Efeu - Die Kulturrundschau

Kein akademisches Ordnungsprinzip, nirgends

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03.11.2021. SZ und Welt huldigen dem malenden Partisan Georg Baselitz, der in die Académie des Beaux-Arts aufgenommen wurde und dem das Centre Pompidou eine imposante Retrospektive widmet. Die NZZ lauscht noch einmal den revolutionären Eruptionen in einem Live-Mitschnitt von John Coltranes "Love Supreme". Die FAZ bewundert die Konsequenz, mit der Kate Winslet die Erwartungen der Filmindustrie an sie unterlief. Zärtliche Grüße gehen an Monica Vitti, mit deren Modernität nicht einmal Antonioni mithalten konnte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.11.2021 finden Sie hier

Kunst

Georg Baselitz: "Die Mädchen von Olmo II", 1981. © Georg Baselitz / Centre Pompidou

Georg Baselitz ist in die Académie des Beaux-Arts aufgenommen worden. Das ist natürlich eine große Ehre, aber für SZ-Kritiker Joseph Hanimann auch ein wenig seltsam, ausgerechnet Baselitz jetzt das "Akademikerschwert schwingen" zu sehen. Denn für dessen Schöpferwut scheint selbst das Centre Pompidou noch zu klein, das Baselitz eine große Retrospektive widmet, wie Hanimann berichtet:, der in Baselitz auf den Kopf gestellten Bildern die burleske Magie eines Antonin Artaud erkennt: "Vor dem Bild 'Die Mädchen von Olmo II' vollzieht man, indem man die grell grünen Formen am oberen Bildrand erst beim zweiten Hinsehen als Fahrräder erkennt, auf denen die beiden Mädchen mit dem Kopf nach unten durch die gelbe Landschaft fahren, genau jenen Wahrnehmungsprozess noch einmal, der Baselitz an den Objekten seiner afrikanischen Kunstsammlung stets faszinierte: das Sehen der Welt, als bräche sie täglich neu aus ihren Ursprüngen hervor. Kein akademisches Ordnungsprinzip, nirgends."

In der Welt erinnert Cornelius Tittel daran, wie Baselitz in den sechziger Jahren von der Kunstkritik als "malender Partisan" gegen die internationalen Schulen abgestraft wurde: "Mit den Helden-Bildern versuche er eine neue, explizit deutsche Subjektivität zu lancieren - und wo deutsche Subjektivität schlussendlich hinführe, wisse man spätestens seit dem zweiten Weltkrieg. Diese einsamen, traurigen, und auch wenig lächerlichen Helden, geschunden und zutiefst melancholisch: Es sind also gefährliche Bilder, vor denen man nun steht und staunt. Nicht nur darüber wie allein Baselitz selbst damals gestanden hat."

In der FAZ zeigt sich Jeremy Adler überwältigt von den Zeichnungen Franz Kafkas, die jetzt aus dem Nachlass von Max Brod erscheinen: "Kafka zeichnete mit Wucht. Ob er mit zackigen Strichen oder mit eleganten Kurven seine Skizzen hinwarf, stets kennzeichnen sich seine Bilder durch Kraft und Energie. Alles bewegt sich. Nichts bleibt still. Gefühle wollen sich stets in Handlung darstellen. Typische Motive aus dem Jugendstil sowie aus dem Futurismus verleihen den Skizzen eine modernistische Gestalt. Die Stimmung reicht von nackter Aggression bis zu einem bizarren Humor. So eröffnen uns diese schrulligen Fingertänze eine absurde Welt: Mal trippelt ein Flaneur mit einem Gehstock daher, mal heult ein einsamer Mensch, die Finger fest auf die Augen gepresst. Kafka vermag eine ganze Welt in einem billigen Blatt Papier zu komprimieren."

Besprochen werden die Schau "Close-up" in der Fondation Beyerle, die Frauenporträts von neun Künstlerinnen zeigt, von Berthe Morisot bis Cindy Sherman (NZZ), der restaurierte Rimini-Altar im Frankfurter Liebieghaus (FR), die Ausstellung "Löwen - Sphingen - Silberhände" mit etruskischen Funden aus Vulci im Archäologischen Museum Frankfurt (FAZ).
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Literatur

Helmut Mauro amüsiert sich in der SZ mit dem Kochbuch von Anna Netrebko. Gar nicht schlecht, meint er, und es wirft grundlegende Fragen auf. Zum Beispiel beim Borschtsch, für den Netrebko das Gemüse nicht durchgängig würfelt: "Nein, nur ein Teil kommt in die geometrische Verarbeitung, der Weißkohl dagegen wird in hauchdünne Streifen geschnitten, Karotten und Rote Bete gar geraspelt. Das fühlt sich gleich ganz professionell an. Dem Rezept zufolge soll die Bete zugleich geraspelt und gewürfelt werden. Schwierig. Dagegen verschweigt es die fachgerechte Verarbeitung des Knollenselleries. Was ist da los, was sagte Ludmilla? Keine leichte Entscheidung. Vielleicht den Sellerie würfeln und die Bete raspeln? Es ist nun ein bisschen wie mit dem Vibrato in höherer Lage. Raspelt man lieber den Quartvorhalt auf dem c oder das folgende h? Letztlich ist es eine Charakterfrage.

Auf Zeit online schreibt Lena Gorelik über Komplimente, die keine sind. Besprochen werden Rachel Cusks Roman "Der andere Ort" (SZ), Fernanda Melchors Roman "Paradais" (SZ), Richard J. Evans' "Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien" (NZZ), Susanne Saygins Roman "Crash" (Zeit), ein Band mit Franz Kafkas Zeichnungen (SZ, FAZ), Mara-Daria Cojocarus Gedichtband "Buch der Bestimmungen" (FAZ) und Hans Ulrich Gumbrechts "Provinz" (FAZ).
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Film

Kate Winslet in "Ammonite"

Francis Lees Film "Ammonite" erzählt von der englischen Fossilienforscherin Mary Anning, die im frühen 19. Jahrhundert die bedeutendsten Dinosaurierskelette fand, aber von der Royal Society als Frau aus einfachen Verhältnissen nicht mal ignoriert wurde. In der FAZ nutzt Andreas Kilb den Film für eine Hymne auf die Schauspielerin Kate Winslet: "Die Konsequenz, mit der sie nach ihrem Auftritt als blonde Schiffbruchs-Ikone in 'Titanic' die Erwartungen der Branche düpierte, hat ihr nicht nur nicht geschadet, sondern ihr schauspielerisches Überleben in der Filmindustrie gesichert. Sie hätte als Bond-Girl und Superheldin enden können. Stattdessen war sie die Vorleserin Hanna, die lebenssüchtige April Wheeler, die unzerstörbare Mildred Pierce, die Muse von Michel Gondry und Woody Allen, die Geliebte des Marquis de Sade und die Gegenspielerin von Jodie Foster bei Roman Polanski. Nichts von diesem Glanz spiegelt sich in Mary Annings Gesicht. Und doch ist alles da, eingeschlossen unter dem erstarrten Mienenspiel, dem kaum ein Lächeln entschlüpft. Die Frau, die durch den Küstenschlamm stapft und Souvenirs aus Muscheln und Porzellan an Touristen verkauft, trägt das Fossil eines verletzten Herzens in sich."

Monica Vitti in "L'Avventura"

SZ-Kritiker Fritz Göttler schickt einen zärtlichen Gruß an die verehrungswürdige Monica Vitti, die mit Antonioni das Kino in die Moderne holte und heute neunzig wird. Auch in der FAZ kann Claudius Seidl angesichts von so viel betörender Schönheit und Poesie nur seufzen: "Manchmal, in den besten Szenen von 'L'ecclisse', glaubt man, in Monica Vittis Präsenz eine zauberhafte Unverständlichkeit zu erkennen, die Einsicht des Mannes Antonioni, dass er der Modernität dieser Frau nie folgen kann."

Besprochen wird Disneys neuer Superhelden-Film "Eternals" (an dessen Leblosigkeit auch die Oscar-prämierte Regisseurin Chloé Zhao nichts ändere, wie Tobias Kniebe in der SZ enttäuscht feststellt, taz-Kritikerin Jenny Zylka fühlt sich von den "massiven Schauwerten" geradezu erdrückt, Tsp) und der Spielfilm "Kabul Kinderheim" der afghanischen Regisseurin Shahrbanoo Sadat (die im letzten Moment noch von den französischen Truppen aus Kabul ausgeflogen werden konnte, wie Claudia Lenssen in der taz weiß).
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Bühne

Besprochen werden Wolfgang Rihms Monodrama "Proserpina" an der Neuen Oper Wien (und mit einer famosen Rebecca Nelsen, wie Stefan Ender im Standard beteuert),  Bruno Bouchés Choreografie von Wim Wenders' "Himmel über Berlin" mit dem Ballet du Rhin in Straßburg (SZ) sowie Brechts Oper "Die Verurteilung des Lukullus" in einer Inszenierung des Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen in Stuttgart (FAZ).
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Stichwörter: Rihm, Wolfgang, Wenders, Wim

Musik

Vor kurzem ist ein Live-Mitschnitt von John Coltranes "A Love Supreme" aus einem Club in Seattle 1967 erschienen. Ueli Bernays (NZZ) hat ihn gehört und ist überwältigt: "Coltrane hat hier die künstlerischen Ideale des Modern Jazz großartig vergegenwärtigt in seinem unverkennbaren Sound, seinem profilierten Personalstil. Aber seine Musik wuchs gleichzeitig über die traditionellen Vorgaben hinaus. Sein janusköpfiges, nachdenkliches und vorausblickendes Genie mag sich in seiner musikalischen Selbstfindung stets bemerkbar gemacht haben; immer überhöhte oder abstrahierte er herkömmliche Formen, um seine expressive Freiheit schrittweise zu erweitern. Auf der Originalaufnahme von 'A Love Supreme' aber bricht das Revolutionäre plötzlich triumphal und eruptionsartig in die Gegenwart. An der Grenze zur Atonalität erweist sich die individuelle Ekstase als Messe und Mission."

Hier der erste Teil des Live-Konzerts:



Am Freitag erscheint das erste Album von Abba seit vierzig Jahren, im Frühjahr geben sie sogar Konzerte, aber nicht in Person sondern als ewig junge Avatare. In der SZ befällt Thomas Steinfeld ein großes Gruseln: Überall Wiedergänger in der Popmusik. "Jüngst ist das sogenannte 'Black Album' der amerikanischen Metalband Metallica zum dreißigjährigen Jubiläum der ersten Veröffentlichung neu erschienen, als 'Super Deluxe Box', zu der neben vierzehn CDs auch drei Plektren sowie vier Backstage-Pässe gehören, für längst vergangene Konzerte. So groß scheint die Welt dieser Geister mittlerweile zu sein, dass ein geschlossenes Universum vorstellbar wird: Das viele Geld, das gegenwärtig für die Reproduktionsrechte für alte Songs ausgegeben wird, bildet nur dann eine sinnvolle Investition, wenn die 'alchemistisch gesteigerten Gedanken' (Thomas Mann) der populären Musik nicht aufhören, als Geister durch die Gehörgänge der halben Menschheit zu rotieren. Jüngere Musiker und vor allem die Autoren neuer Musik werden darunter zu leiden haben."

Zum Tod des Pianisten Nelson Freire schreiben Harald Eggebrecht in der SZ, Christiane Peitz im Tagesspiegel und Jan Brachmann in der FAZ.

Besprochen werden Parquet Courts' Album "Sympathy for Life" (taz) und die Kompilation "Zeitlos", eine Hommage an den Wiener Liedermacher Georg Danzer (Standard).
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