Efeu - Die Kulturrundschau

Zwischen shampoonierten Podencos

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24.08.2021. In der FR pocht Colson Whitehead auf die Freiheit des Schriftstellers zur kulturellen Aneignung: Man darf es nur nicht verbocken. Die FAZ zieht den Hut vor Gerhard Steidl, dem Göttingen das neue Kunsthaus zu verdanken hat. Der Obsver feiert die subtile Kunst des Iraners Abbas Akhavan, der den Tempel von Palmyra neu erblühen lässt. Die taz huldigt Kurt Mühlenhaupt, dem Erfinder Kruezbergs. Und die SZ tanzt mit Marcia Moretto.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.08.2021 finden Sie hier

Kunst

Abbas Akhavan: curtain call, variations on a folly (2021). Ausstellungsansicht Chisenhale Gallery. Foto: Andy Keate

Völlig verzaubert kommt Observer-Kritikerin Laura Cummings aus einer Ausstellung des in Montreal lebenden Künstlers Abbas Akhavan, der in der Londoner Chisenhale Gallery den vom IS zerstörten Tempel von Palmyra wiederauferstehen lässt: "Das ist die zweifache Überraschung bei der Ankunft: Was man sieht, ist völlig archäologisch - eine griechisch-römische Kolonnade - und gleichzeitig ganz und gar botanisch, ja sogar baumartig. Wie kann es beides auf einmal sein? Das ist die erste Frage. Jede Säule ist in der Tat eine Skulptur, die von Abbas Akhavan geschaffen wurde... Er ist ein äußerst subtiler Denker. Wer seine Delfina-Ausstellung im Jahr 2013 gesehen hat (seitdem hat er hier leider kaum noch ausgestellt), erinnert sich vielleicht an die Art und Weise, wie er das Draußen nach innen holte und die Natur in ein Stadthaus eindringen ließ, mit hohen Hecken, undichten Wasserfällen und wuchernden Böden. In seiner ruhigen Art denkt Akhavan stets über unseren Platz auf der Erde nach, die wir inmitten alter Gebäude, oft Ruinen, leben, und über die seltsamen Beziehungen zwischen Mensch, Archäologie und Natur."

Sehr dankbar ist taz-Kolumnist Jan Joswig für die Ausstellung "Die Erfindung Kreuzbergs" im Kunstquartier Bethanien, die den Malerpoeten Kurt Mühlenhaupt und die Bohme der sechziger und siebziger Jahre wieder ins Bewusstsein ruft: "Es gibt eine Zeit, dumme Witze zu reißen, und eine Zeit, fromme Sprüche zu klopfen. Anfang des 20. Jahrhunderts und Ende der 60er-Jahre hatte man Sinn für dumme Witze. Auch die Punks der 70er setzten auf diesen Weg zum Erkenntnisgewinn. Die Ökos der 80er hingegen pilgerten auf dem Pfad der frommen Sprüche. In unserer frommen Achtsamkeits-Epoche wirken Paul Scheerbart, Kurt Mühlenhaupt und Jörg Schröder wie barocke Außerirdische, die sich zu sehr gehenlassen, wie Promenadenmischungen zwischen shampoonierten Podencos."

Weiteres: Daghild Bartels wandelt für die NZZ durch die wiedereröffnete Nationalgalerie, moniert aber bei aller Pracht etliche Entscheidungen der Smmlungspräsentation. Andrian Kreye (SZ) blickt auf der Architekturbiennale in Venedig der KI ins Auge.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Raffaels Zeichnungen in der Hamburger Kunsthalle (Tsp), Damien Hirsts "Cherry Blossoms" in der Pariser Fondation Cartier (taz), die Aktionswoche der Klimaschutzgruppe "Extinction Rebellion" im Osloer Vigeland-Skulpturenpark (Monopol) und die Ausstellung "Multiboy" von Sung Tieu in der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig (SZ).
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Literatur

In der FR unterhält sich Sacha Verna mit dem amerikanischen Schriftsteller Colson Whitehead, der sich nach seinem Sklaverei-Roman "Underground Railroad" in dem etwas lockeren Thriller "Harlem Shuffle" austobt. Berührungängste hat er nicht: "Als Schriftsteller ist es mein Job, über verschiedene Ethnien, Geschlechter und Gesellschaftsschichten zu schreiben. Ich will die Welt in ihrer ganzen Vielfalt darstellen. Und wenn ich meine Sache gut mache, reklamiert auch niemand. Zu verlangen, dass Weiße nicht über Schwarze schreiben dürfen und umgekehrt, ist kompletter Blödsinn. Man darf es nur nicht verbocken. Und wenn man es verbockt, soll man darüber keinen Meinungsartikel in der New York Times schreiben, in dem man sich über politisch korrekte Henker beklagt, die einem an den Kragen wollen."

Besprochen werden Peter Stamms Roman "Das Archiv der Gefühle" (NZZ), Bae Suah "Weiße Nacht" (FR), Lukas Rietzschels Roman "Raumfahrer" (Tsp) und Michael Köhlmeiers Kater-Roman "Matou" (Standard), Pankaj Mishras Band "Freundliche Fanatiker" (SZ), Philippe Monniers Geschichte von "Venedig im achtzehnten Jahrhundert" (SZ), Alejandro Zambras Roman "Fast ein Vater" (SZ), die Autobiografie von Stefan Aust (FAZ), Goran Ferčecs Roman "Wunder wird es hier keine geben" (FAZ) und Michael Stolleis' regionale Rechtsgeschichte "recht erzählen" (FAZ).
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Architektur

Ganz in Cool Gray gehalten: Das neue Kunsthaus Göttingen von Leipziger Atelier ST


In der FAZ zieht Matthias Alexander den Hut vor dem neuen Kunsthaus Göttingen, das Verleger Gerhard Steidl im zweiten Anlauf von den jungen Architekturbüro Atelier ST aus Leipzig bauen ließ und das sich gut einpasst in die bunte Mischung aus Architekturstilen in der Umgebung: Entstanden ist ein "dreigeschossiger Bau mit steilem Satteldach, auch die Auskragungen nehmen die Typologie der Fachwerkhäuser in der Nachbarschaft auf. Als Fassadenmaterial waren ursprünglich Mauerwerksziegel vorgesehen, die in der Umgebung ebenfalls häufiger vorkommen; aus Kostengründen entschied man sich später jedoch für einen Putz, der mit einer Schablone horizontal aufgekämmt wurde. Wer will, kann in den so entstandenen ungleichmäßigen Rillen eine Anspielung auf die Papierstapel sehen, mit denen Ideengeber Steidl in den im Blockinneren gelegenen Räumen seiner Druckerei täglich zu tun hat."

Außerdem: Joachim Sartorius besucht für die FAZ auf Sizilien den Dom von Syrakus, der einen einen griechischen Tempel umhüllt.
Archiv: Architektur
Stichwörter: Sizilien

Bühne

Besprochen werden Sebastian Nüblings Adaption von Saša Stanišićs Roman "Herkunft" am Thalia Theater Hamburg in der Gaußstraße (Nachtkritik), Michael Sturmingers "Tosca"-Inszenierung in Salzburg (die Stefan Ender im Standard zufolge trotz "der wundervollen Anna Netrebko" ihre Längen hatten), Kyle Abrahams Choreografie "Requiem: Fire in the Air of the Earth" auf Kampnagel Hamburg (SZ) und Tschaikowskis "Schwanensee" in der Fankfurter Naxoshalle mit dem "bestens aufgelegten" Theater Willy Praml (wie Sylvia Staude in der FR versichert).
Archiv: Bühne

Film

Besprochen werden Michel Francos mexikanischer Thriller "Nuevo Orden" (NZZ) und Julien Temples Film "Shane" über den Pogues-Sänger Shane MacGowan (Welt).
Archiv: Film
Stichwörter: Macgowan, Shane, Pogues

Musik

Foto: Bone Music


Ein ganz eigenes Beispiel russischer Kulturgeschichte kann man derzeit in der Ausstellung "Bone Music - Die Ausstellung zum X-Ray Audio Projekt" in der Berliner Villa Heike bewundern: Verfemte Jazzplatten, die im Samisdat auf Röntgenfolie gepresst und verteilt wurden, erzählt Kevin Hanschke in der FAZ. "Das Produktionsverfahren für eine solche einseitige Schallplatte war aufwendig, zumal nur ein dreiminütiger Song auf einen Film passte. Die selbstgebaute Aufnahmedrehbank wurde an eine Tonquelle angeschlossen, ein Saphirstein schrieb die Musiktöne auf die Röntgenfolie, sodass sie auf einem Plattenspieler mit 78 Umdrehungen abgespielt werden konnte. Die Tonqualität war schlecht, der Tonträger verschliss schnell. Doch heute wirken die Platten, die der 'Samisdat-Bewegung', den russischen Selbstverlegern, ein weiteres historisches Kapitel hinzufügen, wie kleine Kunstwerke."

Weitere Artikel: Im Van Magazin hofft ein anonymer Musiker, dass die Taliban nicht wieder wie unter ihrer Herrschaft in den neunziger Jahren die Musik verbieten werden. Im Tagesspiegel berichtet Hannes Soltau vom Festival We Go Apart With Art in Sachsen. Johanna Adorjan erinnert in der SZ an die vor 40 Jahren verstorbene argentinische Tänzerin Marcia Moretto, der Les Rita Mitsouko in den achtziger Jahren das wunderbare Stück "Marcia Baïla" widmeten:



Besprochen werden eine konzertante Aufführung von Hector Berlioz' "La Damnation de Faust" mit der Mezzosopranistin Elīna Garanča in Salzburg (SZ) und alle neun Symphonien von Beethoven, die fünf Orchester zur Eröffnung des Beethovenfests in Bonn spielten (FAZ).
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