Efeu - Die Kulturrundschau

Seine Lieder sind Fahnen

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03.09.2021. Die Welt staunt in Venedig, mit welcher Wucht Jane Campion in ihrem Film "The Power of Dog" das Feld toxischer Männlichkeit beackert. Die SZ will auch in der Kunsthalle Rotterdam keine niedlichen Tiere mehr sehen, solange die als Fischstäbchen auf unserem Teller landen. Monopol fragt sich, warum die sonst so kritische Kunstwelt Kanye West zu Füßen liegt. Und: Die Musikkritiker trauern um den großen Komponisten und Widerstandskämpfer Mikis Theodorakis.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.09.2021 finden Sie hier

Musik

Mitis Theodorakis, 1971 (Bild: Heinrich Klaffs, CC BY-SA 2.0)

Große Trauer um Mikis Theodorakis: In Griechenland galt der Komponist und Politiker als Volksheld - er war "der Lead-Sänger eines freien Griechenlands", schreibt Gerhard R. Koch in der FAZ - und mit seinem Sirtaki für den Film "Alexis Sorbas" gab er den Menschen Europas eine Sehnsuchtsmelodie. Die Faschisten des Zweiten Weltkriegs und der Militärdikatur folterten ihn, sein widerständiger Geist blieb ungebrochen.

Sein Werk ist weit und reichhaltig, schreiben Christiane Schlötzer und Reinhard J. Brembeck in der SZ: Er "komponierte Oratorien und Opern, aber in die Herzen seiner Fans schrieb er sich mit seinen Liedern ein, lyrischen Kompositionen, die Generationen von Griechen die Gedichte ihrer großen Poeten Seferis, Elytis und Ritsos so nahebrachten, dass ihre Verse bis heute zum Alltagskanon gehören. Auch wer den griechischen Literaturnobelpreisträger Odysseas Elytis nie gelesen hat, kann in Griechenland seine Verse singen, weil Theodorakis sie vertont hat." Er "verknüpfte die eher urban geprägte Tradition des Rembetiko mit der ländlich demotischen Musik", schreibt Harry Nutt in der Berliner Zeitung. "Sein größtes musikalisches Verdienst war zweifellos die Aufwertung der bis dahin als Subkultur verschmähten städtischen Volksmusik", schreibt dazu Agni Rassidakis in der NZZ. Abseits vom längs Folklore gewordenen Sirtaki zählt Theodorakis' Soundtrack zu Costa-Gavras' "Z" zu seinen bekanntesten Werken:



Seinen Heldenstatus in Griechenland hat er sich "in einem langen Leben errungen, in dem die Freiheit immer wieder auf dem Spiel stand und die Kunst nie nur sich selbst genügte, sondern an der Seite derer war, die Widerstand leisten", schwärmt Ulrich Amling im Tagesspiegel: "Seine Lieder sind Fahnen, die man zwar verbieten, aber niemals aus dem Gedächtnis löschen kann." Bis ins hohe Alter und noch im Rollstuhl nahm der 96-jährig Verstorbene an Demonstrationen teil und intervenierte in der Öffentlichkeit, staunt Hannah Schmidt auf ZeitOnline, nicht ohne dabei auch einen Blick auf Theodorakis' politische Fehltritte zu werfen.

Aber er blieb auch "bewundernswert stur ein Volksmusiker, der einen selbstständigen Weg gegangen ist", schreibt Gernot Wolfram in der taz: Theodorakis' "Tod erinnert daran, dass der Schmerz politischer Erfahrungen, eine seiner Lieblingsformulierungen, nicht allein rational aufgelöst werden darf. Seine zutiefst poetische Antwort auf den Ungeist jedweder Diktaturen wird sicher eines der bleibenden Vermächtnisse dieses Jahrhundertlebens sein. ... Etwas, was sich Bertolt Brecht zeitlebens gewünscht hatte, nämlich, dass sein Werk vom 'Volk' aufgenommen werde, jenseits von billigem Pathos, erfüllte sich in seinem Schaffen." Weitere Nachrufe schreiben Manuel Brug (Welt), Bernhard Uske (FR) und Christian Schachinger (Standard). Dlf Kultur hat ein Feature aus dem Jahr 2015 wieder zum Nachhören online gestellt.

Jan Brachmann schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Geiger Igor Oistrach. Und spricht das Bachsche Doppelkonzert an, das er mit seinem Vater David einspielte und "das in beider Interpretation für viele Hörer bis heute den Inbegriff kosmischer Schönheit verkörpert".




Kẹ́mi Fátọba gratuliert in der taz Beyoncé zum 40. Geburtstag, den die Popmusikerin morgen feiert. Und: Abba sind nach 40 Jahren zurück, staunen Edo Reents (FAZ) und Ueli Bernays (NZZ).



Besprochen werden Little Simz' neues Album "Sometimes I Might Be Introvert" (taz, Freitag, ZeitOnline), Kanye Wests neues Album "Donda" (NZZ, mehr dazu hier), Alessandra Barabaschis Biografie über Stradivari (NMZ), Philipp Reichenheims Dokumentarfilm "Freakscene" über die Band Dinosaur jr (Jungle World), Kit Armstrongs Auftritt beim Lucerne Festival (NZZ), der Saisonauftakt des NDR Elbphilharmonie Orchesters unter Alan Gilbert (Welt), Daniel Hopes Konzert beim Rheingau Musik Festival (FR) und eine Arte-Doku über den Anschlag aufs Bataclan (SZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Jan Wiele über Lhasa de Selas "De Cara a la Pared":

Archiv: Musik

Bühne

Katrin Ullmann unterhält sich für die taz mit Serkan Salihoglu und Sidar Kurt über deren Stück "Citizenpark", das heute am Hamburger Lichthof-Theater Premiere hat. Christine Dössel berichtet in der SZ über Theateraufführungen von Chilly Gonzalez, Nuran David Calis, Thomas Köck, Judith Rosmair, Ali Chahrour und dem Geraer Künstlerduo Kurt Grünlich beim Kunstfest Weimar. Patrick Wildermann stellt im Tagesspiegel drei Stücke vor von Chris Michalski, Sarah Kilter und Amanda Lasker-Berlin, die für den Stückewettbewerb der Autor:innentheatertagen am Deutschen Theater ausgewählt worden sind.

Besprochen wird Cordelia Weges "Amok" nach Stefan Zweig am Berliner Ensemble (Welt, nachtkritik).
Archiv: Bühne

Film

Verletzliche Männlichkeit auf dem Prüfstand: Benedict Cumberbatch in Jane Campions "Power of the Dog"

Jane Campions "The Power of Dog" - ihr erster Spielfilm seit zwölf Jahren und dann auch noch von Netflix produziert - begeistert die Kritiker beim Filmfest Venedig. Der mit Kirsten Dunst, Benedict Cumberbatch und Jesse Plemons hochkarätig besetzte Western stellt eine Verfilmung eines erst vor wenigen Jahren wiederentdeckten Romans von Thomas Savage dar und handelt von zwei Ranchbetreibern, die eine Witwe ins Verderben treiben. Damit wirft er sich "mit voller Wucht auf das Feld toxischer Männlichkeit", schreibt Hanns-Georg Rodek in der Welt. "In 'The Power of the Dog' sind Gesellschaftsmodelle noch ungefestigt und die Rollenmuster nur auf den ersten Blick bereits voll herausgebildet", erklärt Dominik Kamalzadeh im Standard: "Mit ihrem besonderen Sinn für haptische Bilder (kunstvoll phrasiert von der beunruhigenden Musik Jonny Greenwoods) konfrontiert Campion Zivilisation und Wildnis, Verletzlichkeit und Gewalt." Tim Caspar Boehme beobachtet in der taz, dass "Campion die Utensilien von Cowboys mit scharfem Blick auf ihren Fetischcharakter hin prüft. Glatte Ledersättel wollen eben gestreichelt werden."

Für Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche ist Campion eine Pionierin, die den jüngsten Erfolgen von Filmemacherinnen wie Chloé Zhao und Julia Ducournau den Weg bereitet hat. Die Standing Ovations für diesen Film hat sie sich mehr als verdient, jubelt er: "Das Westerndrama, angesiedelt im Montana der zwanziger Jahre, gefilmt in Neuseeland, gehört zu der Sorte Kino, wie sie sich die großen Filmstudios heute kaum noch leisten: Gleichzeitig weitläufig und intim, mit einer sagenhaften Geduld für die komplizierten Gefühle ihrer Charaktere und reich an Zwischentönen. Netflix habe ihr zugesichert, erzählt Campion auf der Pressekonferenz, dass der Film in die Kinos kommen würde. Bisher - bei 'Roma', 'The Irishman', 'Mank' - waren solche Versprechen eher Alibi-Zugeständnisse. Aber ein Film wie 'The Power of the Dog' wird durch alle Streaming-Algorithmen fallen, weil es auf der Plattform nur wenig Vergleichbares gibt."

Besprochen werden Azazel Jacobs' "French Exit" mit Michelle Pfeiffer (Perlentaucher, Tagesspiegel),  Sofie Benoots, Liesbeth De Ceulaers und Isabelle Tollenaeres "Victoria" (Perlentaucher), Detlev Bucks "Felix Krull"-Verfilmung (Artechock, online nachgereicht von der Welt), Manuel Fenns "Die Welt jenseits der Stille" (Artechock), Sonia Liza Kentermans "Die Hochzeitsschneider von Athen" (SZ) und die Amazon-Serie "Nine Perfect Strangers" mit Nicole Kidman (NZZ).
Archiv: Film

Literatur

Nacht und Tag spricht mit der Schriftstellerin Katrin Seddig, die in Hamburg mit dem Hubert-Fichte-Preis ausgezeichnet wurde. In der Dante-Reihe der FAZ wirft Petra Bahr einen Blick auf Dantes Zusammenbruch am Ende der "Commedia". Außerdem präsentiert die Jury von Dlf Kultur die besten Krims des Monats - auf der Spitzenposition diesmal: Garry Dishers "Barrier Highway".

Besprochen werden unter anderem Emily St. John Mandels "Das Glashaus" (Welt), Elias Hirschls "Salonfähig", eine Satire auf Sebastian Kurz und seine Fans (ZeitOnline), Flavio Steimanns "Krumholz" (Tell), Christoffer Carlssons Krimi "Unter dem Sturm" (FR), Daniela Kriens "Der Brand" (SZ) und Robert Macfarlanes "Berge im Kopf" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Paola Pivi, Gevederde ijsberen. Kunsthal Rotterdam 2021. Foto: Marco De Swart


Tiere, wenn sie überleben wollen, müssen niedlich sein. Das gilt auch für Kunstausstellungen über Tiere, meint in der SZ Till Briegleb mit Blick auf die Ausstellung "We are animals" in der Kunsthalle Rotterdam, die ihm längst nicht vegan-radikal genug ist: "Denn will die ganze Familie in den Sälen des großen Ausstellungshauses Schlachthofbilder, Kükenschreddern, japanische Delfinmassaker oder Insektensterben ansehen, provozierend adaptiert für schockierende Kunstwerke? Lieber nicht. Man will ja seinen kleinen Kindern beim Museumsbesuch auch nicht bewusst machen, dass das Fischstäbchen mal Augen hatte und für das Chicken-Curry federlose Vögel voller Hautgeschwüre abgemurkst wurden. Und als Erwachsener vermiest einem das auch nur das Kulturerlebnis. Deswegen ist diese prominent bestückte Überblicksschau zum Tier in der Kunst, die 2020 für das Arken Museum in Dänemark konzipiert wurde und jetzt in Rotterdam zu sehen ist, nur schriftlich ehrlich."

Saskia Trebing beobachtete für monopol den Wirbel um Kanye Wests Berlin-Trip, der ihn auch durch die Kunstgalerien der Stadt führte, und wundert sich: Sogar die Kunst-Werke machten Werbung mit einem Kanye West im KW-Hoody. Bisschen merkwürdig "für eine Institution, die sich so offensiv politisch und progressiv positioniert wie die KW", findet Trebing. "Der Rapper hat sich wiederholt als Trump-Unterstützer positioniert und trat bei einem Listening-Event für sein Album 'Donda' kürzlich mit Marilyn Manson und Da Baby auf, denen respektive sexueller Missbrauch und homophobe Äußerungen vorgeworfen werden (DaBaby hat sich inzwischen für seine Aussagen entschuldigt). ... Museen sind keine heiligen Hallen, in die das Außen nicht eindringen darf, und natürlich dürfen Promis Kunst anschauen, soviel sie wollen. Aber wer explizit politische Positionen zeigt und sich dem Schutz von Minderheiten verpflichtet fühlt, sollte abwägen, ob ein so öffentliches Abfeiern von Kanye West wirklich irgendjemandem außer ihm selbst nützt. Sonst wirken die inklusiven Grundsätze irgendwann wie eine Maske."

Weitere Artikel: Katharina Rustler berichtet über die Vienna Contemporary, die gestern gestartet ist. Christian Schröder betrachtet für den Tagesspiegel in der Dresdner Gemäldegalerie Vermeers "Brieflesendes Mädchen", das nach der Renovierung plötzlich einen Amor im Hintergrund zeigt. James Imam erzählt im Guardian von einem Street-Art-Projekt für junge Migranten in Italien.
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