Michael Caine in John Hustons "Der Mann, der König sein wollte"


Die Katastrophe in Afghanistan lässt Artechock-Kritiker Rüdiger Suchsland die BluRay von John Hustons "Der Mann, der König sein wollte" in den Player legen, ein Abenteuerfilm alter Schule, "der nicht nur von den Träumen der Männer erzählt, sondern auch von den Hoffnungen und Projektionen des Westens". Damit "stößt er schmerzhaft hinein ins Herz unserer aktuellsten Gegenwart: Denn das Scheitern von Peachy und Dravot ist notwendig. Und mit ihnen scheitern wir alle. Huston erzählt mit Kipling, der sich zeitlebens als Inder und Fremdkörper im kleinen England fühlte, von der Überlegenheit der nichteuropäischen Kulturen. ... Man muss die Leinwand vermutlich nicht etwa 'dekolonisieren', sondern Kolonialismus dialektisch reflektieren, wie Huston es tut, damit Filme ihr Erkenntnispotential entfalten."

Weitere Artikel: Birgit Roschy porträtiert in epdFilm die Schauspielerin Emmanuelle Devos. In der NZZ wirft Urs Bühler einen Blick auf die Hintergrunde der Trennung im Unguten zwischen dem Filmfestival Solothurn und ihrer Direktorin Anita Hugi nach nur zwei Jahren. Im Standard plaudert Stefanie Sargnagel über den Porträtfilm über sie, der jetzt in Österreich angelaufen ist. Marguerite Seidel wirft für den Filmdienst einen Blick auf die filmische Darstellung sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Jens Hinrichsen beschäftigt sich im Filmdienst mit Marianne Koch, Douglas Sirk und deren gemeinsamen Film "Interlude". Heike Hupertz gratuliert in der FAZ der Schauspieler Hannelore Hoger zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Mohammad Rasoulofs "Doch das Böse gibt es nicht" (Artechock, Jungle World, Filmdienst, Perlentaucher, mehr dazu hier), Viktor Kossakovskys Essayfilm "Gunda" über eine Sau und ihre Ferkel (SZ, Filmdienst, Artechock, mehr dazu bereits hier), Małgorzata Szumowskas "Der Masseur" (Artechock, Filmdienst, FAZ, SZ), Emerald Fennells feministischer Rape-Revenge-Film "Promising Young Woman" (Standard, Artechock unsere Kritik hier) und die Serie "Nine Perfect Strangers" mit Nicole Kidman als Wellness-Guru (FAZ, ZeitOnline).
Archiv: Film