Efeu - Die Kulturrundschau

Nie unter Überdruck

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18.01.2022. Der Observer findet mit der italienischen Nachkriegsmalerin Bice Lazzari wieder Interesse an der Abstraktion. Die taz lernt mit Unbehagen von Oleg Senzows Film "Rhino", welche Grenzen Fuilme über Rechtsextremismus nicht überschreiten sollten. Die SZ möchte sich lieber nicht von Adam McKays gefeierter Apokalypse-Satire "Don't Look Up" bestätigen lassen. Die Welt betrachtet das neue Genre des Brexit-Kinos.  FAZ und FR schmelzen unter Arnold Schönbergs Klängen in der Frankfurter Oper dahin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.01.2022 finden Sie hier

Film

Jens Uthoff berichtet in der taz von Recherchen zu Oleg Senzows "Rhino" über die mafiöse und rechtsextreme Gewalt in der Ukraine der Neunzigerjahre. Nun kam heraus: Sein Hauptdarsteller ist selbst jahrzehntelange in der rechtsextreme Szene unterwegs gewesen und ist dort, allen Beteuerungen zu Trotz, offenbar immer noch umtriebig. Das Medienboard Berlin-Brandenburg, das einen Zuschuss zur Produktion geleistet hat, versteckt sich hinter der "künstlerischen Freiheit" und dass der Film ja Stellung gegen rechte Gewalt beziehe. Dieser "ist ein vor Gewalt strotzender, zeitweise schwer erträglicher Film, aber genauso wollte Senzow die Grausamkeit, die sich damals freigesetzt hat, auch abbilden. Dagegen ist nichts einzuwenden. ... Doch für die Filmarbeit und die Branche sollte 'Rhino' ein Exempel sein, welche Grenzen man im Bemühen um Authentizität niemals überschreiten sollte. Und ein kleines bisschen weniger Naivität sowie ein kleines bisschen mehr Wachsamkeit wäre aufseiten der europäischen und internationalen Produzenten, gelinde gesagt, wünschenswert."

Mit keinem guten Gefühl beobachtet Nele Pollatschek von der SZ, wie Adam McKays immens erfolgreiche und insbesondere auf Social Media gefeierte Apokalypse-Satire "Don't Look Up" das Verhältnis zwischen aufrechter Wissenschaft, klickgeiler Medienöffentlichkeit, aufgebrachtem Publikum und populistischer Politik zuspitzt und dies als Dienst an der Aufklärung verkauft. "Das sind richtige Beobachtungen, nur dass Beobachtungen, egal wie richtig sie erscheinen, eben nie neutral sind", weil sie anfällig für Bestätigungsfehler sind. ... Wenn die Beobachtung ist, dass es ein Wir gibt, was alles ablehnt, was die wollen, weil es die (Wissenschaftler, Experten und so weiter) für abgehoben und fremd hält, dann verfestigt das genau dieses fatale Lagerdenken."

Das britische Kino hat sich insbesondere seit dem Brexit-Beschluss auffallend häufig dem Zweiten Weltkrieg zugewandt, ist Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek aufgefallen. Mittlerweile lasse sich der Krieg aus britischer Perspektive nahezu nahtlos anhand von Gegenwartsfilmen nachvollziehen, die "die Verteidigung der Insel feiern". In diesen "Brexit-Filmen geht es um das Selbstbildnis eines Landes, das sich angesichts einer ungewissen Zukunft an seiner rühmlichen Vergangenheit vergewissert, der letzten glorreichen Phase des Weltreichs. Dafür wird Sir Winston wieder und wieder aus dem Grab geholt, und er darf fluchen wie ein Bierkutscher und herumtrotzen wie ein Kind und Whisky saufen und Zigarre schmauchen."
Archiv: Film

Kunst

Bice Lazzari: Acrilico Numero 5, 1975. Bild: Estorick Collection


Eine fantastische Entdeckung macht Rachel Cooke im Observer mit der italienischen Nachrkriegsmalerin Bice Lazzari, deren Bilder in der Estorick Collection in London gezeigt werden: "Was für eine Ausstellung! Eigentlich bin ich im Lauf der Jahre der Abstraktion ziemlich überdrüssig geworden; was auch immer sie anfangs bedeutet haben mag, sie scheint mir zunehmend veraltet zu sein. Doch hier ist Lazzari, die noch einmal die Abstraktion stark macht. Aus der inneren oder äußeren Zwietracht schafft sie eine so exquisite Harmonie, dass ihr Werk in manchen Momenten fast zu vibrieren scheint. So stark es auch die 'dunklen Kräfte' anklingen lässt, die sie als Künstlerin antrieben - Urinstinkte, die selbst gegen Ende ihres Lebens, als sie ihr Augenlicht verlor, nicht nachließen -, so tief und nachhaltig ist es auch in seiner Ruhe. Völlig in ihren Bann geschlagen, sah ich ihre Bilder als Antworten auf Fragen, von denen ich nicht wusste, dass sie überhaupt gestellt worden waren."

In der SZ nimmt Till Briegleb die Anwürfe, die ein Kasseler Antifa-Blog anonym gegen die Documenta 15 und das Kuratorenkollektiv Ruangrupa erhebt, nicht ernst. Viel zu pauschal, schlecht recherchiert und gestrig findet er die Antisemitismusvorwürfe: "Das Programm zu Themen wie Kolonialismus, Klimagerechtigkeit und Wachstumsfolgen, das Ruangrupa für Kassel entwickelt haben, verzichtet genau auf diese fragwürdigen Schablonen moralischer Schlagworte, mit denen sie hier konfrontiert werden. Das garantiert nicht, dass die Documenta 15 ein Erfolg wird. Aber würde sie mit den pauschalisierenden Denkweisen ihrer Kritiker gestaltet, wäre das wohl der Tod der Schau."

Wie der Standard meldet, hat Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle als Aufsichtsratsvorsitzender der documenta Ruangrupa gegen die Vorwürfe verteidigt und die Debatte als nicht sachlich bezeichnet. Die Jüdische Allgemeine bringt einen Bericht zum politischen Sachstand. In der FR kann sich Sandra Danicke indes immer noch kein Bild von der kommenden Documenta machen: "Zu befürchten ist allerdings, dass die Besucherinnen und Besucher in diesem Sommer in Kassel nicht allzuviel zu schauen bekommen. Dass man überall diskutiert und Workshops bildet, an denen man teilnehmen kann oder auch nicht." Laut Agenturmeldungen, etwa hier in der Jüdischen Allgemeinen, hat sich Bundeskulturministerin Claudia Roth Kontakt mit den Trägern der documenta, dem Bundesland Hessen und der Stadt Kassel aufgenommen, um die Vorwürfe zu klären.

Weiteres: In der NZZ geht Philipp Meier der Frage nach, welche Rolle die beiden Galeristen Fritz Nathan und Walter Feilchenfeldt im Kunsthandel während des Zweiten Weltkriegs allgemein und besonders für die Sammlung Bührle spielten.

Besprochen werden die Ausstellung "Labyrinth of Forms: Women and Abstraction, 1930-1950" im New Yorker Whitney Museum (taz) und eine Ausstellung des Malers Johann Baptist Kirner im Freiburger Augustinermuseum (FAZ).

Archiv: Kunst

Bühne

Arnold Schönbergs "Warten auf morgen". Foto: Barbara Aumüller / Oper Frankfurt

Gewagt und überraschend gelungen findet Jan Brachmann in der FAZ, wie David Hermann an der Frankfurter Oper Arnold Schönbergs Einakter "Von heute auf morgen" über eine zerrüttete Ehe erweitert und mit Hilfe der "Erwartung" und Frank Martins "Jedermann"-Monologen ins Tragische wendet: "Schon dass der Einakter am Anfang glücken würde, war nicht abzusehen. So geschliffen und amüsant Gertrud Schönbergs Libretto auch ist, so verklemmt und pointenfrei wirkt die streng zwölftönige Musik ihres Mannes dazu ... Dass Schönbergs frei atonales, strömend schönes Monodram 'Erwartung' - in dem eigentlich eine junge Frau bei einer nächtlichen Verabredung im Park auf die Leiche ihres Geliebten stößt - nun als schlüssige Fortsetzung der 'Jedermann'-Monologe funktioniert, ist die größte Überraschung des Abends. Die Frau aus 'Von heute auf morgen', nun alt geworden, kehrt in das Haus ihrer Ehe zurück, sehnt sich - genauso einsam wie er durch die Trümmer ihrer erstrittenen Freiheit taumelnd - nach dem Mann, mit dem sie einst glücklich war, und findet nur noch seine Leiche."

In der SZ ist Michael Stallknecht mehr noch davon beeindruckt, wie zart Dirigent Alexander Soddy das alles musikalisch umsetzt: "Der Bariton Johannes Martin Kränzle verleiht Martins Klage enorme Eindringlichkeit, lotet mittels expressiver Textdeutung das Spektrum zwischen Angst und Todessehnsucht, Aufbäumen und Schicksalsergebenheit aus. Nicht minder beeindruckt die Sopranistin Camilla Nylund, die angesichts der dramatischen Anforderungen von Schönbergs Monodram nie unter Überdruck gerät, sondern die Gefühlsumschwünge mit reicher, weich ausgesungener Farbpalette nachzeichnet." FR-Kritikerin Judith von Sternburg zeigt sich bewegt: "Schlimm ist die unerbittliche Vergänglichkeit, die Schwierigkeit zusammenzusein, das Drama der Trennung und Einsamkeit. Wie konnten sie so achtlos sein?"

Ein bisschen entmutigt kommt taz-Kritikerin Sabine Leucht aus Mannheim zurück, wo ihr Gernot Grünewalds Projekt "2027 - Die Zeit, die bleibt" den Klimawandel als doppeltes Dilemma zeigte: "Die Klimakrise ist omnipräsent - aber wird nur selten künstlerisch gewinnbringend erzählt.... Gernot Grünewald macht in Mannheim beides, dozieren und davon ablenken, dass er es tut. Er wechselt als gewiefter theatraler Projektentwickler wiederholt die Erzähl- und ästhetischen Modi, die Blickwinkel auf und den Abstand zum eigentlich gruselthrillertauglichen Stoff. Mal verblüfft einen das unverhohlene Pathos und Betroffenmachenwollen der in den Zuschauerraum gefeuerten Fragen, mal lernt man Neues, etwa über die nie gebaute CO2-Abscheideanlage, der das Mannheimer Großkraftwerk GKM seine Betriebsgenehmigung verdankt."

Besprochen werden die Wiederaufnahme von Jules Massenets "Werther" an der Wiener Staatsoper (Standard) und Mussorgskis "Boris Godunow" an der Wiener Volksoper (Standard).
Archiv: Bühne

Literatur

Vor ihrer Hamburger Lesung hat Mithu Sannyal mit der Nordausgabe der taz über ihren Roman "Identitti" gesprochen. Für die Welt hat Marko Martin die Schriftstellerin Radka Denemarková in Prag besucht.

Besprochen werden unter anderem Gedichtbände von Philippe Jaccottet und Fabio Pusterla (NZZ), Ayelet Gundar-Goshens "Wo der Wolf lauert" (SZ), Banines "Kaukasische Tage" (SZ), David Chariandys "Francis" (SZ), Martin Mittelmeiers "Freiheit und Finsternis" über die Entstehung der "Dialektik der Aufklärung" (SZ) und eine Neuausgabe von Susan Taubes "Nach Amerika und zurück im Sarg" aus dem Jahr 1969 (FAZ).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Denemarkova, Radka

Musik

Als Cembalist ist Maxim Emelyanychev bei Teodor Currentzis in die Lehre gegangen, seit zwei Jahren dirigiert der 34-Jährige das Scottish Chamber Orchestra, nun stand er erstmals dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin vor. Das Programm verließ sich zwar auf Bewährtes aus dem Repertoire, stellt FAZ-Kritiker Clemens Haustein fest, doch "der Intensitätsgrad und die Dringlichkeit der Vergegenwärtigung" waren exzellent. "Mitreißend ist nicht nur die Energie, die der vor innerer Vibration fast Berstende um sich verbreitet, mitreißend ist ebenso die Wachheit, mit der er Partituren liest." Auch Tsp-Kritikerin Sybill Mahlke war von diesem Debüt begeistert. Nachhören kann man das Konzert beim Dlf Kultur.

Außerdem: In der NZZ porträtiert Thomas Schacher die Violinistin Vilde Frang. Im Standard stellt Karl Fluch Ese Gorrix vor, der über seine Erfahrungen als mexikanischer Drogenpolizist rappt und daher stets mit schusssicherer Weste auf der Bühne steht.

Besprochen werden das Abschlusskonzert des Mendelssohn-Hochschulwettbewerbs (Tsp), ein Streamingkonzert von Dhafer Youssef mit der hr-Bigband (FR), neue Klassikveröffentlichungen, darunter neue Bachaufnahmen von Jean Rondeau und Filippo Gorini sowie eine aus den Achtzigern von Zoltán Kocsis (SZ), sowie das neue Album des Mainzer Straßenrappers OG Keemo, der zur Freude von FAZ-Kritiker Sebastian Eder kriminelle Gewalt nicht verherrlicht, sondern über deren Folgen rappt.

Archiv: Musik