Efeu - Die Kulturrundschau

Dieses Schwelgen im Seltenen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.02.2022. In der taz erzählt der Übersetzer Ulrich Blumenbach von seiner fünfjährigen Arbeit an Joshua Cohens Monumentalwerk "Witz", das dem Chaos der Welt das Chaos der Kunst entgegensetzt. Und das ihm ein hochmusikalisches Geschwurbels abverlangte, wie er in der FAZ ergänzt. Schluchzend genießen SZ und Nachtkritik sechs Stunden lang Matthew Lopez' Broadway-Drama "Das Vermächtnis" über schwules Leben in New York. Monopol folgt dem Fotografen Ragnar Axelsson auf dem Hundeschlitten durch die Arktis. Das ZeitMagazin freut sich über die Rückkehr der Schleppe.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.02.2022 finden Sie hier

Literatur

Knapp zwölf Jahre nach seiner Originalveröffentlichung erscheint Joshua Cohens Monumentalwerk "Witz" nun auch in deutscher Übersetzung. Fünf Jahre hatte der Übersetzer Ulrich Blumenbach an diesem Werk zu arbeiten, erklärt er in einem mitreißenden taz-Gespräch: Bei Cohen wird "die Unbegreifbarkeit des Holocaust als Unlesbarkeit der Welt literarisches Programm." Er "erweitert die Grenzen des Sagbaren, weil er auf Sinn- und Klangebene mit Anspielungen, Mehrsprachigkeit und Wortspielen aus allen Rohren feuert. " Denn: "Komplexe Literatur will dem Chaos der Welt mit dem Chaos der Kunst Kontra geben. ... Die berauschende Schönheit von Cohens riesigem Wortschatz geht ja oft auf Fachausdrücke zurück, die dem Edelsteinschleifen, dem Aufbau von Wiederkäuermägen, der Falknersprache und vielen anderen mehr oder weniger obskuren Wissensgebieten entstammen. Dieses Schwelgen im Seltenen habe ich in den entsprechenden deutschen Fachbüchern recherchiert und der Übersetzung integriert."

Auch Jan Wiele von der FAZ hat mit Blumenbach gesprochen. Klarmachen musste er sich bei seiner Arbeit, erzählt er, "dass die Dynamik der Form hier oft wichtiger ist als der Informationswert der Wörter, Wendungen und Sätze. ... Ich würde folgende Tonlagen unterscheiden: die verhältnismäßig 'normal' erzählte Geschichte der Familie Israelien, den hohen religiösen Ton heiliger Schriften, den niederen religiösen Ton mehr oder weniger konkreter Beschreibungen einzelner Festtage, Riten, Gebete et cetera, satirische Schilderungen der Weltlage, in sich abgeschlossene Kabinettstückchen, Typenkomödien und Klischeeparodien, schließlich das Parlando furioso eines tendenziell asemantischen, aber hochmusikalischen Geschwurbels. Da Cohen die Schule der Postmodernisten durchlaufen hat, inszeniert er eine Brüchigkeit dieser Erzählerstimmen." Auf ein Gespräch auf ZeitOnline mit dem Autor selbst hatten wir bereits gestern kurz hingewiesen.

Außerdem: Markus Hennig schreibt auf 54books über schreibende Väter. Besprochen werden neue Krimi-Comics (taz), László Krasznahorkais "Herscht 07769. Florian Herschts Bach-Roman" (NZZ), Fernando Aramburus "Reise mit Clara durch Deutschland" (SZ) und Manfred Krugs "Ich sammle mein Leben" mit Tagebucheinträgen von 1996 bis 1997 (Welt) und eine szenische Doppellesung in München von Peter Handkes "Winterliche Reise" und Ivo Andrics "Brücke über die Drina" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Thiemo Strutzenberger und Moritz von Treuenfels in Matthew Lopez' "Vermächtnis". Foto: Sandra Then / residenztheater

In großen Bögen erzählt Matthew Lopez' weithin gefeiertes Stück "Das Vermächtnis" in Anlehnung an E.M. Fosters "Howard's End" von schwulem Leben in New York, von Trauer und Tod, Freiheit und Kunst, Liebe und Wahrheit. Philipp Stölzls auf zwei Abende verteilte, sechsstündige Inszenierung am Münchner Residenztheater hat Yvonne Poppek in der SZ überwältigt: "Es ist ein so satter Abend, präzise, ausbalanciert, von großer Wahrhaftigkeit, auch mit dem Mut, dick aufzutragen. Und es ist ein Abend der Schauspieler, die das Publikum mit Leichtigkeit durch die zwei Teile tragen oder eher: mitreißen." In der Nachtkritik findet Maximilian Sippenauer das auf zwei Abende verteilte Stück fulminant gespielt, am Anfang sehr witzig und kurzweilig, aber dann wird es ihm emotional zu hochtourig, zu sehr Netflix: "Das Stück verkitscht zusehends zwischen den Erzählklischees britischer Romantik, Paul-Auster-haften New-York-Platitüden und Hollywood-Romcoms. Natürlich kommt es zum öffentlichen Skandal bei Erics Hochzeit (Der besoffene Toby mahnt seinen Ex, er heirate den Falschen), natürlich widerfährt Toby eine künstlerische Katharsis im Karrierehöhepunkt der Broadway-Premiere ('Kein einziger Satz, den ich geschrieben habe, ist wahr', Schluchz!), natürlich holt alle die tiefe seelische Einsamkeit an Weihnachten ein. Man wünscht sich eine Brechung dieser Tropen, wenn auch nur eine ironische, aber je länger das Stück dauert, umso mehr merkt man: Lopez meint das alles ernst."

Besprochen werden Rued Langgaards von heiligem Zorn befeuerte Oper "Antikrist" in Berlin (die Niklaus Hablützel in der taz als musikalische Bußpredigt stoisch über sich ergehen lässt, FR-Kritikerin Judith von Sternburg weiß zu schätzen, dass Ersan Mondtag dem Stück eine echte Chance gibt, SZ), Barrie Koskys Inszenierung von Leos Janaceks Erotikoper "Das schlaue Füchslein" an der Bayerischen Staatsoper (SZ, FAZ), Moritz Eggerts und Andrea Heusers Kinderoper "Iwein Löwenritter" in Bonn (taz), Necati Öziris Wagner-Persiflage am Zürcher Schauspiel (FAZ), Kornél Mundruczó Familienhorrorstück "MiniMe" an der Volksbühne (Tsp, Nachtkritik), Mazlum Nergiz' Cruising-Stück "Coma" wird im Wiener Schauspielhaus (Standard).
Archiv: Bühne

Film

Raoul Pecks "Rottet die Besten aus" (Arte)

Arte zeigt Raoul Pecks vierstündigen Dokumentar-Essayfilm "Rottet die Bestien aus!" über die Geschichte von Genoziden und Rassismus. Der Film ist gut gemeint, schert aber zu viel zu voreilig über einen Kamm, meint Jürgen Kaube in der FAZ: Holocaust, Hiroshima, Kolonialismus, Trumps Ausfälle gegenüber Mexiko - für Peck im Grunde alles eins, "auch wenn gleich zu Beginn bekundet wird, alle seien einzigartig. Kurz darauf folgt der Satz: 'Die Bilder sehen immer gleich aus.' Sollte das so sein - es waren gerade die Brillen- und Schuhberge von Auschwitz und ähnliche Haufen aus Ruanda gezeigt worden -, könnte es gegen Bilder sprechen. Es geht dem Film um westliche Verbrechen. Wenn sie gleichwohl von Mobutu, Duvalier oder den Hutu begangen worden sind, wenn 'weiße Überlegenheit' also kein Motiv gewesen sein kann, zeigt er Bilder von Staatsbesuchern aus dem Westen, die den Gewalttätern an Geschäften interessiert begegneten. ... Den Abscheu gegenüber dem Schrecklichen behandelt Peck als Einstellung Weniger, zu denen auch er selbst gehört."

Außerdem: Tobias Sedlmaier und Katrin Büchenbacher erklären in der NZZ, wie China Filme zensiert, wobei sich "die Vorgaben stets verändern und mit Absicht vage sind, so bleiben sie der staatlichen Willkür unterworfen." Im Standard empfiehlt Dominik Kamalzadeh die Retrospektive Rakhshan Banietemad im Österreichischen Filmmuseum. Christiane Peitz (Tsp) und Maria Wiesner (FAZ) schreiben Nachrufe auf den Filmarchitekten Rolf Zehetbauer.

Besprochen werden James Andrew Millers Buch "Tinderbox: HBO's Ruthless Pursuit of New Frontiers" über den Aufstieg und Fall von HBO (SZ), Karoline Herfurths "Wunderschön" (Welt) und der zweite Band mit Tagebuchnotizen des Experimentalfilmers Jonas Mekas (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Ragnar Axelsson "Ingelfieldfjord, Greenland, 1987"

Cornelia Ganitta verliert sich auf Monopol in den Bildern des isländischen Fotografen Ragnar Axelsson, der seit vierzig Jahren das Leben in der Arktis dokumentiert und dem das Münchner Kunstfoyer eine Ausstellung widmet: "Man muss wohl ein Kind des Nordens sein, um sich so tief und einfühlsam auf die Menschen und Landschaften rund um die Arktis einzulassen, wie Ragnar Axelsson (geboren 1958) es tut. Von klein auf hat der Isländer und fotografische Autodidakt mit der ihm anvertrauten Leica in der Hand intuitiv einen ästhetischen Sinn für das entwickelt, was ihn umgibt. 'Es gehörte viel Vertrauen dazu, einem Kind eine Kamera zu leihen, die so teuer war wie ein Auto. Ich durfte meinen Vater nicht enttäuschen', erklärt er in seinem neuen Buch 'Where The World is Melting' (Wo die Welt schmilzt)."

Weiteres: Für den Tagesspiegel wirft Rolf Brockschmidt noch einen Blick auf die Mschatta-Fassade, die ganz legal ins Berliner Museum für Islamische Kunst gekommen sei, wie er betont, und die vor ihrer Restaurierung mit einer Installation von Ali Kaaf gewürdigt wird. Katharina Rustler schreibt im Standard zum Tod der Künstlerin und österreichsichen Staatspreisträgerin Brigitte Kowanz.

Besprochen werden die Francis-Bacon-Schau "Man and Beast" in der Royal Academy in London (Observer, NYTimes), die Georgia-O'Keeffe-Ausstellung in der Fondation Beyerle bei Basel (Zeit).
Archiv: Kunst

Design

"Die Schleppe wird offenbar erneut attraktiv", beobachtet Tillmann Prüfer in seiner Kolumne fürs ZeitMagazin mit Blick auf aktuelle Kollektionen von Fendi, Gucci und Missoni. "Auch Miuccia Prada kleidet die Frau ganz ähnlich ein - in knappe pinkfarbene Miniröcke, die gleichsam ein Schwänzchen aus Chiffon hinter sich herführen. Bei dieser sehr dezenten Schleppe ist die Gefahr freilich groß, dass jemand versehentlich drauftritt. Dafür schwebt sie in der Luft, wenn ihre Trägerin nur schnell genug schreitet. Was wiederum sehr für die mobile Frau spricht."
Archiv: Design
Stichwörter: Mode

Musik

Der Streit zwischen Neil Young, Joni Mitchell und dem Spotify-Podcast von Joe Rogan findet "in einer Phase statt, in der die Musikindustrie dabei ist, sich zu reorganisieren - genauer gesagt: ihre Werthaltigkeit auszuschöpfen", schreibt Harry Nutt in der FR mit Blick darauf, dass Young auch zu den Künstlern gehört, die im vergangenen Jahr sehr öffentlichkeitswirksam ihre Musikrechte verkauft haben, im Falle Youngs an einen spekulativen Fonds. "Young hat seine künstlerische Integrität also genau in dem Moment in den Ring geworfen, als er sie zumindest teilweise abgetreten hatte. Das deutet einerseits darauf hin, dass der ideelle Wert nicht einfach weiterwandert, auch wenn man ihn veräußert. Auf dem Kunstmarkt kennt man schon lange das Prinzip der Nachnutzung, das regelt, dass ein Künstler auch nach dem Verkauf eines Werkes bei weiteren Verkäufen mitverdient."

Die Rechtsrockszene nutzt die Algorithmen von Streamingdiensten gezielt, um in Empfehlungen und Playlists zu kommen. Das hat jetzt auch ein nach Salamimethode veröffentlichter Fake-Nazisong der Initiative "Laut gegen Nazis" unter Beweis gestellt, berichtet David Muschenisch in der taz. Das Stück hatte rasch Erfolg und konnte trotz gelegentlicher Löschung schnell wieder hochgeladen werden. "Jörn Menge von 'Laut gegen Nazis' kritisiert, dass die Streamingdienste willkürlich statt systematisch löschen. Während Spotify den Song 'Kameraden' gesperrt habe, seien andere rechte Inhalte weiterhin verfügbar. Seit Jahren gilt Musik als ein wichtiges finanzielles Standbein der Naziszene. Die Plattformen sollten ihre Algorithmen nutzen, um rechte Lieder zu sperren, bevor sie auf den Plattformen landen, findet Menge. Youtube blockiert laut einem Sprecher bereits maschinell."

Außerdem: Für die NZZ porträtiert Marco Frei Vladimir Jurowski, den neuen Generalmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper, der "die Zügel gleichzeitig zu lockern und zu straffen scheint, ein Wechselspiel aus Führung und Freiheit". In der FR erinnert Arno Widmann an Franz Schubert. Besprochen wird Heinz Rudolf Kunzes Autobiografie (online nachgereicht von der FAZ).
Archiv: Musik