Efeu - Die Kulturrundschau

Offen umarmte Paradoxien

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14.01.2022. Die FR hat die (männliche) Hilma Af Klint Berlins entdeckt: den Maler Helmut Zielke. SZ, nachtkritik und Standard amüsieren sich schmerzlos mit "Ach, Sisi" im Wiener Volkstheater. Die taz erliegt dem kratzigen Timbre von Lady Blackbird. Und: Die Filmkritiker trauern um Herbert Achternbusch, den freien Grantler und Buster Keaton des bayerischen Films. Und die Musikkritiker trauern um die wunderbare unverwechselbare Ronnie Spector.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.01.2022 finden Sie hier

Film

Ein großer Verlust: Herbert Achternbusch - Filmemacher, Schriftsteller, Künstler, anarchischer Individualist und der einzig legitime Erbe Karl Valentins - ist tot. Auf die große Geschichte um seine ketzerische Satire "Das Gespenst", in der Jesus in Bayern vom Holzkreuz herabsteigt und mit einer Schwester Oberin anbandelt, was einen Aufschrei der CSU zur Folge hatte, weshalb die Filmförderung in den frühen Achtzigern radikal umgestellt wurde, auf diese große Geschichte kommen alle Nachrufe zu sprechen.



Von Umarmungen hielt Achternbusch als freier Grantler nichts, schreibt Cosima Lutz in der Welt, aber viel von "offen umarmten Paradoxien" da diese "ja nur die Welt beschrieben und ihren surrealen Überbau. Das macht sein filmisches Werk bis heute so zeitlos-unmodern. ... Für jeden von Hitler getöteten Juden einen Schnaps zu trinken ('Das letzte Loch'), um sich anschließend in einen Vulkankrater zu stürzen, das ist höllische Buße und hyperkarnevaleske Kasperei zugleich. In 'Der Bierkampf' zieht Achterbusch als Polizist verkleidet pöbelnd übers Oktoberfest."



Achternbusch war auch ein Meister der Invektive, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel, "was sicher auch daran lag, dass seine im tiefsten Herzen liebevollen Verbalinjurien auf Bayrisch immer noch eine Spur beleidigender und fieser klangen." "Er war", schreibt Claudius Seidl in der FAZ, "gewissermaßen, ein Mack Sennett oder Buster Keaton des bayerischen Films: Zu Stummfilmzeiten hatte man die größten Spinner auf den Straßen eingesammelt und zu Drehbuchsitzungen eingeladen, damit nur ja keine narrative Logik die anarchistischen Gags verharmlose." Und für SZlerin Christine Dössel war Achternbusch "ein Heimatdichter im vogelwildesten, abstraktesten Sinn" und seine "Erzfeinde waren die Nazis, die katholische Kirche und die seinerzeit unter Franz Josef Strauß absolutistisch regierende CSU, der sein Anarcho-Witz gewaltig auf den Zeiger ging." Der Schriftsteller Friedrich Ani schreibt in der SZ ein Gedicht über Achternbusch. Willi Winkler erinnert sich in der SZ, wie er Achternbusch einmal in Rom bei einer Preisverleihung toben erlebte. Beim BR gibt es ein Archivgespräch zum Hören.

Weiteres: Im Standard spricht Pablo Larraín über seinen Lady-Di-Film "Spencer", der unseren Kritiker Patrick Holzapfel sehr verärgert hat: "eine avancierte Karnevalsveranstaltung", denn "alle verkleiden sich als irgendwer und zeigen wie dunkel es doch hinter den Vorhängen aussieht." Für die NZZ bespricht Marion Löhndorf den Film.

Besprochen werden der neue "Scream"-Film ("das Zurückrudern aus der halbgaren Echokammer des Vorgängers ist geglückt", freut sich Perlentaucher Robert Wagner), Ninja Thybergs pornobranchenkritischer Debütfilm "Pleasure" (Tsp), Joel Coens "Macbeth" (ZeitOnline), David Casademunts auf Netflix gezeigter Horrorfilm "The Wasteland" (SZ), die Arte-Serie "Vigil" (FAZ) und die Netflix-Realityshow "Hype House" (taz).
Archiv: Film

Musik

Ronnie Spector von den Ronettes ist tot. Niemand klang wie sie, erinnert sich Alexis Petridis in einem sehr schönen Nachruf im Guardian. "Ihre Stimme hat etwas, das man sofort erkennt: eine Kombination aus Härte und Zärtlichkeit, ein markantes Vibrato, eine rohe, ungeschulte Kraft. Egal wie dicht und unnachgiebig die Arrangements von Phil Spector waren, Ronnie Spectors Stimme kam immer durch. Selbst Tina Turner klingt, als würde sie mit den vielen Instrumenten auf 'River Deep Mountain High' um Platz kämpfen, aber hören Sie sich 'Is This What I Get for Loving You?' oder 'I Wish I Never Saw the Sunshine' von den Ronettes an - Singles, die im Schatten ihrer größten Hits 'Be My Baby' und 'Baby, I Love You' stehen - aufgenommen in den Jahren 1965 und 1966, als Spectors Produktionsstil zunehmend übertrieben wurde. Selbst wenn 'I Wish I Never Saw the Sunshine' seinen emotionalen Höhepunkt erreicht - der Moment kurz vor dem Refrain, wenn das Schlagzeug einsetzt - kann man, metaphorisch gesprochen, die Augen nicht von Ronnie Spector abwenden. Alles andere ist ein (zugegebenermaßen ausgeklügelter) Hintergrund für ihre gequälten Schreie von 'Oh Baby!'"

Jakob Biazza von der SZ mag kaum glauben, wie sehr ihr größter Hit "Be My Baby" auch heute noch umhaut: "Man umarme das Schlagzeug-Intro, dieses schwer hingetupfte 'Boom - boom, boom, tschak', und die so meisterlich drumherum gebaute Produktion, die den Chören und dem Text die Zuckerwattensüße austreibt. Irres Spannungsfeld. Song für die Ewigkeit. Nicht einmal der 'Dirty Dancing'-Soundtrack konnte ihn wirklich verwüsten." Spectors Songs, das waren "süße, traurige Jugendfantasien, das schon. Aber dunkel koloriert. Und unnachahmlich direkt. Spector sei 'die Stimme von Millionen Teenagerträumen, meine eingeschlossen', schrieb die Sängerin Diane Warren ins digitale Kondolenzbuch." Diese Popklassiker waren "Mini-Melodramen, welche die Ronettes mit der für sie typischen Mischung aus Ernst und Unschuld, dabei seltsam distanziert vortrugen", schreibt Edo Reents in der FAZ.



"Black Acid Soul", so ein Albumtitel lässt Retro vermuten, aber damit hat Lady Blackbird nichts am Hut, versichert uns Dagmar Leischow in der taz. "Ihr Timbre klingt kratzig", aber warm, "viel Beiwerk zum Stimmenzauber braucht es nicht. ... Meistens fungieren die Instrumente als spartanische Klangkulissen, damit sich der gefühlsbetonte Gesang von Lady Blackbird maximal entfalten kann. Einzig der Titelsong tanzt ein bisschen aus der Reihe. Auf einmal dehnt sich das Instrumentalbett raumgreifend aus, ein flirrender Bass verpasst dem Sound größere Flügel, die Orgel jault schräg. Das wirkt schon unheimlich, beinahe surreal." Und auf jeden Fall in seiner Epik sehr faszinierend:  



Außerdem: In der NZZ stellt Ueli Bernays das Trio Mandili vor. Besprochen werden ein Tschaikowsky-Abend mit Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern (Tsp) und Earl Sweatshirts "Sick" ("Auch wenn in Sweatshirts Reimen aus jeder Gangstatrope ein Wortspiel wird, steckt darin trotzdem so etwas wie autobiografische Wahrhaftigkeit", schreibt Christian Werthschulte in der taz). Im Artsjournal schreibt James R. Hagerty einen Nachruf auf den großen Musikkritiker Terry Teachout, der im Alter von nur 65 Jahren gestorben ist - wir haben ihn in der Magazinrundschau oft zitiert.
Archiv: Musik

Kunst

Helmut Zielke, Ohne Titel, 1981. Foto courtesy Galerie Läkemäker


Besuchen Sie die Berliner Galerie Läkemäker und entdecken Sie die (männliche) Hilma Af Klint Berlins: den Maler Helmut Zielke, ruft in der FR Ingeborg Ruthe, ganz aus dem Häuschen über ihre Entdeckung. "Es ist kaum zu fassen, dass Helmut Zielke derart in Vergessenheit geriet. Was er malte und zeichnete, blieb zu Unrecht tief im Schatten des Kunstbetriebs. Erst in jenem vormundschaftlich- staatlichen, auf Realismus getrimmten der DDR, dann, nach 1990, im kommerzialisierten sowie weitgehend von westlicher und internationaler Kunst geprägten der Bundesrepublik. Was der gelernte Kartograf und Bühnenmaler mit Öl- oder Aquarellfarbe, mit Farbstiften, Tusche, per Fotomontage oder Collage auf Leinwand und Papier setzte, ist keiner Schule, keinem Land, keiner Region zuzuordnen. Alles kam aus einer ganz eigenen Welt: Farblabyrinthe, frei und keinem Trend verpflichtet."

Die Vorwürfe des Zeit-Redakteurs Thomas E. Schmidt gegen die Documenta und ein palästinesisches Künstlerkollektiv, das in Kassel teilnehmen soll (unser Resümee), sind haltlos, schreibt Elke Buhr bei Monopol. Das von Schmidt kritisierte Kollektiv benenne sich nicht mal nach dem längst verstorbenen Nazifreund Khalil al-Sakakini, sondern benutze nur die Räume eins Kulturzentrums, das nach ihm benannt ist. Buhr warnt auch davor, eine neue BDS-Debatte zu führen: "Man wird die 'Documenta Fifteen' auf viele Weisen kritisieren können. Aber eines ist klar: Es macht keinen Sinn, dieses Ausstellungsprojekt in die Niederungen der hiesigen BDS-Debatte hineinzuziehen, die längst den Charakter eines Kulturkampfes gegen die 'identitäre Linke' angenommen hat. Es gilt für jedes internationale Ausstellungsprojekt: Sobald man Künstlerinnen und Künstler mit Verbindungen zur arabischen Welt oder zum globalen Süden einlädt, wird man auf Menschen treffen, die eine andere Haltung zum BDS haben als es die offiziellen Leitlinien bundesdeutscher Politik vorsehen."

Stefan Trinks (FAZ) würde das wohl als Verharmlosung bezeichnen. Das palästinensische Khalil al-Sakakini Cultural Center (KSCC) habe den antiisraelischen BDS wiederholt unterstützt, "was beim Namensgeber des Kulturzentrums, Khalil al-Sakakini, nicht verwundert - der Pädagoge und palästinensische Nationalist war in den Dreißiger- und Vierzigerjahren Sympathisant Hitlers und Verbreiter jüdischer Weltverschwörungstheorien. Auch einer der Beiräte des KSCC, Yazan Khalili, fiel mit der Äußerung auf, man solle nicht nur die Ziele des BDS verfolgen und die Palästinenser befreien, vielmehr müsse man noch darüber hinausgehen und auch die Juden vom jüdischen Staat befreien, werde ihnen doch ebenfalls eine falsche Identität aufgezwungen. Derlei Argumentationen besitzen etwas von goebbelsscher Dialektik. Im Versuch einer Ausweitung der Kampfzone scheint hier tatsächlich die Aufforderung Willy Brandts, mehr Demokratie zu wagen, in ein perverses 'mehr Antisemitismus wagen' umgemünzt."

In der Welt untersucht Dorothea Zwirner anhand zahlreicher Ausstellungen von Künstlerinnen, ob es in deutschen Museen jetzt tatsächlich mehr Gleichberechtigung gibt. Besprochen wird außerdem die Georg-Baselitz-Retrospektive im Centre Pompidou (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Ach, Sisi. Foto: Marcel Urlaub/Volkstheater
Ganz gegen alle Erwartungen erlebte SZ-Kritikerin Cathrin Kahlweit einen "wunderbaren Abend" bei der "Ach, Sisi"-Premiere im Wiener Volkstheater. "Komisch, grotesk, schräg, laut, wirr, klug, politisch, dämlich. Im Publikum wechseln sich die längste Zeit tosendes Gelächter und einzelne Kicherer ab. Er dürfte, und das hat vor allem das großartige Ensemble verdient, ein Renner werden." Nur einige der 99 Szenen von Rainald Grebe hätte sie gekürzt. Pfiffig fand auch Margarete Affenzeller (Standard) den Abend: "Das Grundkonzept der Inszenierung ist simpel: Während auf einer großen Bühne eine kitschige 'Sissi'-Tournee-Show abläuft, blickt das Volkstheater-Publikum auf deren Rückseite und nimmt backstage, wo ein vom vielen 'Sissi'-Geflüster schon leicht derangierter Inspizient (Uwe Schmieder) vor einem bunt leuchtenden Pult seinen Dienst versieht, die kritische Perspektive ein. Und wird der unschönen Seiten im Leben Elisabeths gewahr, des Untergangs der Habsburger und der Eigenheiten der Residenzstadt Wien." Nachtkritikerin Gabi Hift staunt: "Verschiedene verschrobene Figuren und merkwürdige Denkweisen nähern sich vorsichtig aneinander an und tanzen wieder auseinander. Hier wird niemandem weh getan - und auf einmal kommt es mir merkwürdig vor, dass 'Theater, das niemandem weh tut' meist als Beschimpfung gemeint ist. Hier ist es eine Qualität."

Weiteres: In der NZZ schreibt Clemens Klünemann zum 400. Geburtstag von Molière. Judith von Sternberg unterhält sich für die FR mit dem Bariton Johannes Kränzle über Werdegang und Rollen. Besprochen werden noch Helgard Haugs Inzenierung "Chinchilla Arschloch, waswas" am Potsdamer Hans Otto Theater (Tsp) und Bastian Krafts Adaption von Thomas Manns Novelle "Der Tod in Venedig" für das Thalia Theater in Hamburg (taz).
Archiv: Bühne

Literatur

Der Schriftsteller und Philosoph Alexander Graeff nimmt sich in einem großen FR-Essay nochmal Walter Kempowskis "Hundstage" zur Brust, der seiner Ansicht nach viel zu willfährig mit dem Thema Pädophilie umgeht und trotz satirischer Überhöhung sein Sujet eher fasziniert beobachtet als dazu Stellung zu nehmen - für Graeff ein fast schon typisches Topos, wenn es in der Literatur um sexuelle Übergriffe und Frauenfeindlichkeit geht. "Grundsätzlich ist das Thema, dargestellt als Problem sozialer Machtverhältnisse, ethisch, moralisch, kulturell und juristisch durchaus etwas, was man in der Literatur verhandeln kann und sollte. Die Frage ist nur, wie sich Autor:in, Figuren und die Sprache selbst zum Thema positionieren. Das ist ein politischer Akt des Schreibens mit den Mitteln belletristischer Unterhaltung." Wobei Graeff auch klarstellt: "Literatur muss auch cis-männliche Weltwahrnehmung verhandeln, weil Feminismus ohne Männer genauso wenig inklusiv ist wie die männliche Perspektive als Standard zu erklären. Und Männer müssen auch auf Männer schauen, die über Männer schreiben."

Außerdem: Lukas Betzler widmet sich in einem großen Essay auf 54books dem Schriftsteller Franz Fühmann, der vor 100 Jahren geboren wurde. Und ein Hinweis: Das Übersetzerportal Babelwerk, das wir an dieser Stelle bereits angekündigt hatten, ist nun online gegangen. Frei zu lesen ist nun auch Olga Radetzkajas Essay, den wir vor einigen Tagen aus der FAZ zitiert haben.

Besprochen werden unter anderem Hervé Le Telliers "Die Anomalie" (Standard), Guy Sterns "Wir sind nur noch wenige. Erinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys" (taz), Riccardo Federicis Horror-Fantasy-Comic "Saria" (Tsp)  sowie Marchella Wards und Sander Bergs illustrierte "Reise durch die griechische Mythologie" (SZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Im Dörfchen Saaleck soll eine neue Designakademie ansiedeln - und zwar genau dort, wo der Nazi-Architekt Paul Schultze-Naumburg eine Anlage mit Villa, Werkstätten und weiteren Nebengebäuden errichtet hatte, erzählt Ulf Meyer in der FAZ. Renoviert und "behutsam umgestaltet" werden sollen sie von der dänischen Architektin Dorte Mandrup. "Die Stiftung des Berliner Kunstsammlers und Mäzens Egidio Marzona hat 2018 das Ensemble erworben, ein Stiftungsvermögen steht darüber hinaus aber nicht zur Verfügung. Marzona hatte keine Angst vor dem unbequemen Denkmal, aus dem er 'einen Ort der Freiheit, Wachheit und Grenzenlosigkeit' machen will. Dazu passt, dass Mandrup ihre Architektur als 'change agent' betrachtet, also als Träger eines Wandels. Im Falle des Ensembles unterhalb der Burg Saaleck im hintersten Zipfel von Sachsen-Anhalt ist dies angesichts der Geschichte keine kleine Anforderung. Die Ausstellung zum Leben und Wirken von Schultze-Naumburg wird in dem ehemaligen Hühnerstall eingerichtet, der sich mit einer Glas-Holzfassade zum Garten hin öffnet."

Ulf Meyer besucht für die NZZ das neue, von dem japanischen Architekten Kengo Kuma erbaute H. C. Andersen-Museum im dänischen Odense und ist beeindruckt: "Nur fünf hölzerne Pavillons ragen über die grüne Nullebene des Andersen-Museums hinaus. Das Museum sei eine 'landscape' statt einer 'landmark', so Kuma. Belichtet wird die unter das Terrain gelegte Ausstellungshalle über einen eingeschnittenen, versunkenen Garten. Wie ein verwunschener Hortus conclusus lässt er die Besucher in Andersens Welt abtauchen: Die Grenzen zwischen innen und außen, Realität und Phantasie sowie dem Alltäglichen und seiner Überhöhung verschwimmen. Diese Ambiguität ist die größte Stärke des biophilen Entwurfs aus Tokio."
Archiv: Architektur