Efeu - Die Kulturrundschau

Gefährlich böses Ende

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05.02.2022. Der Standard entdeckt im Linzer Lentos das Bauhaus-Multitalent Friedl Dicker-Brandeis. Die FAZ fragt, warum ein privater Kulturmanager wie Walter Smerling vom Berliner Senat mehr Staatsknete bekommt als die Neue Nationalgalerie für den Ankauf von Bildern. Was dem einen Zensor die Obszönität ist, ist dem anderen die Blasphemie, warnen NZZ und Welt, die die Literatur von Überwachern umstellt sehen. Die nmz badet in Nancy in den heißen und eisigen Klängen der Paul-Dukas-Oper "Ariane et Barbe-Bleue". Zeit online wartet in Halberstaddt gespannt auf den Wechsel zum nächsten Ton von John Cages "ORGAN2/ASLSP".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.02.2022 finden Sie hier

Kunst

Friedl Dicker-Brandeis, Das Verhör, 1934. Kunstsammlung und Archiv, Universität für Angewandte Kunst Wien. Foto: Manuel Carreon Lopez


Im Lentos Kunstmuseum in Linz ist derzeit ein Multitalent zu entdecken: die Bauhaus-Künstlerin Friedl Dicker-Brandeis mit ihren Möbeln, Bildern, Architekturentwürfen, Spielzeugen und Plakaten, lobt im Standard Katharina Rustler. Ausgestellt werden jedoch auch die Bilder von Kindern im KZ Theresienstadt, denen sie Zeichenunterricht gegeben hatte, bevor sie in Auschwitz ermordet wurde. "Dicker-Brandeis versuchte als von den Nazis eingesetzte Kunstpädagogin in ihrem Vortrag auf die psychische Belastung der inhaftierten Kinder aufmerksam zu machen. Die letzten Zeichnungen vor ihrem Tod zeigen ihre eigene innere Emigration: Die Wirklichkeit löste sich peu à peu auf, ihre Welt wurde zu fleckigen Umrissen. Ein naives Kindergesicht blickt in eine Zukunft, die es nicht mehr gab. Von diesem grotesken Ende spannt die von Brigitte Reutner-Doneus kuratierte Ausstellung einen beinahe poetischen Bogen zum Anfang - und zum Anfang von Dicker-Brandeis. Denn die Techniken und Zeichenübungen, die die Künstlerin den Kindern in Theresienstadt beigebracht hatte, waren jene, die sie etwa 25 Jahre früher an der Schule von Johannes Itten selbst erlernt hatte."

In der FAZ schließt sich Niklas Maak der Kritik (mehr hier) an dem Kulturmanager Walter Smerling an, der im stillgelegten Berliner Flughafen Tempelhof in zwei Hangars seine private "Kunsthalle Berlin" eingerichtet hat. Erst hieß es, er komme für den Unterhalt der Hangars auf. Tatsächlich überlässt die rot-rot-grün regierte Stadt sie ihm kostenlos und zahlt dazu noch fünfzig Prozent der Unterhaltskosten. Das sind etwa 100.000 Euro im Monat, wie Maak empört feststellt: "Das ist eine enorme Summe, die den jährlichen Kunstankaufsetat etwa der Berliner Nationalgalerie bei Weitem übersteigt. Wie ist es möglich, dass die Stadt, statt etwa mit einer Erhöhung des Ankaufsetats die Kunstszene zu fördern, dieses Geld lieber einer privaten Initiative gibt? Wie kann es sein, dass immer behauptet wird, nur Private könnten sich den Betrieb der Hallen von Tempelhof leisten - und dann kann die Stadt plötzlich doch die Hälfte übernehmen ... Der Fall ist ein Beispiel für eine besonders krasse Form der Selbstaufgabe von Kultur- und Stadtpolitik, für die Kapitulation der Politik vor prestigeträchtigen Rundum-Sorglos-Paketen privater Akteure."

Weiteres: Die Zeit hat Hanno Rauterbergs Artikel über das Unsichtbare in der Kunst und den unsichtbaren Künstler Moritz Kraus online nachgereicht. FAZ-Autor Marco Stahlhut lernt von Yunus Erlangga alias Joen einiges über den politisch-künstlerischen Eiertanz, den ein Karikaturist in Indonesien beherrschen muss. Besprochen wird außerdem eine Ausstellung des Naturfotografen Fred Koch in der Berliner Alfred Ehrhardt Stiftung (FR).
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Literatur

Art Spiegelmans Holocaustcomic "Maus" wurde wegen Schimpfwörtern sowie der Darstellung von Nacktheit und einem Selbstmord aus dem Curriculum in Tennessee gestrichen. Diese "Absage an die Grausamkeiten des Holocaust im Namen einer moralisierenden Empfindsamkeit demaskiert den amerikanischen Reinheitswahn, von dem bereits Autoren wie Philip Roth oder Nathaniel Hawthorne sprachen", kommentiert Sarah Pines in der NZZ. Jan Küveler von der Literarischen Welt sieht die Literatur aktuell von einer Dreifaltigkeit attackiert: ""Während es den Spießern meist um Obszönität geht, verübeln die Fundamentalisten Blasphemie" und "die zeitgenössische Linke, die sich von Fragen gesellschaftlicher Gerechtigkeit ab- und den Empfindlichkeiten von Individuen zugewandt hat (...) sorgt sich um von Texten ausgehenden Aggressionen, als wären Romane schlafende Terroristen." Dabei sind "Romane Übungen in Empathie, Triggerwarnungen Lektionen in Selbstgerechtigkeit."

Mladen Gladic und Marc Reichwein fragen für die Literarische Welt beim Literaturwissenschaftler Torsten Hoffman nach, wie die Literaturvon rechts und von links politisch vereinnahmt wird. Die "intellektuelle Rechte" bereite ihre konkrete Politik "kurz- und mittelfristig durch Metapolitik" vor. Diese ziele darauf, "die kulturelle Deutungshoheit zu bekommen, bevor man dann direkt politisch aktiv wird. Es geht also darum, den Kanon zu verändern, Debatten mitzubestimmen, rechtes Vokabular in den allgemeinen Diskurs einzuschleusen. ... Wichtig ist, dass der ehemalige Leutnant Kubitschek in seinen Texten nicht nur metaphorisch von Gewalt spricht, sondern einen 'Aufstand für das Eigene' in Aussicht stellt. Wenn man dafür die wegen rechter Tendenzen aus der Bundeswehr ausgeschlossenen Soldaten noch brauche und aufsuchen müsse - nicht heute, aber 'übermorgen' -, klingt das nach mehr als Kulturarbeit am Schreibtisch."

Marie-Luise Goldmann spricht für die Literarische Welt mit der amerikanischen Autorin Clare Sestanovich, die in ihrem Debüt-Erzählband "Objekte des Begehrens" mit viel französischer Theorie im Gepäck über weibliches Begehren und weibliche Sehnsüchte schreibt. "Einer der Gründe, warum die Dinge, die wir begehren, wie Objekte erscheinen - sogar, wenn sie menschlich sind -, ist vielleicht, dass der Akt des Begehrens für unser Verständnis von Subjektivität so fundamental ist. Etwas zu wollen heißt, unsere Distanz gegenüber etwas wahrzunehmen, und in dieser Lücke zwischen dem Begehrenden und dem Begehrten kommt unser Selbst zum Vorschein. ... Wer als Frau sozialisiert worden ist, hat ein eher abwägendes Verhältnis zu seiner Lust. Als Schriftstellerin interessiere ich mich sehr für diese Formen der Vermittlung. Weiß man überhaupt, was man begehrt?"

Außerdem: Für das Literarische Leben der FAZ liest Eckhardt Köhn Romane des Nobelpreisträgers Patrick Modiano. Gertrud Leutenegger (hier) und Roman Bucheli (dort) erinnern in der NZZ an die Dichterin Erika Burkart, die am 8. Februar hundert Jahre alt geworden wäre. In der Literarischen Welt erinnert sich Georg Stefan Troller an eine Begegnung mit W. Somerset Maugham.

Besprochen werden unter anderem Scott McClanahans "Crap" (taz), eine Neuausgabe von Roy Jacobsens norwegischem Nachkriegsroman "Die Kinder von Barrøy" (taz), Karel Čapeks Erinnerungsband "Das Jahr des Gärtners" (online nachgereicht von der FAZ), Manfred Krugs "Ich sammle mein Leben zusammen" mit Tagebüchern von 1996-97 (SZ), Garth Greenwells "Reinheit" (Literarische Welt) und Angelika Meiers "Die Auflösung des Hauses Decker" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

"Ariane et Barbe-Bleu" von Paul Ducas in Nancy. Foto: © Jean-Louis Fernandez


In der nmz ist Roland H. Dippel hin und weg von Mikaël Serres krimihafter Inszenierung der Paul-Dukas-Oper "Ariane et Barbe-Bleue" am Opernhaus Nancy. Die Oper folgt der Vorlage von Maurice Maeterlincks gleichnamigem Drama von 1910, das uns in Blaubarts verschlossene Kammer führt, die nur Ariane verlassen kann. Aber warum? "Hier gelingt es der eiskalten Inszenierung gerade durch das bedrückend fragwürdige Ende, den Paradoxien der Partitur, deren subtiler Brutalität und pulsierender Wärme annähernd ähnlich Bizarres entgegenzusetzen. Nina Wetzel hat ein Raumgebilde mit Salon, Keller, Treppen und Terrasse gebaut. Glas, Metall, Neonröhren wirken funktional und geheimnislos. Dieser Schein trügt. Auf den Gazeschleier projiziert Sébastien Dupouey seine Videos: Zum Prélude schießt ein Auto mit hellen Strahlern durch dunkle Wälder. Scharf wie für einen Polizeibericht konkretisiert Dupouey Maeterlincks poetische Metaphern. Und mehr als das. Die Rebellen (Benjamin Colin, Ill Ju Lee, Christophe Sagnier, Ju In Yoon) stehen im Rang und drohen von dort gegen die abgeschirmte Villenfestung. Später machen sie den vermögenden Barbe-Bleue mit Gelbwesten und anderen Vermummten fast kalt." Wenn Ariane am Ende geht, gibt Mikaël Serre der Oper "damit ein gefährlich böses Ende, an dem die Dialektik von Gehorsam und Verbotsübertretung zur essenziellen Frage wird".

Weitere Artikel: Regisseur Hendrik Müller erklärt im Interview mit der nmz, warum "Santa Chiara", eine Oper von Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha, durchaus eine Wiederentdeckung wert ist: ein Meisterwerk wie "Falstaff" oder "Don Giovanni" sei sie zwar nicht, aber "durch 'Santa Chiara' erfährt man vielleicht mehr über das Theaterschaffen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als aus dem gesamten 'Ring'." Demnächst zu hören am Meininger Theater. Im Interview mit der taz beklagen die queeren Schauspieler Oska Melina Borcherding und Martín Peñaloza Cecconi, dass sich seit "ActOut" noch nicht genug für queere Schauspieler geändert habe.

Besprochen werden die Aufführung von Wolfgang Rihms Kammeroper "Jakob Lenz" am Stadttheater Klagenfurt (Standard), Eric Assous' Komödie "Ein Satz zu viel" in der Frankfurter Komödie (FR), Marie Schleefs und Anne Tismers Adaption von Kate Chopins feministischer Kurzgeschichte "Die Geschichte einer Stunde" am Ballhaus Ost Berlin (nachtkritik) und Martina Gredlers Inszenierung von Horváths "Figaro lässt sich scheiden" am Stadttheater Klagenfurt (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Film

Die unsichtbare Schönheit des Innenlebens einer Kuh: "Cow"

Thomas Abeltshauser unterhält sich für die taz mit Andrea Arnold über ihren Porträtfilm "Cow", für den sie vier Jahre lang eine Milchkuh beobachtet hat. Ihr Grundgedanke dabei: "Wenn ich ein Tier lange genug beobachte, kann ich dann seine Persönlichkeit und sein Empfindungsvermögen sichtbar machen, sein Innenleben? Kann ich das Unsichtbare zum Vorschein bringen? ... Zu der Zeit las ich den irischen Dichter John O'Donohue, der von der unsichtbaren Schönheit in uns schrieb, dem Denken, den Gefühlen und dem Willen. Und ich wollte herausfinden, ob ich das auch an einem Tier sehen kann, in diesem Fall einer Milchkuh. Als wir dann mit den Dreharbeiten begannen, wurde mir schnell klar, dass sich die Kamera vor allem auf den Kopf und die Augen fokussieren muss. Es war eine erstaunliche Erfahrung."

Die SZ bringt ein Pro & Contra zun nunmehr abgeschlossenen "Sex and the City"-Revival "And Just Like That": Nele Pollatschek feiert es als postmoderne Dekonstruktion der ursprünglichen Serie. "Für einen Moment zerbrechen die großen Narrationen. Die Geschichte des monogamen Happily Ever Afters. Die Geschichte von besten Freundinnen, die immer da sind, wenn man sie braucht. Am Ende liegt man mit einer kaputten Hüfte allein in seinem eigenen Urin." Marie Schmidt hingegen sah vor allem more of the same und das war dann auch noch "frappierend schlecht gealtert". Denn "durch Erzählungen wie 'Sex and the City' hat sich die Vorstellung verfestigt, dass Frauen sich durch ihre Beziehungsarbeit flexibler an die Bedingungen des Spätkapitalismus anpassen können als Männer. ... Dieser Erfolg schien unsexy politische Kämpfe überflüssig zu machen: Man nannte das dann Postfeminismus. Der hat sich inzwischen als Irrtum herausgestellt, und das bringt die Handlung von 'And Just Like That' skurril ins Schlingern."

Außerdem: Sebastian Seidler plädiert in einem taz-Kommentar mit Nachdruck für eine hybride Berlinale, was die Möglichkeit biete, "die Filme einem breiten Publikum zu präsentieren. Endlich geht es um das Wesentliche". Maryanne Redpath von der Berlinale-Sektion Generation, die sie in diesem Jahr zum letzten Mal leiten wird, blickt im taz-Gespräch auf ihre Arbeit zurück. Im Filmdienst schreibt Jens Hinrichsen über die Berlinale-Retrospektive "No Angels", die in diesem Jahr den Schauspielerinnen Mae West, Rosalind Russell und Carole Lombard gewidmet ist.

Besprochen werden die Apple-Serie "Suspicion" (FAZ) und die Neuauflage der Fraggles (Freitag).
Archiv: Film

Architektur

Entwurf für den Palast der Sowjets in Moskau. Erster offener Wettbewerb. Skizze einer perspektivischen Ansicht, 1931. Foto: Tchoban Foundation


Boris Iofan gehörte vielleicht zu den besten Architekturzeichnern des 20. Jahrhunderts, aber er war auch Stalins Stararchitekt, bevor er in Ungnade fiel. Seinen Werdegang kann man derzeit in einer Ausstellung der Tchoban Foundation in Berlin nachverfolgen. Nach einer Ausbildung in Italien, wo er eine kommunistische Adlige heiratete, baute der überzeugte Kommunist zunächst dort, erzählt FAZ-Kritiker Kevin Hanschke. Doch "erst in Moskau, der Dauerbaustelle des Sowjetreichs, wohin er 1924 mit seiner Frau zurückkehrte, fand Iofan zu seinem Personalstil. Der Architekt, der 1926 Parteimitglied wurde, arbeitete sogleich an unterschiedlichen Projekten. Ein Hauptwerk, das ihm Stalins Gunst verschaffte, war das 1931 fertiggestellte spätkonstruktivistische 'Haus an der Uferstraße' auf einer künstlichen Insel im Moskwa-Fluss gegenüber dem Kreml. Der wuchtige Bau enthält geräumige, ausgesprochen komfortable Wohnungen, die Angehörigen der bolschewistischen Elite zugeteilt wurden. Auch Iofan wohnte bis zu seinem Tod in einer von ihnen."
Archiv: Architektur

Musik

Man eile nach Halberstadt, denn bei der dortigen, auf 639 Jahre angelegten Aufführung von John Cages "ORGAN2/ASLSP" steht heute Nachmittag nach 17 Monaten nunmehr der Wechsel zum nächsten Ton an, berichtet ein sichtlich aufgeregter Ulrich Stock auf ZeitOnline live vor Ort. Doch "statisch war noch kein Klang in diesen zwei Jahrzehnten", denn "das Tongemisch oszilliert im Raum und verändert seinen Charakter mit jedem Schritt. ... Die zwei Basspfeifen, C16 und Des16, schwingen nur einen Halbton voneinander entfernt. Sie reiben sich im Ohr, mögen zuweilen an das Wummern eines Schiffsmotors erinnern. Der Akkord insgesamt klingt elektrisch, metallisch. Er passt in unsere ferngesteuerte Zeit. Von den Veranstaltern mit steter Sorge gehört wird der höchste Ton, das zweigestrichene e. Manchmal zittert es, springt eine Oktave höher, fällt wieder zurück. Dieses Detail zeigt, wie schwer es ist, die Beständigkeit auch nur eines einzelnen Tones zu gewährleisten."

Außerdem: Mladen Gladic schwärmt in der Welt vom BBC-Podcast "Peel Acres", für den Musiker sich durch John Peels legendäre Plattensammlung stöbern. Christian Schachinger zieht für den Standard nochmal Fleetwood Macs Album "Rumours" aus dem Jahr 1977 aus dem Plattenschrank. Für die SZ porträtiert Andrian Kreye den Jazzsaxofonisten Immanuel Wilkins, der nach einem bereits gefeierten Debüt mit seinem neuen Album "The 7th Hand" nun "noch mal einen erstaunlichen Schritt nach vorne" mache. Wir hören rein:



Besprochen werden eine Neuausgabe des Debütalbums von The Wirtschaftswunder (taz) und das neue Album "Covers" von Cat Power, ein Bekenntnis "zu Pop als flüchtigem Wandertruppenbusiness", schreibt Eva Behrendt in der taz. Wir hören rein:

Archiv: Musik