Efeu - Die Kulturrundschau

Schön ungemütlich

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02.12.2021. Die Filmkritiker feiern mit Ridley Scott und Lady Gaga die ganz große Oper im "House of Gucci". Paul Verhoevens Alterswerk "Benedetta" über lesbische Nonnen überzeugt sie zumindest durch den Blick auf Plagen, Pest und Querdenker. Was wäre im deutschen Kino alles möglich gewesen, seufzt critic.de nach Georg Tresslers Horror- und Sexfilm "Sukkubus - Den Teufel im Leib" von 1989. In der Zeit fragt sich Mithu Sanyal: Was würde Simone de Beauvoir zu Transgender sagen? Die FR blickt mit Unbehagen in die ungeklärte Zukunft des Hamburger Bahnhofs. Und VAN spürt die humane Intelligenz des Fühlens im Werk von Peter Eötvös.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.12.2021 finden Sie hier

Film

Sieht cool aus, macht Spaß: Lady Gaga in "House of Gucci"


"Mein Gott, was macht dieser Film Spaß", ruft Perlentaucherin Katrin Doerksen nach Ridley Scotts "House of Gucci" mit Lady Gaga begeistert aus. Wer daran keine Freude hat - selber schuld! "Definitiv ist 'House of Gucci' auch kein Film über eine Modemarke. Von Anfang an geht Scott davon aus, dass wir eh wissen, worum es geht. Wovon erzählt wird, wer die Figuren sind und wohin ihr Weg sie führen wird. Spoiler sind völlig obsolet. Da braucht es keine ausführliche Exposition, die Aufgabe hat schon Gagas viraler Instapost erledigt. Der Sinn des Ganzen ist weniger denn je, was erzählt wird, als vielmehr: der Exzess, die Ereignishaftigkeit, die großen Namen, die dahin geworfenen cues, die zuverlässig Nostalgierezeptoren anfunken, das Potential für Memes, die große Oper." Mehr zum Film schreiben Jenni Zylka (taz), Jens Balzer (ZeitOnline), Jan Küveler (Welt) und Verena Lueken (FAZ).

Den Glaube ans kulturelle Tabu wird man so schnell nicht los: Paul Verhoevens "Benedetta"


André Malberg freut sich im Perlentaucher schon jetzt auf die Reaktionen der "Empörungsbereiten", wenn sie erstmal "Bendetta", Paul Verhoevens schon jetzt skandalumwitterten Film über lesbische Nonnen im 17. Jahrhundert, zu Gesicht bekommen haben, "gibt der Film doch einiges an Material her, das mit eigener Fantasie aufgeladen werden kann". Michael Meyns findet den Film in der taz vielleicht eine Spur zu berechnend und vor seinem mutmaßlich liberalen Publikum auch einfach etwas gratismutig. Angesichts der Skandalwerte drohe jedoch "ein überraschend zeitgemäßer Aspekt der Geschichte übersehen zu werden: der Fanatismus, den eine kaum zu bremsende Plage auslöst, die das Kloster und die es umgebende Stadt erfasst. Die Pest wütet und mit ihr Querdenker und falsche Propheten. Zumindest in dieser Hinsicht hat Paul Verhoeven den Finger am Puls der Zeit." SZ-Kritiker Philipp Stadelmaier sah "einen humorvollen Film über das Fleisch und den Glauben". Für Anina Valle Thiele von der Jungle World markiert dieser Film einen Tiefpunkt im Schaffen Verhoevens.

Ein weiter Weg bis "Toni Erdmann": Peter Simonischek in "Sukkubus"


Georg Tressler erneuerte in den späten Fünfzigern das BRD-Kino, dann stürzte er in den sündigen Morast der Bahnhofskinos. Jetzt liegt sein Querschläger "Sukkubus - Den Teufel im Leib" (Regieassistenz: Christoph Schlingensief!) von 1989 restauriert vor und verdeutlicht als Mischung aus Heimat-, Horror- und düsterem Sexflilm laut Robert Wagner (critic.de) noch einmal eindrucksvoll, "was im deutschen Kino alles möglich gewesen wäre". Tief in den Bergen terrorisiert ein "meist nackter Lustdämon" drei Alm-Kerle "mit Sex und Vernichtungswillen. "Die Natur der Männer scheint sich zu rächen, wie die Natur gegen die Zivilisation zurückschlägt. ... 'Sukkubus' pendelt zwischen der luftigen Weite wunderschöner Alpenlandschaften und der fiebrigen Enge der Berghütte. Zwischen Teufel und Gott. Zwischen Ernst und Jux. Zwischen Apollon und Dionysios", bleibt dabei aber "todernst. Die Schönheit der Alpen wird mit der gleichen Bildgewalt und Stilsicherheit eingefangen wie die Dämonengeschichte mit ihren Verweisen auf die Jämmerlichkeit der Menschen. Gerade weil keine Miene verzogen wird, ist er unfassbar absurd und witzig." Der Film "ist eher Unikum als Meisterwerk, über Strecken aber atmosphärisch sehr stark und schön ungemütlich", muss auch Ekkehard Knörer in der taz angesichts der bizarren Voraussetzungen des Films feststellen: "Es ist die Sorte auf faszinierende Weise anrüchiger Film, an die die 'Edition Deutsche Vita' von Subkultur Entertainment ihre ganze Liebe verschenkt."

Außerdem: Die Agenturen melden, dass die Dokumentarfilmerin Helga Reidemeister gestorben ist. Alec Baldwin behauptet nun, die tödliche Waffe bei den Dreharbeiten zu "Rust" nicht abgedrückt zu haben, melden ebenfalls die Agenturen.

Besprochen werden Bill und Turner Ross' nur vermeintlich dokumentarischer US-Kneipenfilm "Bloody Nose, Empty Pockets" (SZ) und die ARD-Serie "Ein Hauch von Amerika" (FAZ). Außerdem informieren uns die SZ-Kritiker, welche Kinofilme diese Woche sehenswert sind und welche nicht.

Archiv: Film

Literatur

Das Zeit-Feuilleton macht heute groß mit Simone de Beauvoir auf. Anlass ist ihr Roman "Die Unzertrennlichen" von 1954, den ihre Adoptivtochter Sylvie Le Bon de Beauvoir nun aus dem Nachlass herausgegeben hat. Iris Radisch widmet der "ersten Intellektuellen von Weltrang" ein umfassendes Porträt. Im Interview mit Radisch spricht Adoptivtochter Sylvie Le Bon de Beauvoir über ihr Verhältnis zur Beauvoir, deren Beziehung zu Sartre und erklärt, weshalb der Text so lange unveröffentlicht blieb: "Sie wollte nach den Mandarins von Paris zunächst keinen Roman mehr schreiben. Sie hat diesen Text dennoch geschrieben und ihn vollendet, ohne ihm einen Titel zu geben. Wir haben vor ihrem Tod darüber gesprochen, was ich damit machen soll. Es war völlig klar, dass der Text eines Tags erscheinen soll. Im Roman wird aus Zazas Blickwinkel erzählt. In den Memoiren einer Tochter aus gutem Hause erzählte sie dieselbe Geschichte aus ihrer Perspektive dann noch einmal. Das hat ihr besser gefallen. Aber sie hat den Roman aufgehoben."

Außerdem fragt sich die Autorin und Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal: Was würde Beauvoir heute zu Transgender sagen? "Beauvoir hielt das Ewigweibliche für eine Lüge: diese männliche Fantasie von der mütterlichen inspirierenden schönen Natur aller Frauen. Frauen aber, die sich dem Konzept des 'Ewigweiblichen' entziehen, wird vorgeworfen, keine 'echten Frauen' zu sein. Ich bin davon überzeugt, dass Beauvoir heute schreiben würde: Transfrauen wird vorgeworfen, keine 'echten Frauen' zu sein, weil sie sich dem Konzept des 'Ewigweiblichen' entziehen."

Außerdem: Krimis boomen in der Pandemie, schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel. In der SZ erzählt Thomas Steinfeld die Geschichte des Haffmanns-Verlags.

Besprochen werden unter anderem Maren Wursters "Papa stirbt, Mama auch" (taz), Alba de Céspedes' "Das verbotene Notizbuch" (Zeit), Carmen Maria Machados "Das Archiv der Träume" (Dlf Kultur), die Neuausgabe von Catherine Gores "Der Geldverleiher" aus dem Jahr 1842 (online nachgereicht von der FAZ), Manuele Fiors SF-Comic "Celestia" (Tsp), Aleksandar Hemons "Meine Eltern / Alles nicht dein Eigen" (NZZ) und ein rekonstruierte Fassung von Edgar Allan Poes "Die Erzählungen des Folio Club" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Bild: Edgar Arceneaux, Church for Sale, 2013, Sammlung Haubrok © Edgar Arceneaux 

In der FR spürt Ingeborg Ruthe das "Unbehagen", das angesichts der ungeklärten Zukunft des Hamburger Bahnhofs in der Luft liegt, auch in der Ausstellung "Church for Sale", die Gabriele Knapstein anlässlich des 25. Geburtstages des Hauses inszeniert hat: Etwa beim Anblick "der 2013er Bildserie von Edgar Arceneaux: Lauter gemalte Anzeigetafeln aus der vom finanziellen Bankrott bedrohten US-Stadt Detroit. Zum Verkauf angeboten werden Kirchen- und letztlich auch Gemeinschaftsräume. Gegenüber greift die von Arno Brandlhuber entworfene Ausstellungsarchitektur die Situation auf. Die Hallenwand ist versperrt mit Bauverschalungen. Metergenau markieren die grauen Platten die Baugrenze des Areals sowie die bisherigen Bebauungspläne des Immobilienkonzerns, welche die historische Bahnhofshalle von Norden nach Süden in zwei Teile zerschneidet. So steht die Frage im Raum: Welcher Platz bleibt der Kunst in der ungeklärten Zukunft des Museums?"

Ganz angetan kommt Tobias Timm in der Zeit aus der Ausstellung "Resist! Die Kunst des Widerstands" im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum. Dessen Direktorin Nanette Snoep drängt auf die schnelle Rückgabe kolonialer Raubkunst, in der Ausstellung werden vorerst "500 Jahre Kolonialgeschichte nicht aus der Perspektive der Eroberer erzählt, sondern aus der des Widerstands." In der Welt empfiehlt Tilman Krause indes einen Besuch in der Ausstellung "Making History. Hans Makart und die Salonmalerei des 19. Jahrhunderts" in der Hamburger Kunsthalle, die ihm zeigt, wie man mit "sexistischen" oder kolonialistischen Gemälden vorbildlich umgeht: "Das Verdienst dieser Neupräsentation ist, dass sie nicht beschönigen, nicht aufwerten oder rehabilitieren, sondern dokumentieren will. Sie setzt, was in diesen von Cancel Culture geprägten Zeiten mutig ist, den mündigen Betrachter, die mündige Betrachterin voraus."

Besprochen wird die Ausstellung "Nennt mich Rembrandt! Durchbruch in Amsterdam" im Frankfurter Städel-Museum (SZ) und die Ausstellung "Antoine Watteau. Kunst - Markt - Gewerbe" im Berliner Schloss Charlottenburg (FAZ)
Archiv: Kunst

Bühne

Szene aus "Anfang und Ende des Anthropozäns". Foto: Konrad Fersterer

Science Fiction schaut sich Christine Dössel (SZ) vorerst lieber weiterhin im Kino an, auch wenn sie Jens-Daniel Herzogs Inszenierung von Philipp Löhles Science-Fiction-Stück "Anfang und Ende des Anthropozäns" am Staatstheater Nürnberg inhaltlich einiges abgewinnen kann. Aber: "Ein großer, verschiebbarer Plastikrahmen in Bildschirmform, wie er in Nürnberg als multifunktionales Requisit für die Zukunftswelt dient, stinkt dagegen schon mal ab (Ausstattung: Mathias Neidhardt); auch wenn die fantasievolle Analogumsetzung prinzipiell einen besonderen Charme haben kann (könnte) und natürlich auch die Nürnberger mit Videoprojektionen (Karolin Killig) arbeiten. Aber es schaut doch immer ein wenig nach ambitioniertem Jugendtheater und Unterfinanzierung aus. Wo wir die Zukunft doch von Regisseuren wie Ridley Scott und Christopher Nolan viel hochwertiger kennen.

Für die taz besucht Judith Poppe den Zentralen Busbahnhof in Tel Aviv, "ein siebenstöckiges Monstrum aus Beton", in dem kulturelle Nischenprojekte untergekommen sind und das nun dichtgemacht werden soll: "Nitai Naman hat dort gemeinsam mit ihrem 2020 verstorbenen Vater professionelles Qualitätstheater aufgebaut und einen Treffpunkt für Anwohner. Kinder aus den umliegenden Vierteln, deren Eltern aus Äthiopien und Eritrea geflohen sind, erhalten hier die Möglichkeit, sich auszudrücken. Gefährdete Jugendliche aus der Nachbarschaft erlernen Bühnenberufe und nehmen an Empowerment-Workshops teil. 'Es passiert so viel Gutes hier', sagt die 57-jährige Theaterdirektorin und bricht in Tränen aus: 'Ich weiß nicht, ob wir das anderswo fortsetzen können.' Von der geplanten Schließung hat Nitai Naman erst aus den Medien erfahren. Niemand hat sie vorab informiert, sie hat keine schriftliche Kündigung erhalten."

Besprochen werden das Stück "Mère", das der frankolibanesische Autor, Theaterregisseur und Chef des Pariser Theatre de la Colline Wajdi Mouawads inszenierte und der kritisierte wurde, weil er den wegen Totschlags an seiner Freundin verurteilten ehemaligen Noir-Désir Sänger Bertrand Cantat für das Stück engagierte (Tagesspiegel), die Musical-Version der ZDF-Serie "Ku'damm 56" im Berliner Theater des Westens (Welt), Péter Eötvös' Oper "Sleepless" an der Berliner Staatsoper (Zeit) und Dmitri Tcherniakovs Inszenierung der "Elektra" von Richard Strauss in Hamburg (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Die Premiere von Péter Eötvös' neuer Oper "Sleepless" an der Komischen Oper Berlin (unser Resümee) nimmt Albrecht Thiemann in VAN zum Anlass für einen großen Essay über die Musik des ungarischen Komponisten. Dieser "scheint das Kantsche Konzept der ästhetischen Distanz eingeschrieben. Sie will bewegen, anrühren, Körper und Geist ansprechen, unmittelbar, mit intuitiv fasslichen Gesten. In ihr schwingt ein Grundvertrauen in die humane Intelligenz des Fühlens mit, jener schwankenden Kraft, die das höchste Glück wie tiefste Depression, entfesselte Kreativität wie totale Destruktion freisetzen kann. Und diese Ambivalenz wird nicht im Namen einer politischen Moral ausgeblendet, sie gehört zur Sache selbst. Vielleicht hallt hier Schillers zweifelnde Hoffnung auf die natürliche Güte des verstandesbegabt empfindenden Herzens nach." Hier ein von Eötvös dirigiertes Konzert des hr-Sinfonieorchesters:



Außerdem: Volker Hagedorn schlendert für VAN auf Debussys Spuren durch Paris. In der NMZ denkt Moritz Eggert darüber nach, wie man Neue Musik hört und warum Kontextwissen den Genuss dabei entscheidend mehrt. Konstantin Nowotny (Freitag), Cornelius Pollmer (SZ) und Christian Schachinger (Standard) beugen sich über die Musik, die Angela Merkel für ihren heutigen großen Zapfenstreich ausgewählt hat, darunter Nina Hagens "Farbfilm"-Song, dessen Text man problemlos als Schilderung einer Vergewaltigung deuten kann, was aber niemandem auffällt. Arno Lücker widmet sich in seiner VAN-Reihe über Komponistinnen in dieser Woche Ruth Gipps. Das Seattle Philharmonic Orchestra spielt deren zweite Sinfonie:



Besprochen werden die 70s-Soul-Hommage "An Evening with Silk Sonic" von Bruno Mars und Anderson Paak ("immer eine Spur zu brav und erwartbar", findet Karl Fluch im Standard) und eine Doku über die Hair-Metal-Band Mötley Crüe (Tsp).
Archiv: Musik