Efeu - Die Kulturrundschau

Ästhetik des Eises

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.11.2021. Aus einmal regnet es Dirigentinnen, freut sich die SZ und feiert die überlegene Meisterschaft der Litauerin Giedre Slekyte, die in Berlin Janaceks "Katja Kabanova" dirigierte. In Peter Eötvös' neuer Oper "Sleepless" klöppelt selbst der Tod noch mit knochentrockener Zartheit, staunt die FAZ, der Tagesspiegel stört sich allerdings am gütigen Retter in versöhnlicher Baritonlage. Die taz erlebt auf dem Climate Cultures Festival, wie poetisch sich vom Klimawandel erzählen lässt. Außerdem besucht sie das Cinéma Numérique Ambulant in Ouagadougou.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.11.2021 finden Sie hier

Bühne

Auch der Karpfen hat Zähne: Peter Eötvös' "Sleepless". Foto: Gianmarco Bresadola/ Staatsoper Berlin

An der Berliner Staatsoper wurde Peter Eötvös' neue Oper "Sleepless" nach Jon Fosses norwegischer "Trilogie" uraufgeführt. In der FAZ findet Jan Brachmann die Musik vielleicht etwas zu traditionell, dekorativ-illustrativ, aber die kühle Eleganz, die Eötvos glitzern lasse, kann den Kritiker doch auch betören: "Zarte Musik für eine harte Welt: erlesen perlende Harfentropfen, fischschuppig schillernde Flöten- und Klarinettenakkorde, warmer Hörnerglanz wie von flüchtigen Sonnenflecken auf dem Küstensaum unter zerzupften Kaltfrontwolken des Nordatlantiks, dazu ein fein gewirktes Gespinst der Streicher, manchmal knapp dreißigfach in Einzellinien unterteilt, aber in jeder Szene durch den Bezug zu einem wichtigen Zentralton gestützt; nicht einmal der Tod haut hier - wie noch bei Giuseppe Verdi - auf die große Trommel; er klöppelt knochentrocken, aber immer noch zart, auf der Marimba, bevor er sich wieder einen holt oder holen lässt durch Asle, den jungen zornigen Mann aus dem Dorf Dylgja."

Im Tagesspiegel hätte sich Christiane Peitz diese Moritat über prekäre Existenzen in einer herzenskalten Gesellschaft gern gefallen lassen, die Librettistin Mari Mezei aus Fosses archaische Märchen destilliert hat. Aber einen Einwand hat sie doch: "Wenn in den Klassikern der Operngeschichte Frauen sterben oder gerettet werden müssen, während die Männer handeln, misshandeln oder töten, mag das den Rollenbildern ihrer Entstehungszeit geschuldet sein. Aber eine Uraufführung im Jahr 2021, in der eine schutzlose, minderjährige Mutter mit dem Zerrbild der Hure korrespondiert und die zahlreichen Nebenfiguren ein überkommenes Macho-Klischee verkörpern, bis hin zu Arttu Kataja als gütigem Retter in versöhnlicher Baritonlage?"

Weiteres: Robert von Lucius beklagt in der FAZ das Ende der legendären Handspring Puppet Company aus Kapstadt. Besprochen werden Dennis Kellys Dystopie "Der Weg zurück" am Berliner Ensemble (Tsp), Georg Büchners "Lenz" am Landestheater Vorarlberg als Livestream (Standard)
Archiv: Bühne

Literatur

Julia Hubernagel berichtet in der taz vom Berliner Literaturfestival "Climate Cultures", bei dem engagiert nicht nur über die literarische Herausforderung der heraufdämmernden Kliamakatastrophe diskutiert wurde. Auch die kanadische Schriftstellerin Catherine Bush war anwesend, die in ihrem Roman "Blaze Island" unter anderem Fragen "nach der Wechselwirkung zwischen dem Verschwinden einer Landschaft und dem Verschwinden einer Kultur" stellt. "Der Ästhetik des Eises räumt sie viel Platz ein, die Klimakatastrophe poetisch ansprechend darzustellen ist also nicht unmöglich. 'Er goss ein Glas Wasser ein, ließ ein Stück Eis hineinfallen und hielt das Glas gegen das Licht', heißt es in 'Blaze Island'. 'Sehen Sie, wie das Eis zischt und blubbert? Mit diesem Knistern wird zehntausend Jahre alte Luft freigesetzt, die viel weniger Kohlendioxid enthält als unsere jetzt. In diesem Raum hier, beim Anblick dieser Bläschen, überblicken wir in gewissem Sinn die Zeitspanne, in der die Menschen hier auf der Erde ein stabiles Klima genossen haben.'"

Besprochen werden Susanne Fischers "Julia, laß das!!" über Arno Schmidts Zettelkasten zu "Julia, oder die Gemälde" (FR), Reinhard Kleists Comicbiografie "Starman" über David Bowie (Intellectures), Michael Meiers satirische Comicadaption von Dantes "Commedia" (Tsp), die Neuausgabe von Stefan Heyms "Flammender Frieden" (FR) und eine Hörbuchversion von Arno Schmidts "Zettels Traum", gelesen von Ulrich Matthes (SZ). Außerdem liegt der SZ eine Literaturbeilage zum Advent bei, die wir in den kommenden Tagen an dieser Stelle auswerten.

Und ein Mediathekentipp: Arte hat Christoph Rüters Porträtfilm "Brasch - Das Wünschen und das Fürchten" über Thomas Brasch online gestellt.
Archiv: Literatur

Kunst

Shirin Neshat: Land of Dreams. Foto: Pinakothe der Moderne
Politischer und entschiedener erscheint SZ-Kritikerin Evelyn Vogel die iranisch-amerikanische Künstlerin Shirin Neshat geworden zu sein, deren Arbeiten die Münchner Pinakothek der Moderne zeigt: "Die Fotoserien sind einander formal ähnlich. Ob es sich um die Grüne Bewegung im Iran und den Arabischen Frühling ('Book of Kings') oder den Vielvölkerstaat Aserbaidschan ('Home of My Eyes') handelte, Shirin Neshat überschrieb die Fotos der Porträtierten, die sie zu Heimat und Identität befragt hatte, mit Texten persischer Gelehrter, die sich wie Chiffren auf den Körpern wiederfinden. Ästhetisch ist dieses Miteinander von Fotografie und Kalligrafie sehr reizvoll. Inhaltlich bleibt man außen vor, wenn man die Schrift nicht lesen kann. Aber vielleicht ist gerade dies das Gefühl, das die iranische Emigrantin Shirin Neshat den westlichen Betrachtern ihrer Exilheimat vermitteln will: Wie es ist, ausgeschlossen zu bleiben - egal wie sehr man sich um Zugang bemüht."

Besprochen werden die Schau der sehr umjubelten südafrikanischen Fotokünstlerin Zanele Muholi, die nach der Londoner Tate nun im Berliner Gropiusbau zu sehen ist (taz) und die Ausstellung zum Cranachschüler Hans Kemmer im St. Annen Museum in Lübeck (FAZ).
Archiv: Kunst

Film

Katrin Gänsler hat für die taz das Organisation Cinéma Numérique Ambulant in Ouagadougou in Burkina Faso besucht, ein nomadisches Kino, das der Bevölkerung das gemeinsame Filmerleben nahebringt und sich als soziokulturelle Institution und Diskursort versteht. Doch "eins schränkt die Organisation weitaus mehr als die Coronapandemie ein: die zahlreichen Angriffe durch Terrorgruppen und Banditen im Land. Erst Mitte November starben in der Provinz Soum im Norden 32 Menschen, 28 von ihnen Soldat*innen. Mehr als 1,4 Millionen Menschen sind vor der Gewalt auf der Flucht. 'In der Region Sahel können wir überhaupt keine Aufführungen mehr organisieren, obwohl wir dort früher mehr als 100 Veranstaltungen jährlich hatten', so Agathe Ouedraogo. In Gegenden, in die sie noch fahren kann, hat die Organisation ihr Programm umgestellt. Aufführungen finden tagsüber in abgedunkelten Klassenräumen statt. Alle Zuschauer*innen werden kontrolliert."

Weitere Artikel: 3sat hat bei der aktuellen Zusammenarbeit mit Elke Lehrenkrauss, deren Dokumentarfilm "Lovemobil" wegen nicht kenntlich gemachter fiktionaler Szenen vor einigen Monaten erheblich diskutiert wurde (unsere zahlreichen Resümees), redaktionell ganz besonders hingeschaut, hat René Martens für ZeitOnline in Erfahrung gebracht. Und eine sehr traurige Nachricht: Der Münchner Fotograf, Filmemacher und Schauspieler Roger Fritz ist einem Schlaganfall erlegen. Hier ein Filmporträt über ihn von 2015.



Besprochen werden die RTL-Serie "Faking Hitler" über den Stern-Skandal um die gefälschten Hitler-Tagebücher (Welt), Corinna Belz' Dokumentarfilm "In den Uffizien" (Tsp) und ein Bildband zum Nineties-Filmklassiker "Trainspotting" (SZ).
Archiv: Film

Design

Mit dem Modedesigner Virgil Abloh ist "einer der einflussreichsten Kreativen seiner Zeit" gestorben, schreibt Adriano Sack in der Welt. Er war der erste Afroamerikaner an der Spitze von Louis Vuitton, war zugleich in der Popkultur zuhause, arbeitete eng mit Kanye West zusammen. Und er hat "die Welt verändert. ... Historisch waren die Mode, der Luxus, der Glamour fest in der Hand von reichen, weißen Menschen. Alle anderen waren Zuschauer oder Dekoration. An diesem Machtverhältnis wurde kräftig gerüttelt, und es scheint unwiederbringlich vorbei. Virgil Abloh war einer der wichtigsten, sichtbarsten und meistdiskutierten Akteure bei diesem Prozess." Sein Stil war die "Kulturtechnik des Allesverwertens", so "zeichnete ihn sein ungeheurer kultureller Appetit aus, mit dem er sich Popkultur und Hochkultur einverleibte."
Archiv: Design

Musik

Viele Jahrzehnte lang waren Frauen am Dirigentenpult quasi nicht gesehen, doch nun fallen die weiblichen Talente mit Taktstock geradezu vom Himmel, freut sich Wolfgang Schreiber in der SZ. Simone Young, Emmanuelle Haïm, Mirga Gražinytė-Tyla, Marie Jacquot, Oksana Lyniv und Joana Mallwitz - das sind die Namen, die man derzeit im Blick haben sollte. Wie auch Giedrė Šlekytė aus Litauen, die gerade an der Komischen Oper Berlin Leoš Janáčeks "Katja Kabanova" dirigiert hat und der Schreiber eine "überlegene Meisterschaft" bescheinigt: "Sie kann ihre das Orchester belebenden Ausdrucksgesten hoch und weit ausschwingen lassen, sie ist in der Lage, die düstere Schicksalsgewalt der Oper von 1920/21 mit souverän entfaltetem Klangfarbenreichtum zu beleben. Um sich daraufhin, mit dem ihr stets aufmerksam folgenden Orchester des Hauses, vehement und präzise in die schwierig herbe Kunst der 'Sprachmelodik' des Komponisten zu stürzen." Hier dirigiert sie Dvořák:



Die "digitale Leichenfledderei" im Jazz, über die sich Andrian Kreye in der SZ schon vergangene Woche geärgert hat (unser Resümee), geht weiter. Mit den neuen Alben von Melanie Charles und Makaya McCraven kann Kreye sich höchstens mal gerade so arrangieren, auch wenn es sich stellenweise anhört, "als hätte jemand die Musikgeschichte durch eine Wurstpresse der Baureihe 'Mambo Number 5' gedreht". Aber bei Gregory Porters Best-Of-Album hört sich für den Jazzkolumnisten so ziemlich alles auf: "Es ist erstaunlich, wie unsicher der sonst so kraftstrotzende Sänger da um die Originale herumeiert. Bei Buddy Holly versemmelt er sogar Intonierung und Phrasierung. Hört man sich die Aufnahme mit Ella Fitzgerald an, beschleicht einen das Gefühl, dass selbst die legendär freundliche Diva die Geduld verloren hätte. Und bei Nat King Coles 'Girl from Ipanema' ist das dann nur noch musikalisches Photobombing." So gewarnt, riskieren wir ein vorsichtiges Ohr:

Immer mehr Popstars absolvieren in Online-Game-Umgebungen geradezu blockbusterartige Auftritte, erklärt Giacomo Maihofer im Tagesspiegel: "MTV zeigte einst, dass Musik mehr war als nur ein Hörerlebnis, ein visuelles Vergnügen. Diese neuen Erfahrungen zwischen Games und Pop gehen weiter: Musik und Bild verbinden sich mit der Erfahrung eines formbaren Fantasie-Raumes. Radiohead treiben diese neue Form mit ihrer Ausstellung, der 'Kid A Mnesia Exhibition' auf die Spitze. Ein Labyrinth wartet hier auf Fans, amalgamiert aus den gemeinsam eingespielten Aufnahmen von 'Kid A' und 'Amnesiac', inklusive geheimer B-Seiten, unveröffentlichter Studiosessions und bergeweise verstörendem Artwork. Daraus wachsen beengende Flure, Diskotheken wie aus der Hölle, wunderschöne Spiegelsäle, Pyramiden." Einen Eindruck vermittelt dieses Playthrough ohne nerviges Gamer-Geschwätz:



Weitere Artikel: Im Standard erinnert Karl Fluch an das vor 50 Jahren erschienene Album "There's a Riot Going On" von Sly & the Family Stone. Cornelius Pollmer legt in der SZ den traurigen Deutschen Brahms' "Deutsches Requiem" als Wintersoundtrack ans Herz. Hier eine Aufnahme des WDR Sinfonieorchesters unter Semyon Bychkov:



Besprochen werden Tobi Müllers Buch "Play Pause Repeat" über die Technologien des Pop (NZZ), ein von Kent Nagano dirigierter "Rheingold"-Abend in Köln (Nagano ist "eher Einflüsterer als Berserker", schreibt Wolfram Goertz in der Zeit), die Amazon-Doku über Bushido (FAZ) und ein Auftritt von Edoardo Bennato (TA).
Archiv: Musik