Efeu - Die Kulturrundschau

Die geknickten Grashalme und zerknitterten Laken

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26.01.2022. Die FAZ labt sich im Prado an Triumph und Tragik in der spanischen Kunst des 19. Jahrhunderts. Der Guardian lässt sich gern von Francis Bacon manipulieren. Die SZ erkennt im Billig-Plastikstuhl Monobloc die Rache an der schmucklosen Moderne. Außerdem feiert die SZ Paul Thomas Anderson federleichte, nostalgische Liebeskomödie "Licorice Pizza", während die Jungle World darin vor allem männliche Projektionen sieht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.01.2022 finden Sie hier

Kunst

Francisco Pradilla y Ortiz: Johanna, die Wahnsinnge, 1877. Bild: Museo del Prado

In der spanischen Kunst gab es auch neben Goya noch ein 19. Jahrhundert, staunt Paul Ingendaay in der FAZ und kann sich gar nicht satt sehen an den Historienschinken, die der Prado aus dem Depot geholt hat: Heroismus! Triumph! Tragik! Groß findet er Antonio Gisberts Gemälde "Die Erschießung von Torrijos und seinen Kameraden am Strand von Málaga", das dem Helden des spanischen Liberalismus ein Denkmal setzt. Aber auch anderes: Genau gegenüber von Gisberts "Erschießung" hat der Prado die dramatische Szene mit Johanna der Wahnsinnigen platziert, die auf offener Heide mit wirrem Blick auf den Sarg ihres Geliebten starrt, der sie nicht wiederliebte, während das zahlreiche Geleit der Königin in der Kälte hockt und bibbert. Francisco Pradilla y Ortiz kam in seiner Malerei immer wieder auf das tragische Schicksal von 'Juana la Loca' zurück, doch wenn man nach dem perfekten Ausdruck von vornehmem Wahnsinn und romantischer Todessehnsucht Ausschau hält: Hier ist er. Eduardo Rosales, dem ein eigener Saal gewidmet ist, malte eine andere Königin: die allseits verehrte Isabella, die Katholische, die auf dem Sterbebett ihr Testament diktiert. Es ist - sehr spanisch - eine Szene von tiefem Ernst und hoher Feierlichkeit."

Francis Bacon, Head VI, 1949. Bild: Royal Academy

Francis Bacon war ein fantastischer Maler, aber auch ein großer Manipulator, stellt Adrian Searle im Guardian fest: Bacon genoss es, Betrachter anzulocken, um sie dann zu schockieren. Aber es funktioniert auch in der Schau "Man and Beast" in der Royal Academy in London, wie Searle meint: "In ihrer theatralischen Malerei, ihren flachen Ebenen und knorrigen Ausbrüchen sind Bacons Situationen und Verwicklungen absolut dramatisch. Und dann das Kreischen und Schreien der Tiere, die verletzlichen und verzerrten Körper, die geschleuderte Farbe, die angehaltenen Hochgeschwindigkeitsunschärfen, die geknickten Grashalme und die zerknitterten Laken. Manchmal ist es, als ob Bacons Gemälden alle Luft entzogen wurde, als bliebe ein hechelnder Hund irgendwo an einer ägyptischen Autobahn zurück, während im Hintergrund cartoonhafte Autos die Küstenstraße entlang rasen, und der Papst auf seinem Thron in seiner abgeschiedenen Einsamkeit nach Luft schnappt."

Besprochen werden der Bildband "The Petunia Carnage" des Fotografen Klaus Pichler über die Zerstörung einer Petuniensorte (FR), eine Ausstellung der Berliner Künstlerinnen Lotte Jacobi und Lotte Reiniger im Käthe-Kollwitz-Museum Berlin (Tsp), eine Ausstellung über den Naturfotografen Fred Koch in der Alfred Ehrhardt Stiftung in Berlin (BlZ), Martin Noëls Grafiken in der Albertina (Standard).
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Film

Nach der meisterlich filigranen Eleganz seines "Phantom Thread" kehrt Paul Thomas Anderson mit "Licorice Pizza" zur nostalgischen Liebeskomödie zurück und erzählt von einer Romanze mit Altersunterschied in den Siebzigern, schreibt Tobias Kniebe in der SZ voller Freude über diesen "federleichten" Film, dessen beiden Hauptdarsteller Cooper Hoffman, der Sohn von Philip Seymour Hoffman, und die Musikerin Alana Haim als Kinodebütanten die eigentliche Sensation darstellen: "Wenn solche Elemente erst einmal beisammen sind, kann Kino so einfach und verführerisch sein wie die Eröffnungsszene." Das Spiel der beiden, die sich umkreisen, aber nicht zusammen finden, "hält den Film in Bewegung. Andere Ereignisse passieren einfach. Saulustig etwa eine Episode während der großen Benzinkrise, als die Opec der Welt den Ölhahn abdreht, bis die kalifornischen Straßenkreuzer am Wegesrand stranden und ihre Besitzer sich um die letzte Gallone Sprit prügeln. David Bowie singt 'Life On Mars' dazu." Schon der Trailer des Films, in dem das Stück ebenfalls verwendet wird, ist ein kleines, mitreißendes und ziemlich komisches Kunststück:



Holger Heiland von der Jungle World erschrak derweil über das, was der Film in der Inszenierung von Körperlichkeit offenbar in ihm weckte: "Während Gary tatsächlich durchgehend juvenil plump gezeigt wird, muss Alana beständig die Projektionsfläche für erotisierte Männerwünsche abgeben. Kaum eine Szene zeigt sie anders als in kürzesten Röcken und enganliegenden Oberteilen, durch die sich ihre stets erigierten Brustwarzen abzeichnen."

Peter Kiefer und Peter Savodnik haben sich für die Welt in Hollywood umgehört, wo unter weißen Drehbuchautoren und Filmemachern die Sorge umgeht, dass sie unter die Räder einer exzessiven Diversity-Politik geraten könnten. Die meisten flüchten sich in den Konformismus. "Diejenigen, die sich nicht an die neue Orthodoxie hielten, hatten das Gefühl, dass es nicht nur für bestimmte Leute schwieriger wurde, Arbeit zu finden, sondern auch, dass eine bestimmte Art von Inhalten - kühnere, provokantere - nicht mehr produziert werden konnte. Sie hatten Angst vor dem, was passierte. Die Befürchtung, so ein prominenter Regisseur in einer Mail, ist, dass 'das Publikum aufhört, uns zu vertrauen. Sie bemerken, wie wir uns als Gemeinschaft zu einer Brezel verdrehen, um jeden Film so 'woke' wie möglich zu machen. ... Sie kommen zu dem Schluss, dass wir Geschichten erzählen, die in einem Fantasieland spielen.'"

Außerdem: Für den Filmdienst spricht Wolfgang Hamdorf mit dem Filmemacher Felix Moeller über dessen Arte-Doku "Jud Süß 2.0". Der Bundesverband Schauspiel wird in seinen Preiskategorien künftig nicht mehr nach männlichen und weiblichen Schauspielern unterscheiden, meldet Christine Dössel in der SZ. Einen Lacher aus China meldet der Tagesanzeiger: David Finchers Klassiker "Fight Club" wird dort jetzt mit einer Texttafel am Ende ausgeliefert, die unterstreicht, dass alle Übeltäter von der Polizei gefasst wurden.

Besprochen werden Terence Malicks auf Mubi gezeigter Natur-Essayfilm "Voyage of Time" (FR), die ZDF-Doku "Ganz normale Männer - Der 'vergessene Holocaust' (FAZ) und die ARD-Comedyserie "Das Begräbnis" (FAZ).
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Design

In Deutschland gehasst, in der Dritten Welt geschätzt: der Monobloc (Pier 53)

Buch, Film und Podcast: Gerhard Matzig staunt in der SZ darüber, wie "besessen" der Dokumentarfilmer Hauke Wendler vom Billig-Plastikstuhl-Design Monobloc ist, obwohl er ihn im Podcast mit "Stuhl. Weiß. Plastik. Scheiße" sehr eindeutig anmoderiert. Aber faszinierend ist das ikonische Ungetüm, dieser "im Schattenreich darbende Quasimodo unter den Möbeln" allemal: "Vielleicht muss man diesen Stuhl als späte Rache am Minimalismus deuten. Als Vergeltung für die Ornamentlosigkeit der Moderne. Der Monobloc sieht aus wie ein verkitschter Sonnenuntergang am Meer. Aus Plastik. ... So billig und daher auch so ubiquitär wurde aus dem Stuhl eine Ausgeburt des Schäbigen. Ramschware. Plunder. Tinnef. Der, das gehört zu den Pointen der Stilgeschichte, ursprünglich mondän sein sollte und daher als Pool-Zubehör mit schönen Menschen im kleinen Schwarzen oder im Smoking inszeniert wurde."

SZ-Kritiker Philipp Stadelmaier hat sich derweil Wendlers Film angesehen, der auch seine eigene Entstehung dokumentiert - denn auf sehr viel mehr als auf den schlechten Ruf des Stuhls stößt Wendler in Deutschland nicht. So bleibt ihm nur "zu beweisen, dass Menschen in anderen Teilen der Welt mehr Interesse an dem Monobloc haben als die Deutschen. Weil er für sie einen anderen Wert hat. Im Internet stößt Wendler auf Bilder aus Afrika, auf denen sich der Monobloc in ein fahrbares Gefährt verwandelt hat. ... Nehmt das, ihr deutschen Billigstuhl-Hasser. Hierzulande mag man außerhalb von Designmuseen voller Verachtung auf den Monobloc herabblicken, während die Leute im globalen Süden kreativ mit ihm umgehen und sogar Rollstühle mit ihm bauen."

Ziemlich begeistert kommt SZ-Kritikerin Isabel Pfaff von der Ausstellung "Cambio. Baum, Holz, Mensch" im Museum für Gestaltung Zürich nach Hause. Zusammengestellt hat die Ausstellung das italienische Duo Studio Formafantasma in enger Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und Experten. Nicht so sehr Design aus Holz steht im Mittelpunkt der Schau, vielmehr "dominiert der Rohstoff Holz in all den verschiedenen Stadien und Formen, die der Stoff vom Baum bis zum fertigen Produkt durchläuft. ... Die Installation namens '51 Jahre' versammelt Einweg-Holzprodukte - Paletten, Papier, Umzugskartons - , deren CO₂-Ausstoß im Wegwerffall so hoch ist, dass eine mitteleuropäische Kiefer 51 Jahre braucht, um die Emissionen wieder aufzunehmen." Doch "bei aller Informationsdichte, politischer Aufladung und fast pädagogischem Impetus verlieren Farresin und Trimarchi nie die Schönheit und Leichtigkeit aus den Augen. Die wenigen Objekte, die sie für 'Cambio' entworfen haben, sind schlanke, puristische Regale und Tische aus Fichte."

Besprochen wird die wiedereröffnete Ausstellung "Deutsches Design 1949 - 1989" im Lipsiusbau in Dresden (Tsp).
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Literatur

Matthias Heine (Welt) und Andreas Platthaus (FAZ) schreiben Nachrufe auf den französischen Comiczeichner Jean-Claude Mezières. Für die SZ spricht Julia Rothhaas mit Monika Helfer über deren neuen Roman "Löwenherz", mit dem die Schriftstellerin ihre Trilogie über ihre Familie abschließt.

Besprochen werden Hanya Yanagiharas "Zum Paradies" (taz), Liao Yiwus "Wuhan. Dokumentarroman" (NZZ), Can Xues "Liebe im neuen Jahrtausend" (ZeitOnline), Mieko Kawakamis "Heaven" (FR), die von Kurt Scharf und Ali Abdollahi herausgegebene Anthologie "Ein Dieb im Dunkeln starrt auf ein Gemälde" mit persischsprachiger Lyrik (taz), Xavier Dollos und Djibril Morissette-Phans Sachcomic "Die Geschichte der Science-Fiction" (Tsp), Martin Suters Roman "Einer von euch" über Bastian Schweinsteiger (NZZ, SZ) und Aharon Appelfelds "Sommernächte" (FAZ).
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Bühne

Ueli Bernays rechnet in der NZZ die stark eingebrochenen Besucherzahlen des Zürcher Schauspielhauses während der Pandemie durch, ohne daraus Schlüsse ziehen zu können.

Besprochen werden Thomas Freyers "Treuhandkriegspanorama" am Deutschen Nationaltheater Weimar (FAZ), Juli Zehs "Corpus Delicti" in Wiesbaden (das FR-Kritikerin Sylvia Staude aller Aktualität zum Trotz als "Debattenstück im zwar geistreich Formulierten, aber Abstrakten" verortet), das Musical "Miss Saigon" im Wiener Raimund Theater (Standard), Glucks "Orfeo ed Euridice" an der Komischen Oper Berlin (NMZ) und Giacomo Puccinis "Il Trittico" in Essen (NMZ)
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Musik

Für die NZZ berichtet Thomas Schacher vom "Festival für improvisierte Musik" in Zürich. Frederik Hanssen wirft für den Tagesspiegel einen Blick auf die Lage deutscher Orchestermusiker in der Pandemie. Karl Fluch hört sich für den Standard unter Wiener Indielabels um, wie es ihnen nach zwei Jahren Pandemie geht. Detlef Diederichsen schreibt in der taz einen Nachruf auf die brasilianische Sängerin Elza Soares.

Besprochen werden das neue Album von Tocotronic, das dem Standard ein Pro & Contra wert ist (mehr dazu hier), ein Wolfgang-Rihm-Festival in Heidelberg (SZ), Tanya Tagaqs Album "Tongues" (Pitchfork), das neue Album von Lady Wray (Standard), ein Berliner Schubert-Abend mit Thomas Hampson (Tsp) und neue Popveröffentlichungen, darunter das gemeinsame Klavieralbum "4 Hands" von Hans-Joachim Roedelius und Tim Story (SZ). Wir hören rein:

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