Efeu - Die Kulturrundschau

Existenz ist ja sowieso grotesk

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24.09.2021. Die SZ fühlt im Frankfurter MMK die Wut nach, die die gehörlose Künstlerin Christine Sun Kim packt, wenn sie ihr Honorar mit der Gebärdensprachdolmetscherin teilen soll. Die Rieckhallen bleiben Berlin erhalten, aber wie teuer das wird, weiß man noch nicht, schreibt die Welt. Im SZ-Magazin will Peter Handke auf keinen Fall auf urwüchsige Sprache verzichten. Die nachtkritik stellt in einem Theaterbrief aus Mexiko die mexikanischen Suffragetten vor, die mit Kunst gegen patriarchale Gewalt auf die Straße gehen. Herzog & de Meuron können auch dezent, stellt die FAZ beim Besuch im Duisburger Museum Küppersmühle fest.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.09.2021 finden Sie hier

Kunst

Bild: Michelle Miles, hand model, 2018, Filmstill

Nicht nur "gut gemeint", sondern vor allem "extrem gut gemacht" findet eine tief berührte Sandra Dannicke in der FR die Ausstellung "Crip-Time" (zu deutsch: "Krüppelzeit") im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, die sich mit der Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung befasst: "Es gibt eine ganze Reihe persönlicher Schicksale, die in dieser Ausstellung thematisiert werden, von Gerhard Richters 'Tante Marianne', die von den Nazis als 'Geisteskranke' ermordet wurde, über Nan Goldins Schwester Barbara, die mit 14 Jahren wegen aufmüpfigen Verhaltens in eine Besserungsanstalt eingewiesen wurde und mit 19 Selbstmord beging, bis hin zur gehörlosen Christine Sun Kim, die in einer Reihe von Diagrammen den 'Degree of Deaf Rage' thematisiert, die in Alltagssituationen aufsteigende Wut angesichts politischer Entscheidungen, darüber, dass man von Hörenden oft ignoriert wird oder über Kuratoren, die denken, dass es fair sei, wenn die Künstlerin ihr Honorar mit der Gebärdensprachdolmetscherin teilt."

Die vom Abriss bedrohten Rieckhallen bleiben Berlin erhalten, der Regierende Bürgermeister, der Kultursenator und Andreas Quint als Vorstandssprecher der CA Immo AG, die 2007 die einstigen Lagerhallen der Bahn erwarb, haben sich geeinigt, meldet der Tagesspiegel: "Die drei Verhandler haben am Donnerstag zusammen mit dem Stadtentwicklungs- und dem Finanzsenator eine Vereinbarung unterschrieben, nach der der zwischen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der CA Immo bestehende Mietvertrag um ein Jahr verlängert wird. In dieser Zeit sollen die vertragliche Ausgestaltung eines Grundstückstauschs, planungsrechtliche Festlegungen, Werteermittlungen und am Ende die Beteiligung des Parlaments erfolgen." In der Welt kommentiert Boris Pofalla: "Bleibt die Frage aber, was sie einem wert sind. Noch ist nicht bekannt, welches Grundstück Berlin hergeben wird, um seine Zukunft als Kunststadt zu sichern. Man hört, dass die CA Immo kein zimperlicher Geschäftspartner ist. Die Verhandlungsdauer allein lässt darauf schließen, dass es harte Verhandlungen waren, und der Berliner Senat wird sich fragen lassen müssen, ob es das Tauschobjekt am Ende wert ist."

In der SZ berichtet Kito Nedo von einer etwas anderen Art Basel, auf der es dann Zutritt mit einem "Bändeli" gibt, wenn man mit einem in der Schweiz zugelassenen Impfstoff geimpft wurde und auf der der größte Teil des "Art-Basel-Sammler-Publikums" aus Nordamerika, Asien und Russland fehlte.
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Bühne

Auch in Mexiko dürfen die Theater wieder öffnen, wenn auch nur mit einer Auslastung bis 30 Prozent, etwa 300 Veranstaltungsorte stehen vor dem Aus, schreibt Gaston Alzate, der in der nachtkritik in einem lesenswerten Theaterbrief aus Mexiko erzählt, wie die Regierung "von der prekären Situation der indigenen Bevölkerung, der Migrant:innen ohne Papiere, von den Femiziden und den bis August 2021 insgesamt 54.000 Corona-Toten abzulenken" versucht. Aber Mexikos Frauen zettelten einen "beispiellosen Aufstand" an, "der sich in verschiedenen theatralischen Formen gegen patriarchale Gewalt richtete. Diese politischen Darbietungen orientierten sich an den Strategien emanzipatorischer Frauenbewegungen, die sich gegen die Gesellschaftsordnung stellten, wie etwa die britischen Suffragetten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa, und erschütterten damit das Land. Junge mexikanische Frauen haben kreative und festliche Umzüge veranstaltet, künstlerische Performances und Zirkusnummern, sie haben ikonische Denkmäler bemalt, Schulgebäude besetzt und Fotos ausgestellt - von vermissten oder ermordeten Frauen oder von maskierten Frauen, die die mexikanische Flagge in Brand setzen unter dem Slogan 'ohne Vaterland, ohne Partei, ohne Ehemann'."

Außerdem: Der Dramaturg, Kurator und Theaterleiter Matthias Pees wird ab dem 1. September 2022 der neue Intendant der Berliner Festspiele und löst damit Thomas Oberender ab, meldet der Tagesspiegel. Die Zeit hat Peter Kümmels Besprechung Frank Castorfs Inszenierung von Peter Handkes "Zdeněk Adamec" online nachgereicht. In der FR kommentieren Ulrich Seidler und Judith von Sternburg: "Es scheint so, als wolle mit der Besetzung dieses nicht unwichtigen Postens, noch jemand bis zur letzten Sekunde seine Macht und seine Gestaltungmöglichkeiten auskosten." In der NZZ schreibt Philipp Meier den Nachruf auf die Schweizer Kulturmanagerin Anne Keller Dubach, die von der Zürcher Kunstgesellschaft gerade erst zur Nachfolgerin von Walter Kielholz gewählt worden war.

Besprochen werden ein Performance-Walk mit dem Titel "The War of the Worlds" nach H.G. Wells organisiert vom Ballhaus Ost (taz), Oliver Hoppmanns Revue "Arise" am Berliner Friedrichstadt-Palast (Tagesspiegel, SZ), das Stück "(Ob)Sessions" der israelischen Choreografin Saar Magel im Kasino des Wiener Burgtheaters (Standard), Susanne Kennedys "Drei Schwestern" nach Motiven Tschechow am Wiener Volkstheater (Standard).
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Literatur

Für das SZ-Magazin haben Malte Herwig und Sven Michaelsen ein geradezu überschwänglich ausladendes Gespräch mit Peter Handke geführt. Der ist weitgehend mürrisch wie immer, allerdings auch, weil bei ihm zuletzt gleich zweimal eingebrochen wurde - weggekommen ist nichts, aber in das legendäre Chaos, in dem der Schriftsteller lebt, wurde viel Unordnung gebracht. Auch um Fragen jüngerer Sprachkritik geht es. Wie er das Wort "negro" heute übersetzen würde, lautet eine Frage. "Das frage ich mich auch. Darf man 'Schwarzer' sagen? Ach, ist das langweilig, dieses Zeug. Sprache ist wichtig, aber nicht die Terminologie. Es gibt immer noch eine anfliegende und zugleich urwüchsige Sprache, und die ist das Gegenteil von all diesem Scheißdreck. Diese Sprache ist die einzige, die erzählt und zählt. Niemand soll mir irgendwas anderes nahelegen oder unter den Hintern schieben."

Außerdem: Tilman Spreckelsen schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Kinderbuchautor Ulf Nilsson. Besprochen werden unter anderem Werner Herzogs Roman "Das Dämmern der Welt" (Standard), Aleksandar Hemons "Meine Eltern. Alles nicht dein Eigen" (SZ) und Günther Rühles "Ein alter Mann wird älter" (FAZ).
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Film



Mit dem Underground-Klassiker "Sweet Sweetback's Baadasssss Song" schuf Melvin van Peebles ein Monument des Black Cinema (beworben mit der Taglin "Rated X by an all-white jury"). Dass diesem Erfolg das Blaxploitation-Kino folgte, sah er allerdings nicht gern. Jetzt ist der stets kompromisslose Regisseur im Alter von 89 Jahren gestorben. Sein aus eigenen Mitteln produzierter Film "war 1971, parallel zur Entwicklung des New Hollywood, eine Offenbarung", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel: "ein filmischer Free Jazz mit den Mitteln des Avantgardekinos. Van Peebles hatte im Jahr zuvor bereits für das Studio Columbia die handzahme Satire 'Watermelon Man' (über einen durchschnittlichen Angestellten, der eines Morgens als Schwarzer aufwacht) gedreht. Einen Film über einen Polizistenmörder wollte ihm dagegen niemand finanzieren - also zog er 'Sweetback' allein durch. Gewidmet war sein Film allen 'Brothers and Sisters who have had enough of the Man!' Zeitweise verdrängte er sogar die Schmonzette 'Love Story' von der Spitze der Kinocharts."

FAZ-Kritiker Claudius Seidl sah mit diesem Film die viele europäische Filmemacher umtreibende Frage, "ob man politische Filme machen oder Filme politisch inszenieren solle", ein für allemal beantwortet, indem van Peebles "zeigte, dass das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Schwarzes Kino, das waren bis dahin weiße Männer und Frauen in dunklen ästhetischen Zusammenhängen gewesen. Jetzt war Schwarzes Kino: wenn afroamerikanische Menschen sich dieser Kunst bemächtigen, ihre eigenen Rollen finden, sich in ihrem eigenen Rhythmus bewegen." Hier ein Interview mit van Peebles von 1971:



Weitere Artikel: Patrick Seyboth erzählt in epdFilm die lange Geschichte gescheiterter Verfilmungen von Frank Herberts Science-Fiction-Epos "Dune" (unsere Kritik hier). Katja Riemann plaudert im Nachtkritik-Gespräch über ihr Engagement gegen die Klimakrise. Urs Bühler berichtet in der NZZ vom Auftakt des Zürich Film Festivals. Janique Weder porträtiert in der NZZ die Synchronspercherin Flavia Vinzens. Lukas Foerster empfiehlt in der Presse die Folk-Horror-Retrospektive des Wiener Slash Filmfestivals. Anne Vorbringer erinnert in der Berliner Zeitung an die Schauspielerin Margaret Rutherford, die vor 60 Jahren erstmals als Miss Marple auftrat.

Besprochen werden Anders Thomas Jensens Tragikomödie "Helden der Wahrscheinlichkeit" mit Mads Mikkelsen (Perlentaucher, Artechock, taz), Philipp Stölzls Verfilmung der "Schachvolle" (Perlentaucher, Artechock, Standard, Presse, mehr dazu hier), Kiyoshi Kurosawas auf Mubi gezeigter Film "Wife of a Spy" (critic.de), Florian Dietrichs "Toubab" (Artechock), Lijo Jose Pellisserys "Der Zorn der Bestien" (Filmdienst), Louise Detlefsens Dokumentarfilm "Mitgefühl" (Filmdienst), Marcelo Piñeyros auf Netflix gezeigte, argentinische Politserie "El Reino" (critic.de) und die Apple-Serie "Foundation" nach dem gleichnamigen Science-Fiction-Epos von Isaac Asimow (taz).
Archiv: Film

Architektur

Herzog & de Meuron können auch "dezent", staunt Matthias Alexander, der für die FAZ die frisch eröffnete Erweiterung des Museums Küppersmühle in Duisburg besucht hat: "Der vierstöckige Erweiterungsbau, mit dem sich die Ausstellungsfläche um 2500 Quadratmeter annähernd verdoppelt, strahlt in Material, Volumen und Gestalt Ensemblegeist aus. Er ist seinerseits in drei unterschiedlich hohe Baukörper gegliedert und nahezu geschlossen in Klinker ausgeführt, unterbrochen wiederum nur von senkrechten, geschosshohen Fensterschlitzen. Die Klinker wurden in einem aufwendigen Verfahren mittig gebrochen, was für ein besonders lebendiges Fassadenbild sorgt, ähnlich wie im Schaudepot, das Herzog & de Meuron für Vitra in Weil am Rhein errichtet haben."
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Musik

Früher lieferten Die Ärzte so freche Lieder, dass die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien diese manchmal am liebsten ganz für sich alleine haben wollte. Von dieser einstigen Narrenfreiheit ist auf dem neuen Album "Dunkel" nicht mehr viel übrig, seufzt Joachim Hentschel in der SZ. Zu viel Moralin, meint er: Die Band hakt "fast die komplette Liste aktueller Reizthemen ab, von der Incel-Debatte bis zur Demokratiefeindlichkeit. Man kann es ihnen nicht sonderlich verdenken, dass sie dabei mehr denn je eine popkulturelle Lernzielsicherung betreiben, dass sie sich also so unmissverständlich wie möglich positionieren. Interessant ist es aber schon. Es kommt schließlich von einer Band, die sich lange Zeit gerade durch ihre völlige Respektlosigkeit definierte. Die sich an der Empörung ergötzte, die das Geschwisterlied auslöste, der Spottsong über einen übergewichtigen Fan oder eine Satire über Helmut Kohl, der angeblich seine Frau im Folterkeller prügle."

Im Song "Our Bass Player hates this Song" erklären Die Ärzte sogar, wie Demokratie funktioniert. Die FAZ hat nachgefragt, was es damit auf sich hat: "Erhobener Zeigefinger. Erklär-Gestus. Dass wir uns politisch links positionieren und für Gleichberechtigung plädieren, ist bekannt", sagt Schlagzeuger Bela B. "Aber dass wir jetzt oberlehrerhaft über Demokratie dozieren - das ist exakt das, wogegen wir immer gestanden haben. Und genau deshalb wollte ich, dass das Stück auf die Platte kommt." Trotz allem Sozialkundegestus, den die Band für sich entdeckt hat: Hübsch dadaistisch ist dieses, nun ja, "Musikvideo" schon geraten:



Auf dem neuen Album "Fire" von The Bug geht es ziemlich hoch her, schreibt Klaus Walter in der taz. Auch Moor Mother hat einen Aufritt, erfahren wir. Beide "teilen den Glauben an die subversive Kraft von Schutt-und-Asche-Sounds, Lautstärke, Tiraden, schweren Zeichen, denKlangboten von Klaustrophobie und Paranoia, kurz, den Glauben an das Inventar einer sonischen Militanz, die uns in ständige Alarmbereitschaft versetzt, stets ready für die Überwältigung. Eine Überwältigung, die in einem Basstempel in tiefer Nacht bei einem DJ-Set von The Bug so was von - Entschuldigung: geil überwältigend sein kann. Eine Überwältigung aber auch, die auf Tonträger Gefahr läuft, zur Instantmilitanz zu regredieren, einem rasenden Stillstand, einer abstrakten Radikalität, die überwältigend auf die Nerven gehen kann." Wir hören rein:



Auch wenn er Konzerte unter absurden Bedingungen schon abgebrochen hat, will sich Helge Schneider von Coronaleugnern nicht vor den Karren spannen lassen, erklärt er im NZZ-Gespräch. Auch ansonsten geht es viel um den Humor im Traurigen angesichts einer absurden Welt: "Existenz ist sowieso völlig grotesk. Bei der Geburt geht das los. Sich da rauszuwinden, gelingt nicht vielen. Und frei zu sein. ... Ich bleibe der, der ich bin, weil ich mich nicht wiederholen muss. Ich muss mich nicht karikieren. Die alten Stones müssen immer wieder 'Jumpin' Jack Flash' spielen. Ich werde mit 105 noch ganz jung auf der Bühne stehen."

Weitere Artikel: Die Popkriterinnen und -kritiker der taz holen nochmal Nirvanas vor 30 Jahren erschienenes "Nevermind"-Album aus dem Schrank. Nick Joyce tut es ihnen im Tagesanzeiger gleich und liefert dazu noch tolle Fotos von der Session für das Cover. Auch der Standard macht bei der Nirvana-Retro mit. Michael Wackerbauer blickt in der NMZ auf die Frühgeschichte der Donaueschinger Musiktage. Besprochen wird ein Konzert des Marmen Quartets (Tagesspiegel).
Archiv: Musik