Efeu - Die Kulturrundschau

Die Entscheidungsbefugnisse und das Intendantengehalt

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21.12.2021. Große Trauer herrscht in den Feuilletons über den Tod von Klaus Wagenbach, dem großen Verleger, Kafka-Kenner und linken Hedonisten. In René Polleschs kollektiv geführter Volksbühne gelten nicht mehr die Regeln der Hierarchie, sondern des Clubs, erkennt die SZ: Wer drin ist, ist drin. Als schwarzen Abend mit Goldrand genießen FAZ und Tagesspiegel Wolfgang Rihms und Botho Strauß' Untergangsprophetie "Gebet der Hexe von Endor". Und die Jungle World stellt die Künstlerinnengruppe Erfurt vor.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.12.2021 finden Sie hier

Literatur

Klaus Wagenbach
Klaus Wagenbach, prägender Verleger nicht nur der alten BRD und leidenschaftlicher Träger roter Socken, ist gestorben. "Er war in vielerlei Hinsicht ein Ausgräber", erinnert sich sein enger Freund und Wegbegleiter Michael Krüger in der Welt und schwärmt dabei von Wagenbachs privatem Kafka-Archiv. Vor allem aber war Wagenbach "ohne Einschränkungen einer der bedeutendsten Verleger der Bundesrepublik und ein Vorbild für alle, die es nicht hinnehmen wollen, dass nur eine Handvoll von Konzernen den literarischen Geschmack bestimmen."

"Eine linke Haltung, verbunden mit sinnlicher Neugierde: darin liegt Wagenbachs Lebensleistung, und sie ist in Deutschland höchst ungewöhnlich", schreibt Helmut Böttiger in der taz. Wagenbachs Verlag zeigte "exemplarisch, dass gesellschaftspolitische Ambitionen nicht mit einer Hintanstellung ästhetischer Fragen einhergehen müssen." Und "Wagenbach strebte nach dem Bau der Mauer programmatisch ein gesamtdeutsches Profil an und verlegte mit Johannes Bobrowski einen Ausnahmelyriker aus der DDR. Er schmuggelte Wolf Biermanns Manuskripte und Tonbänder über die Grenze nach Westberlin, brachte aber auch Ingeborg Bachmanns fulminante Büchnerpreisrede heraus."

"Für die üblichen Konfektionsgrößen des Kulturbetriebs schien er nicht gemacht", hält Paul Jandl in der NZZ fest. In seinem Hause hatte "eine geistige Republik ihr Territorium, das so divers wie verschworen war. Es herrschte ein linker Hedonismus, der in der Enge der deutschen Bundesrepublik nicht alles so eng sehen wollte. ... Dass er 'Kafkas dienstälteste Witwe' sei, wird der Biograf später gerne sagen. Über ihn schreibend, hat Wagenbach Kafka aus den Höllen des Kafkaesken befreit und diese schwebende Jungfrau der Literatur wieder in einen Menschen zurückverzaubert." Willi Winkler würdigt Wagenbach in der SZ als großen Kafka-Forscher und linken Verleger, der auch die Schriften der RAF veröffentlichte und sich konspirativ mit Ulrike Meinhof traf. Weitere Nachrufe schreiben Franziska Augstein (FAZ) und Peter von Becker (Tsp).

Dlf Kultur hat hier und dort zwei große Radiogespräche aus seinem Fundus online gestellt. Ein weiteres großes Radiogespräch liefert der BR.

Weitere Artikel: Carmen Eller spricht für die NZZ mit dem Schriftsteller und Booker-Preisträger Douglas Stuart. Boris Motzki feiert in der FAZ die die französische Schriftstellerin Adeline Dieudonné, deren Texte "an Atemlosigkeit wie Trockenheit, an Witz, Lakonie und Melancholie kaum zu überbieten" sind.

Besprochen werden C. L. R. James' "Die schwarzen Jakobiner" (taz), Elizabeth Strouts "Oh, William!" (SZ), Louisa May Alcotts "Little Women - Beth und ihre Schwestern" (Jungle World), Tanja Kinzels "Im Fokus der Kamera. Fotografien aus dem Getto Lodz" (taz), ein Abend mit Max Goldt (FR) und Lukas Rietzschels "Raumfahrer" (FAZ).
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Bühne

Allmählich gehen Peter Laudenbach in der SZ die Vorwürfe gegen die Intendanten deutscher Bühnen zu weit, ihm drängt sich der Verdacht auf, dass Macht und Machtmissbrauch fast schon gleichgesetzt werden. Zumal es an der Volksbühne mit ihrem hierarchiefreien Gegenmodell unter René Pollesch, naja, eher nicht so gut läuft, wie er schreibt: "Wer Teil der angeblich kollektiven Leitung des Theaters ist, blieb lange Polleschs Geheimnis. Klar ist nur, dass er den Intendantenvertrag, die damit verbundenen formalen Entscheidungsbefugnisse und das Intendantengehalt hat. Vor Kurzem hat er gelüftet, wer zu den 'Träger:innen der Intendanz' gehört - unter anderem die Schauspieler Martin Wuttke und Kathrin Angerer, die sich in den ersten Pollesch-Inszenierungen gleich mal selbst besetzten. Weiter zählen die Musikkuratorin Marlene Engel, zwei Dramaturginnen, die Leiterin des Jugendtheaters, Vanessa Unzalu Troya, und der Bühnenbildner Leonard Neumann dazu, der am Haus bisher zwar nur ein einziges Bühnenbild zustande gebracht hat, aber immerhin der Sohn der Volksbühnenlegende Bert Neumann ist. 'Die da sind, sind da und werden gehört', erklärt Unzalu. In jedem konventionellen Leitungsgremium mit formalisierten Zuständigkeiten herrscht größere Transparenz als in diesem Buddy-Verein."

Samt und Pailletten in Paul Abrahams "Blume von Hawai". Foto: Jan Windszus / Komische Oper

An der Komischen Oper Berlin hat Barrie Kosky seine letzte Premiere gegeben, mit Paul Abrahams leicht abstruser Operette "Die Blume von Hawaii". Im Tagesspiegel bedankt sich Frederik Hansen bei dem Intendanten, der einem Genre kräftig die Staubschicht abgebürstet hat: "Überschäumende Lebenslust und heiße Jazz-Rhythmen, freche Dialoge, schlagfertige Gags, Schlagertexte voller Wortspielereien, das kennzeichnet die Erfolgsstücke der Zeit - die sich allesamt auch als Plädoyers für Toleranz jenen gegenüber lesen lassen, die abseits der Normen leben (wollen). Hinreißend komische, paillettenglitzernde, selbstironische Produktionen waren da zu erleben, Dostals 'Clivia' mit den Geschwistern Pfister, 'Die Perlen der Kleopatra' von Oscar Straus, Dagmar Manzel und Max Hopp als virtuoses Duo in sämtlichen Rollen von 'Eine Frau, die weiß, was sie will'...Schön war sie, die große Operettenreise durch die Weimarer Republik mit Barrie Kosky als leidenschaftlich kenntnisreichen Fremdenführer."

Besprochen werden Oliver Frljić' Kirchenstück "Das Himmelreich wollen wir schon selbst finden" am Schauspiel Köln (SZ), Anne Lenks Inszenierung von Kleist "Zerbrochnem Krug" am Deutschen Theater in Berlin (SZ, Tsp) und das Tanzstück "Giotto's Corridor" im Wiener Brut-Theater (Standard).
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Film

Die Frauenperspektive auf die mexikanische Drogenkatastrophe: "Noche de Fuego" (Netflix)

Wer auf Netflix gerne "Narcos: Mexico" gesehen hat, sollte sich bei dem Streamer unbedingt Tatiana Huezos Film "Noche de Fuego" nach dem Roman "Prayers for the Stolen" von Jennifer Clement zu Gemüte führen, rät der taz-Mexikokorrespondent Wolf-Dieter Vogel. Der Film zeigt "den Frauenalltag in einem mexikanischen Dorf, das vom Opiumanbau lebt: das Schweigen, die beängstigende Präsenz der Soldaten und die ständige Furcht davor, dass die Kriminellen ihre Töchter verschleppen. Im Gegensatz zu 'Narcos: Mexico' kommt 'Noche de Fuego' ohne brutale Gewaltexzesse aus - und beschreibt dabei viel besser, was die kriminelle Einheit aus korrupten Politikern, Militärs und Verbrechern aus diesem Land gemacht hat." 2016 besprach Perlentaucherin Thekla Dannenberg Huezos Dokumentarfilm "Tempestad" über die Lage der Frauen in Mexiko.

Außerdem: Andreas Busche empfiehlt im Tagesspiegel eine Reihe des Berliner Kino Arsenals mit Farbfilmen des japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu. Besprochen werden Adam McKays Netflixkomödie "Don't Look Up" (Standard), Andreas Koefoeds Dokumentarfilm "The Lost Leonardo" (ZeitOnline), der neue "Spider-Man"-Film (FAZ), die ARD-Serie "Legal Affairs" (FAZ) und eine ZDF-Neuverfilmung von Jules Vernes "In 80 Tagen um die Welt" (taz).
Archiv: Film

Kunst

Mal was Neues in der Zeitung: Monika Andres fotografiert von Claus Bach, 1988. Bild: Archiv Monika Andres


Wieso kennt eigentlich niemand die Künstlerinnengruppe Erfurt?, fragt Tanja Dückers in der Jungle World und empfiehlt dringend die Ausstellung in der neuen Gesellschaft für bildende Kunst in Berlin, die Fotografien, Performances und Manifeste ("gegen die führungsrolle des mannes / gegen die führer / gegen die rollen / gegen die bilder") zeigt: "Das von Gabriele Stötzer 1984 gegründete Frauenkollektiv verstand sich als einen genuinen Lebens- und Arbeitszusammenschluss, in dem schöpferisches Tun, prozesshaftes Experiment, Gesellschaftskritik und phantasievoller Protest eng miteinander verwoben werden sollten. Kunstprojekte, die auf Selbstheilung der Beteiligten zielen und 'Tagebuchcharakter' annehmen, kreisen oft nur um sich selbst und bleiben einflusslos; die Künstlerinnengruppe Erfurt hat jedoch nicht nur auf hohem künstlerischen Niveau gearbeitet, sondern hat auch die im Umfeld von Punk, Friedensbewegung und evangelischer Kirche entstandenen gegenkulturellen Strukturen in Erfurt genutzt und mitgeprägt. Das selbstverwaltete Kunsthaus Erfurt, das alle Umbrüche überstanden hat, gehört zum Erbe der Gruppe."

Weiteres: Im Tagesspiegel beschreibt Eva Karcher, wie sich mit den NFT-Investoren auch die Ästhetik des Krypto-Punks auf dem Kunstmarkt festsetzt.

Besprochen werden die Kunstausstellung "Inferno" zum Abschluss des Dante-Jahres in den Scuderie del Quirinale in Rom (SZ), die Filmskizzen von Federico Fellini im Folkwang Museum Essen (FAZ), Fotografien von Eberhard Fischer aus Westafrika und Indien im Museum Rietberg (NZZ) und Tanja Kinzels Band mit Fotografien aus dem Getto Lodz "Im Fokus der Kamera" (taz).
Archiv: Kunst

Musik

Die Sopranistin Anna Prohaska und der Cellist Nicolas Altstaed haben in Berlin Wolfgang Rihms Solokantate "Gebet der Hexe von Endor" (Text: Botho Strauß) uraufgeführt. Ergriffen berichtet Gerald Felber in der FAZ: "Vokal- wie Instrumentenstimme bewegten sich bis an die Grenze des physisch Machbaren, innerlich zerwühlt mit nur kurzen Ruheinseln, exaltiert in der Ausdrucksskala, aber verzweifelt echt in ihrem Sich-Abarbeiten an Gott und der Welt. Wenn die - um den Komponisten selbst zu zitieren - 'Jagden und Formen' gegen Ende am vielfach wiederholten, bis in eine brechreizende Tiefe hinabgewürgten Wort 'nicht' zerfallen und sich auflösen wie modrige Pilze, lässt das beklemmend wenig Luft und Hoffnung. Im Alten Testament war die Hexe von Endor eine Untergangsprophetin." Von einem "schwarzen Abend", aber "mit Goldrand", berichtet Eleonore Büning im Tagesspiegel: "Cello und Sopran agieren anfangs fast unabhängig voneinander, ein freier Kontrapunkt, ohne Devisen, ohne Echos. Sie reden verstörend an einander vorbei, in freiem Fall, extensivem Espressivo. Und finden am Ende zusammen in Verzweiflung, vor dem skandierten 'Nicht(s)'. Diesmal spricht auch nicht der Mensch (vielmehr: ein Mann) fordernd zur heiligen Frau, auf dem scheinbar sicheren Boden der Liturgie. Sondern die Frau betet selbst, in den leeren Himmel hinein, an dem die Sintflut tobt. Was, naturgemäß, endet in Sprachlosigkeit."

"Bestimmte deutsche Kinderlieder werden im schulischen Umfeld zum Mobbing und zur rassistischen Diskriminierung verwendet", schreibt der Musikethnologe Nepomuk Riva in der FAZ: Anders als sprachlich veraltete Kinderbüchern, die zur Auseinandersetzung im Stillen einladen, werden "Lieder dagegen in Gruppen angehört, gesungen oder vorgetragen." Es gehe um "das Erzeugen eines Gemeinschaftsgefühls", daher müsse "diskutiert werden, ob einige Lieder aufgrund ihres offensichtlichen Potenzials für diskriminierende Handlungen in Kindergarten und Schule weiterhin praktiziert werden sollten." Denn "seit einigen Jahren befinden sich vermehrt asiatische oder afrikanische Kinder in deutschen Kindergärten und Schulen. Lieder wie die 'Drei Chinesen' bieten sich nun dazu an, um mit ihnen exklusive Gruppenbildungen herzustellen, also Ausschlussverfahren zu betreiben, vor allem wenn sie durch das pädagogische Personal motiviert werden." An dieser und an jener Stelle schreibt Riva detaillierter über die entsprechenden Stücke und wie diese in Kinderliedbüchern präsentiert werden.

Außerdem: Für die taz porträtiert Andreas Hartmann den Berliner Musiker Alexander Winkelmann, der seine Lockdown-Retrospektive mit Platten der Neuen Deutschen Welle dafür genutzt hat, ein Album im selben Stil aufzunehmen. Besprochen werden der "Kick"-Zyklus von Arca ("es geht in diesem schrillen und maßlosen Werk offenbar einzig um die Manifestation ständiger Überlastung", stöhnt Christian Schachinger im Standard), ein neues Album von Cecilia Bartoli (NZZ) und neue Bach-Aufnahmen (SZ).
Archiv: Musik