Efeu - Die Kulturrundschau

Dass das Böse das Normale sein könnte

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12.10.2021. Forward.com nimmt konsterniert zur Kenntnis, dass Sally Rooney verbietet, ihre Romane ins Hebräische zu übersetzen. Auf ZeitOnline beklagt sich der östereichische Autor Elias Hirschl über den Niedergang der Wiener Seifenoper. Die taz springt jubelnd in einen Tümpel aus Blut und Sperma, den ihr Pinar Karabulut und Sivan Ben Yishai in den Münchner Kammerspielen bereiten. Die FAZ übt sich mit Juri Pimenow in der optimistischen Antizipation der Zukunft. Und die NZZ versucht, Goyas kühlen Blick in die menschlichen Abgründe auszuhalten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.10.2021 finden Sie hier

Kunst

Juri Pimenow: Her mit der Schwerindustrie", 1927. Bild: Tretjakow-Galerie

Die Moskauer Tretjakow-Galerie verlangt mit ihrer Ausstellung zum Sowjetmaler Juri Pimenow Besuchern ab, Ambivalenz auszuhalten, wie Kerstin Holm in der FAZ deutlich macht. In Bildern wie "Her mit der Schwerindustrie!" wollte Pimenow den Proletarier mit altmeisterlichem Können in Szene setzen: "Eine Ikone der Sowjetmoderne ist Pimenows Gemälde 'Das neue Moskau', das eine Frau in Rückenansicht am Steuer eines Cabriolets zeigt. Das während des großen Terrors im Jahr 1937 entstandene Bild führt, über die Realien der Zeit pointillistisch hinwegschauend, die optimistische Antizipation der Zukunft exemplarisch vor. Pimenow, dem seine damals schwangere Frau Modell saß, zeigt, wie die emanzipierte Sowjetbürgerin, die sich sozialistisch-romantisch eine Nelke an die Windschutzscheibe gesteckt hat, bei strahlendem Wetter in Richtung der neuen Stalinpaläste im Zentrum unterwegs ist."

In der NZZ lässt sich Kritiker Philipp Meier von den sinnlich-abgründigen Bildwerken Francisco de Goyas in den Bann ziehen, dem die Fondation Beyeler eine große Ausstellung widmet (unser Resümee). Aber Meier bemerkt auch den kühlen Blick, mit dem Goya die Abgründe des menschlichen Daseins erkundet: "Nie ist Goya moralisierend, nie ergreift er Partei, nicht einmal für die Opfer. Und dies ist vielleicht gerade das Irritierendste an seinen Bildern. Er nährt in den Betrachtern seiner Werke die unerträgliche Ahnung, dass das Böse das Normale sein könnte und die Menschen, wenn sie nur die Gelegenheit dazu haben, sich an ihm erfreuen. Goya zeigt, was alles werden kann und was wird, wenn der dünne Firnis der Zivilisation einbricht. Goya war aber auch der Maler der Reichen, der Schönen und der Mächtigen. Er war sozusagen der Letzte einer Zunft königlicher Hofmaler. Er porträtierte die Adligen, die Elite und das Bürgertum. Und dass eryauch dies mit nüchternem Realitätssinn für die Eitelkeiten dieser Klientel zu tun pflegte, tat seiner Beliebtheit keinen Abbruch."

Weiteres: Im taz-Interview mit Sebastian Strenger spricht die chilenische Künstlerin Sandra Vásquez de la Horra über ihr zeichnerisches Werk, für das sie gerade mit dem Hans-Theo-Richter-Preis ausgezeichnet wurde. Im Tagesspiegel sucht Rüdiger Schaper eine Idee, wie man das Berliner ICC für die Kunst retten kann. Besprochen werden die fantastische Modigliani-Schau in der Wiener Albertina (SZ) und die Ausstellung "Auf Linie" über die NS-Kunstpolitik im Wien-Museum (SZ).
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Literatur

Die Erfolgsautorin Sally Rooney hat untersagt, dass ihr neuer Roman ins Hebräische übersetzt wird, und begründet dies mit einem kulturellen Boykott Israels. Die Autorin "wählt damit einen Pfad, der wie ein Fluch auf der künstlerischen Essenz der Literatur lastet", kommentiert Gitit Levy-Paz auf Forward.com. "Diese Essenz der Literatur, ihre Kraft, der Welt eine Ahnung von Kohärenz und Ordnung zu verleihen, wird von Rooneys Entscheidung, eine Gruppe von Lesern aufgrund ihrer nationalen Identität auszuschließen, negiert. ... Ich will damit nicht sagen, dass Rooney antisemitisch ist oder dass Kritik an Israel automatisch Antisemitismus entspricht. Aber angesichts dessen, wie in den letzten Jahren insbesondere in Europa der Antisemitismus angestiegen ist, ist das Timing ihrer Entscheidung gefährlich."

Auf ZeitOnline zeigt sich der österreichische Schriftsteller Elias Hirschl mächtig sauer auf sein Land. Nicht nur, weil die Politiker seines Landes dasselbe zu einer einzigen großen absurden Seifenoper umgemodelt haben, sondern auch, weil sie ihm das Schreiben zur Hölle machen. "Da ist man als Autor irgendwann echt aufgeschmissen, wenn man sich anstrengt, seine politischen Romanfiguren nicht zu polemisch zu überzeichnen, nicht zu klischeehaft darzustellen... Das sind Menschen, die nie dem Hierarchiesystem der Schulsprecherwahl entwachsen sind. Rich Kids, die mit zwölf Jahren schon Spielgeld von ihrem Papa zum Investieren bekommen haben. "

Weitere Artikel: Auf 54books denkt Sabina Zollner über das Verhältnis zwischen Naomi Aldermans Science-Fiction-Roman "Die Gabe" aus dem Jahr 2016 und Margaret Atwoods "Der Report der Magd" nach. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Zelda Biller an den Groll, den Marcel Reich-Ranicki 1987 gegen Christa Wolf hegte, die zuvor Thomas Brasch und die DDR seiner Ansicht nach zuvor zu überschwänglich gelobt hatte. Andreas Platthaus schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Germanisten Jost Hermand.

Besprochen werden unter anderem Antje Rávik Strubels "Blaue Frau" (FR), Chimamanda Ngozi Adichies "Trauer ist das Glück, geliebt zu haben" (Dlf Kultur), Jonathan Franzens "Crossroads" (Freitag), Sandro Veronesis "Der Kolibri" (taz), Cécile Wajsbrots "Nevermore" (Tell), Wolf Wondratscheks "Dante, Homer und die Köchin" (SZ), Georg Kleins "Bruder aller Bilder" (online nachgereicht von der FAZ) und J. K. Rowlings neues Kinderbuch "Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein" (FAZ).
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Bühne

Mehr vom Mehr: Sivan Ben Yishais "Like Lovers Do". Foto: Krafft Angerer / Kammerspiele

Schier vom Sitz reißt es taz-Kritikerin Johanna Schmeller in Pinar Karabuluts Inszenierung von Sivan Ben Yishais "Like Lovers do - Memoiren der Medusa", so fertig und so begeistert ist sie nach dieser Hölle einer Missbrauchsfantasie in den Münchner Kammerspielen: "Dabei lotet Sivan Ben Yishai die Grenzen der Sprache in einer Weise aus, die Medien, sozialen Netzwerken und selbst Filmen üblicherweise verboten ist und die in dieser Härte und Unmittelbarkeit dem Theater vorbehalten bleibt. Mehr wird an diesem Abend mehr: Mehr Schmerz, mehr Furor, mehr Angst, mehr Gefühl werden unterstützt durch fast durchgehend brüllende, singende oder greinende Schauspieler. Mehr grelle Farben, flackerndes Licht, ein Ufo, das sich - natürlich im Trockennebel - auf die Bühne senkt, ein Finale als Luftperformance (Bühnenbild: Michela Flück). Ein Tümpel, in dem Blut oder Sperma rot blubbernd kocht und in den die Figuren kopfüber abstürzen."

Besprochen werden Robert Borgmanns Inszenierung "Passion I und II" nach Bulgakows "Der Meister und Margarita" in Bochum (SZ) und Barbara Freys bereits bei der Ruhrtirennale gezeigte Inszenierung von Edgar Allen Poes "Untergang des Hauses Usher" am Wiener Burgtheater (Standard).
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Film

In der SZ spricht Jesse Eisenberg über seinen neuen Film "Resistance", in dem er den Pantomimen Marcel Marceau im Widerstand gegen die Nazis spielt.

Besprochen werden Daniel Cohn-Bendits ARD-Dokumentarfilm "Wir sind alle deutsche Juden" (FR, FAZ), Radu Judes "Bad Luck Banging or Loony Porn" und Julia Ducournaus "Titane", die NZZ-Kritiker Andreas Schreiner vom (allerdings eh an kaum einer Stelle vernommenen) Vorwurf der Pornografie freispricht, Lisa Eders Dokumentarfilm "Der wilde Wald" (Filmdienst), Mario Schneiders Porträfilm "Uta" über die Malerin Uta Pilling (Filmdienst), Dominik Molls Thriller "Die Verschwundene" (Filmdienst) und die schwedische, auf ZDF Neo gezeigte Thrillerserie "Box 21" (taz).
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Design

Liisi Beckmanns Karelia-Sessel, 1969 (Vitra Design Museum/Zanotta SpA Italy)

Nicht voll überzeugt wirkt FAZ-Kritiker Ulf Meyer von der Schau "Here We Are! Frauen im Design 1900 - heute" im Vitra Design Museum in Weil am Rhein: Unklar bleibe, was die Schau zum Ausdruck bringen wolle, "zwischen einer Leistungsschau weiblicher Designerinnen und der Präsentation von Ergebnissen feministischer Forschung schwingt das kuratorische Pendel hin und her". Zeitgenössische Designerinnen wie etwa Julia Lohmann, die Leder durch Algenmaterialien ersetzt, findet er zwar durchaus "spannend" und manche Gestalterinnen-Biografie nimmt Meyer interessiert zur Kenntnis. Aber "etwas übergriffig wird die interessante Schau an Stellen, an denen postuliert und agitiert wird: 'Ein binäres Geschlechterverhältnis, das Begabung mit dem Geschlecht in Verbindung bringt, ist längst Vergangenheit', schreiben die Kuratorinnen. Und: 'An den großen Bildungsinstitutionen kommt eine Diskussion um Gender und Marginalisierung in Gang. Feministische Akteurinnen stellen akademische Eliten in Frage.' Mit derlei Getröte läuft die Schau Gefahr, dem Œuvre der besten Gestalterinnen des letzten Jahrhunderts einen Bärendienst zu erweisen."

Weiteres: In Boris Johnsons eigenwilliger Jogging-Bekleidung zeigt sich Marion Löhndorf von der NZZ die typisch britische Exzentrik, die sich auch in der britischen Mode niederschlägt. Gerhard Matzig schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Gartengestalter Richard Schultz.
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Musik

Joseph Croitoru erklärt uns in der FAZ das Phänomen der ägyptischen Mahraganat-Sänger, die im Zuge des Arabischen Frühlings populär wurden, aber unter besonderer Beobachtung der Regierung und ihrer Häscher stehen: Geschätzt werden die Musiker auch für ihre teils deftigen, in der Regel aber anspielungsreichen Texte. Unterstützung zur Gängelung der Musiker erhält das Sisi-Regime vom nationalen Musikverband des Landes, denn dem "drohen erhebliche Absatzverluste, weil die Festivalsänger inzwischen auch bei der jüngeren Mittelschicht beliebt sind und ihre Musik selbst vermarkten." So "hatte der Verbandsvorsitzende Hani Shaker (Jahrgang 1952 und selbst Sänger und Schauspieler) im Februar vergangenen Jahres diese Musikrichtung für unerlaubt erklärt. Anlass war der Auftritt des Sängerduos Hassan Shakosh und Omar Kamal am Valentinstag in einem Kairoer Stadion, bei dem sie auch ihren Song 'Nachbars Tochter' im Programm hatten. Das Lied, in dem der Angebeteten von nebenan Liebe geschworen wird, enthält auch die Drohung: 'Wenn du mich verlässt, trinke ich Alkohol (und rauche) Haschisch.'"

In der Welt wird es Michael Pilz sehr nostalgisch zumute, wenn er das neue Album der Specials hört: Das Urgestein der britischen Ska-Bewegung covert darauf Protestsongs von 1924 bis 2012 und widerlegt dabei, etwa im seinerzeit vom Erfolg gekrönten Song "Free Nelson Mandela", "die zum Konsens der Musikkritik geronnene These, das Protestlied diene lediglich dem Sänger selbst und seinem Nimbus als moralische Instanz: Kulturindustriell wird jede Rebellion verwertet." Die Band spielt "die Proteslieder der Anderen und Älteren zu zwölft so offen und so schön, wie sie nur können, weil es wieder an der Zeit ist." In diesem Sinne: Aufgestanden!



Außerdem: Immer mehr Frauen drängen in den allerdings weiterhin stark männerdominierten Jazz vor, freut sich Andreas Hartmann im Freitag und recherchiert Hintergründe, wo für Frauen im Jazz die Hindernisse und Herausforderungen liegen. Im Tagesspiegel plaudert Björn Springorum mit Finneas, dem Bruder und Produzenten von Billie Eilish, der nun sein Soloalbum "Optimist" vorgelegt hat. Thomas Schacher wirft für die NZZ einen Blick ins Programm des Zürcher Kammerorchesters. Von Konflikten zwischen dem Trägerverein dieses Orchesters und der Gesellschaft der Freunde des Zürcher Kammerorchesters berichtet Christian Wildhagen.

Besprochen werden Laurenz Lüttekens Studie "Der verborgene Sinn - Verhüllung und Enthüllung in der Musik" (SZ), ein Konzert des Perkussionisten Alexej Gerassimez mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (Tagesspiegel, hier zum Nachhören), Daniel Deckers Buch "Not Available" über Platten, die nicht erschienen sind (FR), das neue Konzertprogramm des Berliner Trios Laccasax (NMZ), neue Klassikveröffentlichungen (SZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter "Talk Memory" von BadBadNotGood, von denen sich Standard-Kritikerin Amira Ben Saoud "auf hohem Niveau berieseln" lässt.


Archiv: Musik