Efeu - Die Kulturrundschau

Stauchfalten im blauen Wasser-Papier

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.11.2021. Die Nachtkritik bemerkt alarmiert, dass wir vom Theater entwöhnt werden. Die FAZ ergründet in Santander die Welten Thomas Demands. Die SZ stößt im palästinensischen Flüchtligslager Dheisheh auf das Erbe einer Kultur des Exils. Im Freitag beklagt der slowenische Schriftsteller Goran Vojnović eine kommerzialisierte Jugonostalgie. Angefeuert von Christiane Rösinger befreit sich der Tagesspiegel auf dem Planet Egalia von seinem PH. Und Critic.de erfreut sich an den überkrachten Dialogen in Gábor Altorjays DDR-Fantasie "Pankow '95".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.11.2021 finden Sie hier

Kunst

Thomas demand: Pond, 2020. Bild: Centro Botín

Als Thomas Demands bisher beste Arbeiten feiert Stefan Trinks in der FAZ die Ausstellung "Mundo de Papel" im Centro Botín im nordspanischen Santander, in der Demand Orte des Grauens in Papier nachbaut: "Demand ist ein Skulpteur des Papiers und Apologet des Ephemeren. Das Fragile des Materials wird auf vielen Bildern thematisiert, so auf dem vier Meter breiten Eröffnungspanorama 'Teich' mit Nymphéas, auf dem Monets berühmtes Seerosen-Reich in Giverny, ebenfalls ein Garten, der wie Demands Papier-Reiche ausschließlich für seine Bildwerdung angelegt wurde, fast unmerklich vor unseren Augen hin und her schwappt wie die Wellen vorm Fenster. Denn an mehreren Stellen arrangiert der Künstler Stauchfalten im blauen Wasser-Papier, die wie die konzentrischen Kreise auf nur leicht bewegten Wasseroberflächen wirken. Demands Seerosen aber, die flach wie Pizzapappteller wirken, imitieren kongenial die 'Flatness' Monets auf dem Tiefblau des papierenen Giverny."

SZ-Korrespondet Peter Münch besucht das palästinensische Flüchtlingslager Dheisheh in der Westbank, das die beiden Kunst-Aktivsten Sandi Hilal und Alessandro Petti zum Weltkulturerbe machen wollen: "Sie fordern dafür ein 'Reframing', eine Umdeutung des Welterbe-Begriffs, die die herkömmlichen Denkmuster herausfordert. Das Flüchtlingslager soll dabei nicht nur als ein Ort des Leidens wahrgenommen werden, sondern als ein 'Ort der Inspiration' für Flüchtlinge auf der ganzen Welt - mit einzigartigen sozialen und politischen Strukturen. Es gehe darum, das 'Erbe einer Kultur des Exils' anzuerkennen, sagt Hilal."

Besprochen werden die Samlung der Fotografin und Mäzenin Ulrike Crespo , die sie dem Städel Museum Frankfurt vermacht hat (FR) und die Dürer-Schau "Travels of a Renaissance Artist" in der National Gallery in London (Guardian).
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Bühne

Christiane Rösingers "Planet Egalia". Foto: Dorothea Tuch / HAU

Herrlich vergnüglich findet Patrick Wildermann im Tagesspiegel Christiane Rösingers feministisches Singspiel "Planet Egalia" im Berliner HAU, das recht frei nach dem Roman "Die Töchter Egalias" der norwegischen Autorin Gerd Brantenberg vom männlichen Aufbegehren gegen das Matriarchat erzählt: "Bei Brantenberg tragen die Männer einen PH, einen Penishalter ('Größe 6 mit A-Röhre'), schämen sich ihrer Körperbehaarung, schmeißen den Haushalt und werden dafür von den Ernährerinnen geringgeschätzt... Allerdings weiß auch Rösinger, dass Brantenbergs mehrhundertseitiger Roman sich nach einer Weile erschöpft, weil das Prinzip ja nicht so schwer zu verstehen ist und der Raum für Überraschungen entsprechend begrenzt. Und dass sich der Geschlechterkampf in Zeiten fluider Gender-Identitäten etwas komplexer und frontenreicher präsentiert. 'Inzwischen ist Feminismus so populär, dass er gar nichts mehr bedeutet', ächzt die Künstlerin einmal. Klar, sie polemisiert immer noch gern gegen die 'RZB' (sprich: Romantische Zweierbeziehung). Aber bei all dem kommt ihr der Klassenkampf zu kurz ('Es reicht nicht aus, wenn wir nur gendern, wir müssen bald mal alles ändern', heißt es in einem Song)."

Jetzt schließen die Theater wieder, es ist zum Verzweifeln. Noch härter dürfte die Theater getroffen haben, dass sie in Sommer und Herbst nicht gerade vom Publikum überrannt wurden, meint Georg Kasch in der Nachtkritik. Dagegen müssen sie etwas unternehmen: "Die Menschen sind entwöhnt. Der Soziologe Hartmut Rosa argumentiert, dass der Hunger nach sozialen Kontakten bei Entzug nach einer Weile nachlässt. Hat man sich also erst mal an die Gemütlichkeit von Couch und Netflix gewöhnt, fällt es umso schwerer, sich wieder aufzumachen. Wenn das stimmt, dann müssten die Theater viel mehr machen als vor der Pandemie. Sie müssten in Nichtpublikumsforschung investieren, Einladungsgesten konzipieren, für die verschiedensten Publika Erlebnis- und Vermittlungspakete schnüren. Und natürlich Theater machen, das einen um den Finger wickelt, das nachhallt, nicht mehr loslässt."

Besprochen werden Evgeny Titovs "Macbeth"-Inszenierung am Düsseldorfer Schauspiel (mit einem ungeheuerlich sympathischen André Kaczmarczyk in der Titelrolle, wie Martin Krumbholz in der SZ staunt) und ein "Otello" mit Jonas Kaufmann im Teatro San Carlo in Neapel (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Roland Zschächner spricht für den Freitag mit dem slowenischen Schriftsteller Goran Vojnović, dessen jetzt auf Deutsch vorliegender Debütroman "Tschefuren raus!" von 2008 seinerzeit den slowenischen Polizeipräsidenten ziemlich auf die Palme brachte. Seitdem hat sich im Land zwar viel verändert, was die Diskriminierung von Menschen aus den anderen jugoslawischen Republiken betrifft, sagt er. Früher jedoch, "als die Nationalisten an die Macht kamen, hatten sie einfaches Spiel, die Menschen als Serben, Kroaten oder Slowenen anzusprechen und gegeneinander aufzubringen. In Slowenien sind wir am Rand Europas. Was hier passiert, bleibt auch hier. ... Heute wird alles kommerzialisiert, auch Jugoslawien. Das ist Jugonostalgie. Anstatt neue kulturelle Sphären zu schaffen, schauen wir in der Geschichte zurück. Es trennt uns mehr, als dass es uns verbindet."

Weitere Nachrufe: Bei Rushdie hatte die Schwedische Akademie (zum Ärger einiger Mitglieder) noch geschwiegen, jetzt meldet sie sich immerhin bei Orhan Pamuk, dem der in der Türkei der Prozess gemacht werden soll (unser Resümee), interventiv zu Wort, berichtet Aldo Keel in der NZZ. Roman Bucheli schreibt in der NZZ einen Nachruf auf die Literaturkritikerin Gunhild Kübler. Nachrufe auf den Bestsellerautor Noah Gordon schreiben Brigitte Negel-Täuber (JA), Fritz Göttler (SZ), Björn Hayer (ZeitOnline) und Tilman Spreckelsen (FAZ). Willi Winkler schreibt in der SZ zum Tod des Dichters Robert Bly.

Besprochen werden unter anderem Olga Tokarczuks Essayband "Übungen im Fremdsein" (FR), Imbolo Mbues "Wie schön wir waren" (SZ) und Douglas Stuarts "Shuggie Bain" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Auf Disharmonie gebürstet: Udo Kier in "Pankow '95"

Gábor Altorjays delirant-psychedelische DDR-Fantasie "Pankow '95", 1983 entstanden in der Bundesrepublik und mit Udo Kier passgenau besetzt, ist restauriert worden und kann somit wiederentdeckt werden, schreibt Tim Abele auf critic.de. In diesem Film fliehen Arbeitslose aus dem Westen in den Osten, es geht um eine Psychiatrie und um eine sich verschwörende Jugend. "Synthesizer neben 'Bolle reiste jüngst zu Pfingsten' in Musiknummern, kakophonische Klangteppiche und überkrachte Dialoge, Computergrafiken und Videoeffekte; 'Pankow '95' ist entstellungs- und verfremdungstechnisch auf der Höhe seiner Zeit und macht regen Gebrauch von diesen Mitteln in Albtraum- und Wahnsinnssequenzen. Licht und Schatten fallen meist sehr krass, die Figuren und das Maskenbild sowie ihre Inszenierung kippen auf eine Weise in Bizarre, die man einige Jahre nach Erscheinen des Films als gilliamesque bezeichnen wird. ... Kiers beherrschtes, trockenes Schauspiel disharmoniert herrlich mit den abgründigen Exzessen."

Weitere Artikel: Für critic.de berichtet Till Kadritzke vom Festival "Film Restored". Das ging schnell: Nicht mehr "Squid Game", sonden "Hellbound" ist jetzt die am meisten gesehene Serie auf Netflix - und sie kommt erneut aus Südkorea, berichtet Lena Karger in der Welt. Hanns-Georg Rodek schreibt in der Welt einen Nachruf auf die Schauspielerin Marie Versini. Jan Feddersen (taz), Jörn Lauterbach (Welt), Christian Schröder (Tagesspiegel) und Harry Nutt (FR) schreiben Nachrufe auf Volker Lechtenbrink.

Besprochen werden Halle Berrys auf Netflix gezeigter Sportfilm "Bruised" (SZ, Tagesspiegel), der Dokumentarfilm "Memory" über die Entstehung von Ridley Scotts "Alien" (SZ), die Netflix-Serie "Maid" (Freitag) und Til Schweigers "Die Rettung der uns bekannten Welt" (Welt).
Archiv: Film

Musik

Auf Adeles Forderung hin hat Spotify die Shuffle-Funktion versteckt, mit der sich auch Alben nach dem Zufallsprinzip abspielen lassen. In diesem Fokus aufs Album als Gesamtwerk verkennt die Künstlerin aber einen wesentlichen Aspekt von Pop, meint Jenni Zylka im Freitag: Erst in der Singleauskopplung kommt Pop zu sich und der Künstler zu seinem Geld. "Dass Popmusik in Häppchen kommt und konsumiert wird, liegt an der ehemaligen Begrenztheit der Single, und hat sich kaum verändert: Die Konzentrationsspanne für Pop, vor allem für konventionelle Songstrukturen wie in Adeles Fall, ist auf Hörer:innenseite seit den 50ern gleich geblieben (bei Klassik ist es etwas anders). Denn ein Charakteristikum des Pop ist die Abwechslung. Ein Unterschied in der Rezeption bestand allerdings immer schon zwischen beinharten Fans, die Lust auf das ganze Album in all seiner vorausgewählten Glorie haben, und eifrig die Qualitäten der einzelnen Songs diskutieren, und denen, die sich ohnehin eher für Hits interessieren."

Weitere Artikel: Tatjana Dravenau berichtet in der NMZ von der Konferenz "Diversity in Music - Komponistinnen und Dirigentinnen im Musikleben heute". Marco Frei resümiert in der NZZ das Festival "Forward", mit dem das Lucerne Festival seine Spielorte kreativ bespielt. Konstantin Nowotny stellt im Freitag den israelischen Sänger Mike Sharif vor, der es nicht nehmen lassen will, im Gaza-Streifen auf Hochzeiten zu spielen. Jonas Roth erinnert in der NZZ an Freddie Mercury, der heute vor 30 Jahren gestorben ist, und interpretiert den kryptischen Text von Queens "Bohemian Rhapsody" als codiertes Coming-Out.

Besprochen werden das gemeinsame Album "The Solution Is Restless" von Joan As Police Woman, Tony Allen und Dave Okumu (taz), das neue Album der Rapperin Shirin David (ZeitOnline), neue Musik von Duos - keine Band, die so heißt, sondern tatsächlichen Duos - (taz), ein Abend mit Lang Lang und Bachs Goldberg-Variationen (SZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter "Mememe" von 100 gecs ("eingängig, grell, und sehr, sehr nervös", schreibt SZ-Popkolumnist Jens-Christian Raabe).

Archiv: Musik