Efeu - Die Kulturrundschau

Smartphones und Tarotkarten

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03.01.2022. Die FAZ erkundet im Hartware MedienKunstVerein in Dortmund den neuen technikaffinen Schamanismus. Beton hat seine poetische Seite, das Problem ist seine Systemrelevanz, lernt die SZ im Schweizerischen Architektumuseum in Basel. Die Welt staunt über die Harmonie von Christian Thielemann und Igor Levit beim ZDF-Neujahrskonzert. Im Standard wünscht sich Antje Rávik Strubel so lange Podcasts über das Geschlechterverhältnis, bis diese Kategorien überflüssig werden.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.01.2022 finden Sie hier

Kunst



Senegambischer Steinkreis: Tabita Rezaires "Mamelles Ancestrales". Foto: Jannis Wiebusch / HMKV

Sehr aufschlussreich findet FAZ-Kritiker Georg Imdahl die Schau "Technoschamanismus" des Dortmunder Hartware MedienKunstVereins , die ihn unter anderem lehrt, dass es bei der Spiritualität 4.0 nicht im individuelle Erleuchtung geht, sondern um globale Heilung und planetarische Umgestaltung: "Die Iranerin Moreshin Allahyari konfrontiert die Besucher, ebenfalls in Virtual Reality, mit weiblichen Dschinn-Figuren, die in einer Sure des Korans für paranormale Ereignisse verantwortlich gemacht werden. Anja Dornieden und David González Monroy spüren dem indonesischen wayang topeng nach, einem Schattenspiel zur Totenbeschwörung, das mit maskierten Affen zur Schau getragen wurde, bis es 2013 nach Protesten in Jakarta verboten wurde. Lycile Olympe Haute proklamiert in einem 'Cyberwitches-Manifesto' die Zusammenarbeit von Hexen und Hackern, die sich eigentlich eher fremd gegenüberstehen: 'Lasst uns Smartphones und Tarotkarten benutzen, um mit Geistern in Verbindung zu treten' und feministische Signale zu empfangen."

Catrin Lorch und Laura Weissmüller fordern in der SZ ein Umdenken in der Konzeption von Museen, die wieder städtischen Gesellschaften dienen sollten und Schwellenängste abbauen anstatt Touristenmassen anzulocken. Ikonische Entwürfe wie die von Frank Gehry in Bilbao oder Arles finden die beiden Autorinnen nicht mehr zeitgemäß: "Der Kunst sind solche gebauten Spektakel nicht zuträglich. Im MAXXI Museum in Rom dürfte so mancher Kurator daran verzweifeln, dass es dort kaum rechte Wände gibt, weil die Architektin Zaha Hadid dem Bau so derart schwungvolle Linien verordnet hat. In Arles sind die Ausstellungsräume ins Untergeschoss verbannt, was auch Amanda Levete in ihrem MAAT-Museum in Lissabon so handhabte. Dabei steht das Museum direkt am Ufer des Tejos. Der nahezu fensterlose Bau dürfte höchstens Kuratoren für Videokunst und lichtempfindliche Arbeiten glücklich machen. Wer sich nichts traut, landet zügig bei hermetisch geschlossenen Betonwürfeln wie dem Bauhaus-Museum in Weimar." Dazu stellen sie sechs erfolgreiche und beispielhafte Museen vor, vom Kunstmuseum in Sao Paulo bis zur Tate Modern in London.

Besprochen werden die Schau "Surrealism Beyond Borders" im Metropolitan Museum in New York (taz) und die Ausstellung in Venedig über den Stromlinienpionier Paul Jaray (NZZ, mehr dazu bereits hier).
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Architektur

Poesie des Beton. Bild: SAM

SZ-Kritikerin Kito Nedo lässt sich im Schweizerischen Architekturmuseum in Basel gern noch einmal die Geschichte des Betons erzählen, mit einer Hymne von Jean-Luc-Godard oder den Utopien von Walter Jonas. Die Schweizer Beton-Expertise wurde in den sechziger Jahren ein Exportschlager wie Uhren, Schokolade und Käse, lernt die Kritikerin, aber über seine mangelnde Umweltverträglichkeit erfährt sie wenig: "Aus der Systemrelevanz von Beton resultiert sein Dilemma. Beton kommt eine zentrale Rolle in der Versiegelung von Oberflächen oder der Begradigung, Kanalisierung und Stauung von Flussläufen zu. Zementwerke haben nicht nur einen hohen Kohlendioxid-Ausstoß. Weil in den letzten Jahren etwa in Deutschland zunehmend Kohle durch Haus- und Gewerbemüll ersetzt wurde, geben die Werke auch deutlich mehr Luftschadstoffe in die Umwelt ab. Und auch Zukunftsfragen werden nicht verhandelt, etwa die, welche Alternativen in eine Post-Stahlbeton-Ära führen könnten. Ist der Status Quo tatsächlich so alternativlos? Immerhin wird beispielsweise die bis Anfang der Achtziger gängige Schweizer Praxis dokumentiert, Fässer mit Atommüll in Beton zu gießen und anschließend im Nordatlantik zu versenken."
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Literatur

Der Standard hat sich mit der Schriftstellerin Antje Rávik Strubel zum Jahresbilanzgespräch getroffen. Auch um das Thema Geschlechterverhältnisse, denen sie mit ihrem aktuellen, mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman "Blaue Frau" auf den Grund geht, geht es, etwa im Zusammenhang mit Podcasts, die ausschließlich von Frauen verfasste Literatur besprechen: "Wir hatten hunderte Jahre nur Bücher von Männern. Ich finde das zulässig. Es wurde bisher immer noch nicht lange und häufig genug über Bücher von Schriftstellerinnen gesprochen. Noch sind wir nicht angekommen in einer Wirklichkeit, in der wir sagen könnten: Der Kanon ist ausgewogen. Wir sind noch unterwegs. Dazu gehört natürlich, dass es einen weiteren Podcast über die non-binäre Autorenschaft geben sollte, bis alle ebenbürtig wahrgenommen und diese Kategorien überflüssig werden."

Im Perlentaucher gratuliert Uta Ruge mit einem Essay der Dichterin Anne Duden zum 80. Geburtstag:  Ihre "Sprache funkelt wie ein schwarzer Diamant, ein Solitär. Wer in den vielfältigen literarischen Veranstaltungen unvorbereitet unterwegs ist, hält ihren Blick und Anblick kaum aus. ... Anne Dudens Leben ist immer wieder ein Herausfallen, ein Nicht-Zutreffen. Zerrissenheit und Unlebbarkeit sind bei ihr geblieben. Dichtung soll man nicht für nur Literatur halten. Sie ent- und verwirft Lebenslinien des Schreibens. Um das aber geht es beständig, auch wenn Pausen eintreten, und eine aus dem Schweigen schwer nur herauskommt."

Weitere Artikel: In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Marc Reichwein an Hermann Hesses Freude an der Sonne, die dem Schriftsteller einmal einen heftigen Sonnenbrand einbrachte. Die Comicexperten vom Tagesspiegel melden ihre aktuellen Lieblingscomics: Ganz besonders gut gefällt ihnen "Parallel" von Matthias Lehmann.

Besprochen werden unter anderem Christoph Peters' Reisebuch "Tage in Tokio" (taz), Albert Ostermaiers Lyrikband "Teer" (Dlf Kultur), Frank Schmolkes Comicadaption von Sebastian Fitzeks Thriller "Der Augensammler" (Tsp), Karen Ruoffs "Academia" (online nachgereicht von der FAZ) und neue Krimis, darunter Zhou Haohuis "18/4 - Der Hauptmann und der Mörder" (FAZ). Und für den Freitag räumt Erhard Schütz Bücher vom Nachttisch.

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hubert Spiegel über Michael Krügers "Herbstanfang":

"Stumm
stehen im Regen die Schafe.
Sie wissen alles über Disteln und Gras,
..."
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Film

Die legendäre Münchner Filmkritikerin Ponkie, bürgerlich Ilse Kümpfel-Schliekmann, ist gestorben. "Sie war geschätzt wie gefürchtet, und sogar Selbstbewusstseinsriesen wie der Produzent Bernd Eichinger gingen vor ihr in die Knie", schreibt Karl Forster in der SZ. Sie pflegte "eine unbestechliche Urteils- und Wortkraft, die mancher fürchtete und die manchen, zum Beispiel Herbert Achternbusch oder Rainer Werner Fassbinder, gegen die Mainstream-Apologeten wortgewaltig zu verteidigen half. Ponkie machte sich nie gemein mit der Szene und ihren Eitelkeiten."

Und auch "Golden Girl" Betty White ist wenige Wochen vor ihrem hundertsten Geburtstag gestorben. Sie wusste einfach wie man Fernsehen macht, schreibt Jenni Zylka in der taz, nämlich "freundlich, schlagfertig, ironisch". David Steinitz staunt in der SZ, wie subversiv die "Golden Girls" damals waren, denn die "Macher streiften Themen, die so gar nichts mit der jungen, heterosexuellen Zielgruppe gemein hatten, die die Werbekunden am liebsten adressierten: Homosexualität, Armut, Sex im Alter."

Außerdem: Adrian Lobe sorgt sich in der NZZ, dass Netflix und Konsorten nur noch per Algorithmus produzieren lassen. Im Tip empfiehlt Bert Rebhandl Filme des auf amerikanisches Indiekino spezialisierten Berliner Festivals "Unknown Pleasures". Außerdem resümiert Rebhandl in seinem Blog seine Filmsichtungen des letzten Monats.

Besprochen werden das "Harry Potter"-Special auf Sky (Welt, TA), die im Ersten gezeigte Thriller-Serie "Schneller als die Angst" (FAZ) und Leos Carax' Musical "Annette" (NZZ, mehr dazu bereits hier).
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Bühne

Steffi Hentschke blickt in der FAS auf die Zukunft des israelisch-arabischen Akko Theater Centers ein halbes Jahr nach dem schweren Brand. Besprochen wird Enis Macis Stück "Bataillon" am Wiener Schauspielhaus (Nachtkritik).
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Stichwörter: Maci, Enis

Musik

Mit Neujahrskonzerten ringsum wurde das neue Jahr 2022. Manuel Brug liefert in der Welt einen kursorischen Überblick, wo wer was gespielt hat (und welches Haus welchen Krankenstand hat) und kommt ausführlich auf das Konzert aus der Semperoper unter Christian Thielemann zu sprechen (hier beim ZDF): Diesere liefer zwar "seit Jahren mit seinen filmmusikalisch überstäubten Nummernfolgen zwar die originellsten Jahresendprogramme, doch leider tönt das immer unterprobt, es ist halt nicht Kapellenmetier; auch wenn zwischendurch das Salonorchester bessere Klangfigur macht. ... Und wie schon 2015 mit Lang Lang, brachte die Rhapsodie in Blue von Gershwin ein wenig frisches Jazz-Feeling in die morschen Kapellenknochen. Ungewöhnlich diesmal der Pianist: beim strengkonservativen Thielemann durfte ausgerechnet der grüne Hofmusikus Igor Levit präludieren, ganz brav im Frack."

Beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker unter Daniel Barenboim (nachzuhören bei BR Klassik) ging es für den Geschmack des Standard-Kritikers insbesondere "zu Beginn etwas reserviert" zu, aber immerhin "bei Ziehrers Nachtschwärmer-Walzer schwärmten die Philharmoniker hauchend von durchzechten Nächten." Sybill Mahlke bespricht im Tagesspiegel das Silvesterkonzert der Berliner Staatskapelle. In der FAZ bespricht Gerald Felber das Neujahrskonzert des RIAS-Kammerchors in der Berliner Philharmonie unter Justin Doyle. Bei Arte finden wir außerdem noch das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker.

Wie gut liefen eigentlich die ganzen Streams der großen Konzerthäuser während des Lockdowns? Und wie werden die Konzerthäuser in postpandemischen Zeiten diese handhaben? Mit diesem Erkenntnisinteresse wandte sich Roland H. Dippel von der NMZ an die Musikhäuser und erhielt, wenn überhaupt, eher magere über entschuldigende bis ausweichende Antworten. "Das lässt sich nur damit erklären, dass Klickzahlen und Einschaltquoten bei den meisten Orchestern weit hinter den Erwartungen zurückblieben. Mehrere Orchester- und Theaterleitungen gaben in anderen Kontexten als diese Befragung ein Missverhältnis zwischen den Einnahmen aus den Streamings im Vergleich zu den Kosten der Produktion und Medienkooperationen zu."

Außerdem: Im SWR2-Essay befasst sich Herbert Köhler mit "Hörraumkonstrukten in der Ambient Music". Georg Rüdiger berichtet in der NZZ von der nach einer abgesagten Tour wieder angespannteren finanziellen Lage des Freiburger Barockorchesters. Für die taz porträtiert Christian Werthschulte den Deutschrapper Kay Shanghai, der vor kurzem sein Coming-Out als schwul hatte. Der Generation derjenigen, die jetzt 20 werden, "erscheinen Materialismus und Postmaterialismus nicht mehr als Widerspruch", nimmt Zeit-Redakteur Lars Weinbrod aus dem neuen Album der Rapperin Badmómzjay als Erkenntnis mit. Michael Frank würdigt Patti Smith, die gerade ihren 75. Geburtstag feiern konnte, in einer "Langen Nacht" für den Dlf Kultur.

Besprochen werden Nikolai Okunews Studie "Red Metal" über Metal in der DDR (Freitag, bei Dlf Nova hielt der Historiker kürzlich auch einen Vortrag zum Thema) und der Band "Als ich wie ein Vogel war" mit Songtexten von Gerulf Pannach (FR).

Das Logbuch Suhrkamp bringt außerdem die 99. Folge von Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte":

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