Efeu - Die Kulturrundschau

Das Auftauchen von Krähen

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10.11.2021. Der Tagesspiegel berichtet, dass Orhan Pamuk in Istanbul ein weiterer Prozess droht: Er soll Atatürk verunglimpft haben. Verhalten nimmt die Kritik Andreas Kleinerts Biopic "Lieber Thomas" auf, das aus Thomas Brasch einen deutschen Riesen machen will. Die FAZ bewundert die kreative Strenge des schwedischen Architekten Sigurd Lewerentz. Die SZ amüsiert sich prächtig mit "Garland" in Granz. Die taz lässt sich von der brasilianischen Schlagzeugerin Mariá Portugal niederstrecken.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.11.2021 finden Sie hier

Literatur

Orhan Pamuk droht in Istanbul aufs Neue ein Prozess, berichtet Susanne Güsten im Tagesspiegel. Vorgeworfen werden ihm diesmal, in seinem aktuellen Roman "Die Nächte der Pest" den türkischen Staatsgründer Atatürk und die türkische Flagge beleidigt zu haben. Insbesondere die Hürriyet hatte das Buch beim Erscheinen in der Türkei Anfang des Jahres skandalisiert: Die Ähnlichkeiten zwischen einer Figur im Roman "und Atatürk seien nur zu deutlich, schrieb Chefredakteur Ahmet Hakan, der als Stichwortgeber für Kampagnen gegen Andersdenkende bekannt ist. Insbesondere das Auftauchen von Krähen in dem Roman wertete Hakan als Beweis dafür - sei von Atatürk doch bekannt, dass er als Kind gerne Krähen nachjagte. Außerdem schwenke Kamil in dem Buch eine lächerliche Fahne mit einem griechischen Emblem. 'Was bezweckt Orhan Pamuk damit, dass er Atatürk verhöhnt?', fragte Hakan. 'Will er einen Aufruhr anzetteln? Will er dem Ausland eine Botschaft senden?' ... Pamuk wurde von der Staatsanwaltschaft zum Verhör einbestellt und bestritt die Vorwürfe. Die Figur des Offiziers Kamil werde in seinem Roman vom Volk geliebt, sagte der Schriftsteller. Außerdem würden in seinem Buch keine Krähen gejagt."

Weitere Artikel: "Literarisch mehr als wohlverdient" findet es Sophie Wennerscheid in der SZ, dass die grönländische Autorin Niviaq Korneliussen mit dem Preis des Nordischen Rates ausgezeichnet wird.

Besprochen werden unter anderem Arundathi Roys Essayband "Azadi heißt Freiheit" (NZZ), Günther Rühles "Ein alter Mann wird älter" (Zeit), Jonathan Coes "Mr. Wilder und ich" (Dlf Kultur), Katherine Mays "Überwintern" (Dlf Kultur), eine Neuauflage von Theodor Wolffs "Die Schwimmerin" aus dem Jahr 1937 (Welt) und Stephan Thomes "Pflaumenregen" (SZ).
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Film

Kleiner als in Wirklichkeit: Albrecht Schuch als "lieber Thomas"

FAZ-Kritiker Andreas Kilb hat erhebliche Vorbehalte gegenüber Andreas Kleinerts Biopic "Lieber Thomas" über den in Schüben immer wieder entdeckten Schriftsteller Thomas Brasch: Zu sehr fiktionalisiert sich der Regisseur hier in etwas rein und tue daher "mit seinem Helden das Gegenteil von dem, was Brasch mit den Figuren seiner Stücke getan hat: Er mythisiert. ... Sein Schwarz-Weiß ist nostalgisch statt enthüllend: Jede Party ein Déjà-vu, jeder Auftritt mit 'Ach!' unterlegt. Der Widerspruch, dass die DDR, deren Borniertheit er verachtete, zugleich seine Heimat und sein Thema war, nahm Brasch nach ihrem Untergang den poetischen Atem. Kleinerts Film dagegen fühlt sich in der Enge wohl, seine Prenzlauer-Berg-Idyllen sind schon die Freiheit, in die ihre Bewohner im November 1989 erst aufbrechen wollten." Offenbar wollte der Filmemacher "einen deutschen Riesen erschaffen, zu dem die Kamera auch dann aufblickt, wenn er im Drogenrausch von Vatermord und Amoklauf träumt. Das macht den 'lieben Thomas' als Menschen kleiner, als es der wirkliche Thomas war."

Auch epdFilm-Kritikerin Barbara Schweizerhof hat hier und da Probleme mit dem Film, aber "Albrecht Schuch verkörpert fesselnd den ewig Unzufriedenen als innerlich Getriebenen, als einen, der hoch pokert und den dann die Angst umtreibt, nicht liefern zu können." Filmdienst und epdFilm haben mit dem Regisseur gesprochen.

Außerdem: Im Dlf Kultur plaudert Mario Sixtus über sein vom ZDF online gestelltes Spielfilmdebüt "Hyperland". Ulrich Kriest berichtet im Filmdienst von den Hofer Filmtagen. In der taz spricht Leiter Ralf Schulze über sein Hamburger Musikfilmfestival Unerhört. Christian Buß schreibt im Spiegel einen Nachruf auf den Schauspieler Dean Stockwell.

Besprochen werden Mia Hansen-Løves "Bergman Island" (Jungle World, unsere Kritik hier), Vanessa Lapas Doku "Speer Goes to Hollywood" über Andrew Birkins gescheiterten Pläne, Albert Speers Erinnerungen zu verfilmen (SZ), die Arte-Doku "Für Sama" über eine Mutter in Aleppo (online nachgereicht von der FAZ), Oliver Polaks Netflix-Show "Your Life is a Joke" (SZ), der nun auch in Österreich startende Film "Das Mädchen und die Spinne" der Zürcher-Brüder (Presse, unsere Kritik zum deutschen Start im Juli hier), Edgar Wrights Horrorfilm "Last Night in Soho" (NZZ), die Netflix-Serie "Du Sie Er & Wir" (FAZ) und die Sportdoku "King Otto" über Otto Rehagel (SZ).
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Architektur

Sigurd Lewerentz' Markuskirche. Foto: Johan Dehlin / ArkDes

FAZ
-Kritiker Ulf Meyer weiß die Abneigung der Schweden gegen Heldenverehrung zu schätzen, aber noch besser gefällt ihm die bahnbrechende Ausstellung über Sigurd Lewerentz im Stockholmer Zentrum für Architektur und Design, ArkDes. Denn Meyer hält ihn schlicht für Schwedens eigensinnigsten und interessantesten Architekten: "Meisterwerke wie die St.-Markus-Kirche in Björkhagen und St. Peter in Klippan sind für ihre unverwechselbare Architektur weltweit bekannt. Ihr grobes Mauerwerk, ihre formale Freiheit, kombiniert mit Strenge im Entwurf, wirken radikal und erfinderisch angesichts der vorherrschenden neoklassischen Traditionen in Nordeuropa ... Gegen den rationalen Aufbau des modernen Schwedens als Wohlfahrtsstaat leistete er kreativen Widerstand. Seine Bauten sind stattdessen vielfältig und erfinderisch in ihrer Position zwischen Geschichte und Moderne, Ewig- und Vergänglichkeit, Gemeinschaft und Einsamkeit, Wärme und Entfremdung. Seine teils grüblerisch-ernsten Werke sind unkonventionell in Konstruktion und Materialität, inspiriert von Mitgliedern des Deutschen Werkbunds wie Richard Riemerschmid, für den er in München tätig war, und vom national-romantischen Stil in Skandinavien."

Immer neugierig begibt sich Guardian-Kritiker Oliver Wainwright in die Welt der Architektur auf TikTok, entdeckt aber nur Erklärvideos, Selfie-Monologe, Einrichtungstipps und Property porn. Nicht mal die Ausbrüche auf Louisatalksbuildings gegen superdünnen Wolkenkratzer der Oligarchen in New York können ihn mitreißen.
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Bühne

Svenja Bungartens "Garland". Foto: Karelly, Lamprecht/Schauspielhaus Graz

SZ
-Kritikerin Christine Dössel freut sich schon darauf, wenn Iris Laufenberg Intendantin des Deutschen Theaters in Berlin wird, denn was sie gerade im Schauspielhaus in Graz auf die Bühne bringt, findet Dössel famos. Zum Beispiel Svenja Bungartens Klimakatastrophenkomödie "Garland", die in einem unter der Dürre leidenden Brandenburger Ort namens Amerika spielt und von Anita Vulesica mit Witz und Timing inszeniert wurde: "Es geht in 'Garland' ja schon auch um Judy Garland, die als Figur dieses Namens in einer Tankstelle arbeitet, sich allerdings weigert, Benzin herauszurücken. Sterbenskrank wie Mutter Erde blickt sie ihrem Ende entgegen, singt manchmal aber noch zauberschön (Evamaria Salcher kann das und wirft sich dafür in Robe) und will zum Abschied ihre Tochter finden, die sie als Baby einst weggegeben hat. Das wird ihr nicht gelingen, obwohl die Gesuchte die Radiomoderatorin Lorna Luft sein könnte, die genauso heißt wie eine echte Tochter der echten Judy Garland. Verwirrend?"

Weiteres: Die Schauspielerin und Regisseurin Sukanya Sompiboon erzählt in der Nachtkritik aus Bangkok vom Theatermachen in Thailand in Zeiten der Pandemie.

Besprochen werden Thorleifur Örn Arnarssons gekoppelte Inszenierung der beiden Ibsen-Dramen "Ein Volksfeind" und "Die Wildente" am Thalia Theater (Nachtkritik), Rossinis "La Cenerentola" in Dresden (SZ) und das Berliner Festival "Theater der Dinge" an der Schaubude (Tsp).
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Kunst

Kein westdeutsches Museum wollte die Willi-Sitte-Retrospektive übernehmen, die die Moritzburg in Halle dem DDR-Maler zum hundertsten Geburtstag widmet. Dabei findet Burkhard Müller in der SZ die Ausstellung überaus verdientvoll, kritisch und reflektiert: "Man muss diesen Sitte nicht lieben. Die Ausstellung bietet Gelegenheit, sich mit dem Menschen und dem Künstler auseinanderzusetzen - und interessant ist Sitte aus zwei Gründen: wegen seiner exemplarischen Karriere im untergegangenen deutschen Staat, mit allem, was dazugehörte, besonders dem Unerquicklichen; und wegen seiner überquellenden Produktivität, deren Resultat noch der Sichtung harrt. Wenige andere Künstler dürfte es geben, wo das völlig Misslungene derart krass neben den überraschendsten und beglückendsten Funden steht."

Besprochen werden eine Ausstellung des preußischen Hofmalers Johann Erdmann Hummel in der Alten Nationalgalerie (FR), eine Schau der Sammlung Edward Solly, die einen Grundstein für die Berliner Gemäldegalerie legte (Tsp), die William-Hogarth-Schau in der Tate Britain (Observer) und eine Janosch-Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (Tsp).
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Musik

Schwer beeindruckt berichtet Diedrich Diederichsen in der taz vom Jazzfest Berlin. Liegen geblieben ist er dennoch nicht, obwohl die brasilianische Schlagzeugerin Mariá Portugal in ihrem Set "so etwas singt wie 'Es lohnt sich nicht aufzustehen'. ... In der Tat, diese Musik bleibt liegen, verteidigt so schwebend, somnambul und flüssig ihre Kratzigkeiten, ihre Intensitäten, ihren Eigensinn. Auch wenn dieses lange, weder wirklich an- oder abschwellende, sondern in einer auf der Stelle tanzenden, Affektpirouette innehaltende Stück nicht direkt nach irgendetwas klingt: Four Tet, Derek Bailey, Anette Peacock und Regenwald concrète seien erwähnt, um wenigstens vage auf das zeigen, was hier eben doch eher unmerklich eingeflossen ist." Nachempfinden kann man das in diesem Mitschnitt bei Arte, wo es im übrigen auch zahlreiche weitere Aufnahmen des Festivals gibt.

Die Berliner Underground-Rocker von Gewalt, deren Frontmann Patrick Wagner schon bei der Neunzigerjahre-Legende Surrogat die Mikrofone quälte, wecken bei Standard-Kritiker Christian Schachinger die Lust am Schmerz und guten Ratschlag:"In der Spannung zwischen runterziehenden Texten und brutaler, gnadenloser Gitarrenmusik, die den heute ja gern für abgelebt erklärten Rock mit der Betonung auf Noise ins Zentrum stellt, entsteht in Songs wie 'Gier' oder in 'Es funktioniert' (eine Betrachtung über die nicht unwesentliche Kapitalismussparte der Angstmache) eine tiefe Melancholie. Die kann durchaus romantisch gedeutet werden. Allerdings muss die zur Romantik gehörende blaue Blume durch eine schwarze Totentrompete ersetzt werden." Insbesondere "Unterwerfung" ist Schachingers Anspieltipp:



Besprochen werden Barack Obamas und Bruce Springsteens Gesprächsband "Renegades" (Tagesspiegel) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album von Damon Albarn (SZ) und Adia Victorias "A Southern Gothic" (Standard).

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