Efeu - Die Kulturrundschau

Rein funktional inmitten des Industriegebiets

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07.02.2022. Die NZZ lernt von Jeremy Nedd und Impilo Mapantsula den Tanz der schnellen Füße und wütenden Herzen. Die SZ warnt René Pollesch davor, aus seinem Minimalprogramm an der Volksbühne eine Tugend zu machen. Die FAZ besichtigt den monströsen Busbahnhof von Tel Aviv. Im Tagesspiegel fürchtet Roland Emmerich die Zukunft des "Kino zuhause". Der Freitag ächzt unter dem Musikangebot der Radios, die nur noch Oldies mit Ketchup spielten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.02.2022 finden Sie hier

Bühne

"The Ecstatic" von Jeremy Nedd & Impilo Mapantsula. Bild: Swiss Dance days 

Als das Spannendste was in den letzten Jahren aus der freien Schweizer Tanzszene heraus entstanden ist feiert Lilo Weber in der NZZ Jeremy Nedds Stück "The Ecstatic", das bei den Swiss Dance Days in Basel zu sehen war. Der Choreograf hat es zusammen mit der südafrikanischen Organisation Impilo Mapantsula erarbeitet: "Jeremy Nedd und seine sechs südafrikanischen Tänzer verbinden Pantsula mit Praise-Break. Pantsula entstand während der Apartheid in den Townships Südafrikas. Es ist der Tanz der schnellen Füße und wütenden Herzen, beeinflusst später auch durch den Hip-Hop. Praise-Break kommt aus den Gottesdiensten, da die Gläubigen sich in Trance singen und tanzen. Und die Verbindung sitzt, wie nun an den Swiss Dance Days in Basel zu sehen war. 'The Ecstatic' hat die Zutaten für ein großes Tanzstück: blitzschnelle Füße, umwerfendes Tempo, leidenschaftliche Energie, Relevanz, verbunden mit Virtuosität. Es wird seinen Weg um die Welt machen."

In der SZ bilanziert Peter Laudenbach nicht ohne Sympathie, aber doch recht nüchtern die Bilanz des neuen Volksbühnen-Intendanten René Pollesch, der im Januar auf der großen Bühne gerade mal acht Theatervorstellungen präsentierte, im Februar sollen es zwölf sein: "Dafür, dass pandemiebedingt immer wieder Vorstellungen abgesagt werden müssen, kann Pollesch nichts - das erleben gerade alle Theater. Am Deutschen Theater Berlin liest Wolfram Koch bei freiem Eintritt Tschechow-Erzählungen, weil sein Bühnenpartner Ulrich Matthes erkrankt ist. Nichts davon an der Volksbühne. Das Minimalprogramm scheint dort aber niemanden weiter zu stören. 'Wir machen's für uns', hatte Pollesch zu Beginn seiner Intendanz erklärt. Das klang trotzig: Wir sind Künstler, keine Servicekräfte. Heute wirkt das Statement angesichts des runtergefahrenen Spielbetriebs eher borniert."

Besprochen werden Simone Derais hochkonzentrierte Gedankenperformance "Germania. Römischer Komplex" im Theater an der Ruhr mit dem italienischen Theaterkollektiv ANAGOOR (Nachtkritik), Sebastian Nüblings Inszenierung von Rasha Abbas' syrischen Kurzgeschichten "Zusammenfassung von allem, was war" im Maxim Gorki Theater (die grelle Schlaglichter auf Gewalt und Traumata, Überlebenswillen und Schuldgefühlen werfe, wie Elena Philipp in der Nachtkritik schreibt, Abbas' Geschichten aber auch oft ins Komische wendet, im Tsp verortet Christine Wahl den Abend unter performativen Gesichtspunkten auf höchster Energiestufe), Tracy Letts' Stück "The Minutes" am Staatstheater Wiesbaden (FR).
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Film

Für die Jungle World spricht Vojin Saša Vukadinović mit der Filmemacherin Güzin Kar, die gemeinsam mit Felix von Muralt und Sibylle Berg mit "Deine Straße" einen essayistischen Kurzfilm über den Saime-Genç-Ring in Bonn gedreht hat, der nach einem Opfer des rassistischen Brandanschlags von Solingen '93 benannt ist. Kar fragt in ihrem Film "warum Saimes Straße am Stadtrand liegt und wem ein Platz im Zentrum zugestanden wird - und ob es hier wirklich ums Erinnern oder nicht vielmehr ums Verdrängen geht. ... Die Gegend war erst im Entstehen begriffen und wurde neu gebaut. Diese Straße bekam ihre Bedeutung noch vor ihrer Existenz. Nur kann das Gedenken dort keinen Frieden stören, da dieser Ort keinen Frieden sucht, er ist rein funktional inmitten des Industriegebiets. Ein Mahnmal, das keinen mahnt, ist seltsam, aber damit wurde quasi der gerade noch lebbare Kompromiss zwischen Verdrängenwollen und Erinnernmüssen gefunden." Einen Eindruck des Films gibt es beim RBB auf Facebook.

Roland Emmerich, der gerade seinen neuen (hier besprochenen) Katastrophenfilm "Moonfall" ins Kino bringt, zeigt sich im Tagesspiegel-Interview wenig zuversichtlich, was die Zukunft des Kinos betrifft: Im klassischen Kinobetrieb geht es nur noch um Superhelden und Franchises, das Home-Equipment verführt immer mehr zum Kino zuhause und die Oscars gehen an Filme, die kaum jemand gesehen hat. "Ich habe Angst, dass es in Zukunft weniger Kinos geben wird, nur noch große Säle - in denen sich Marvel und DC abwechseln, während kleine interessante Filme bei den Streamern landen. Zum Beispiel 'Being the Ricardos' oder 'The Power of the Dog'", die "die Streamer eine Woche in den Kinos starten, damit sie sich für die Oscars qualifizieren." Amazon gibt gerade "Geld aus, als gäbe es kein Morgen. ... Ich glaube, eines Tages wird Amazon Prime auch Netflix schlucken. Das wird der Machtkampf der Zukunft sein."

Die FAS hat Dominik Graf vier Fragen gestellt, unter anderem, was ihn gerade nervt. "Feuilletons in Zeitungen und Fernsehen werden vermehrt von der Tagespolitik gekapert. Umgekehrt lässt sich die Kultur allenthalben vor den Karren der Politik spannen. Darin zeigt sich die geistige und materielle Abhängigkeit. Aber Filme, deren Premieren von der Anwesenheit welcher Bundespräsidenten auch immer beehrt werden, müssen irgendwas falsch gemacht haben. Als Filme."

Außerdem: Vielleicht leugnen Querdenker die Dimensionen der Pandemie auch nur deswegen, weil sich die Coronakrise mit den drastischen Pandemiebildern, wie sie Hollywood und TV-Serien in den Jahren zuvor in Hülle und Fülle produzierten, so gar nicht in Einklang bringen lassen, fragt sich Florian Schmid im Freitag.

Besprochen werden Maryam Moghaddams "Ballade von der weißen Kuh" (Tsp, unsere Kritik hier), Nanni Morrettis "Tre piani" (TA), Peter Luisis "Prinzessin" (NZZ), Rob Jabbaz' Zombiefilm "The Sadness" (Standard) und die südkoreanische Netflix-Zombieserie "All of Us Are Dead" (Welt).
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Architektur

Quynh Tran erzählt in der FAZ die Geschichte des monströsen Busbahnhofs von Tel Aviv, der als gewaltige Investitionsruine zu einem Auffangbecken von Marginalisierten und Subkultur geworden ist. Weder zu einer Aufwertung des Ortes noch zu einem Abriss kann sich die Stadt durchringen: "Die Stadt ließ derweil verlauten, dass die Räumung wieder um zwei Jahre verschoben worden sei. Vielleicht, weil sie nicht weiß, wohin mit den Menschen, vielleicht aber auch, weil niemand weiß, wohin mit dem Gebäude. Es ist so massiv, dass eine Sprengung die ganze Stadt in eine Schuttwolke hüllen würde. Ein Abbau ist finanziell nicht tragfähig, zudem befinden sich im Keller ein Atombunker für 16 000 Menschen und eine geschützte Kolonie ägyptischer Fruchtfledermäuse."

Weiteres: Tsp-Kritiker Bernhard Schulz begutachtet im Aedes Architekturforum die Pläne des norwegische Büro MAD Arkitekter für ihr Wohnhochhaus aus Holz in Berlin.
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Stichwörter: Tel Aviv, Subkultur

Kunst

Franz Zelger liest für die NZZ bei der französischen Historikerin Annie Cohen-Solal nach, wie die Pariser Polizei jahrzehntelang Pablo Picasso hinterherschnüffelte und drangsalierte: "Als ihm 1958 der damalige Kabinettschef und spätere Staatspräsident Georges Pompidou die französische Staatsbürgerschaft antrug, reagierte er nicht einmal, und er refüsierte selbst den Verdienstorden der Ehrenlegion, die höchste Auszeichnung des Landes."

Besprochen werden die Schau "Renoir, Monet, Gaugin" in Essen, die zum hundertjährigen Bestehen des Folkwang Museums die beiden großen Sammlungen Kōjirō Matsukatas und Karl Ernst Osthaus' präsentiert (SZ, FAZ), die Ausstellung "Boga njet!" in der Kreuzberger Thomaskirche mit antireligiösen Plakate aus der Sowjetunion (taz) und Florian Bachmaiers Fotoband "Im Limbo" mit Bildern aus der Ukraine (Tsp).
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Literatur

Christian Dinger wirft für 54books einen Blick auf "normative Authentizitätserwartungen" in den literarischen Debatten der letzten zehn Jahre.

Besprochen werden unter anderem Erika Burkarts "Spiegelschrift" mit ausgewählten Gedichten (Standard), Bernardine Evaristos "Manifesto" (Zeit), Navid Kermanis "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen" mit "Fragen nach Gott" (FAS), Lisa Kreißlers "Schreien & Flüstern" (online nachgereicht von der FAZ), Rembert Hüsers Essayband "Geht doch" (Jungle World), Damon Galguts "Das Versprechen" (Intellectures), Michael Wäsers "Das Wunder von Runxendorf" (FR), Tom Kings im "Watchmen"-Universum angesiedelter Comic "Rorschach" (Tsp), neue Comicadaptionen von Jules Vernes "20000 Meilen unter dem Meer" (Tsp) und neue Krimis, darunter Liz Nugents "Kleine Grausamkeiten" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Norbert Hummelt über Gottfried Benns "Jena":

"'Jena vor uns im lieblichen Tale'
schrieb meine Mutter von einer Tour
auf einer Karte..."
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Musik

Die Welt dokumentiert einen "Brandbrief" der Konzertveranstalter an die Bundesregierung mit der Forderung, um eine Auflockerung von Arbeitsregularien. Denn das dicke Ende der Pandemie komme erst noch: In der Branche gibt es kaum noch Arbeitskräfte, da ein Großteil der Leute hinter den Kulissen längst woanders arbeitet. Der "Personalmangel ist so drastisch, dass bei Weitem nicht alle anstehenden Konzerte durchgeführt werden können. Das wird unweigerlich zu einer massiven Flut von Konzertabsagen führen, auch von längst ausverkauften Konzerten." Dies alles führe "zu einem massiven Domino-Effekt. Mit den Veranstaltern 'sterben' sämtliche Dienstleister rund um das Veranstaltungsgewerbe, die Clubs, die Hallen und am Ende die gesamte Musiklandschaft."

Seit die Marktforschung ergeben hat, dass Radiohörer besonders gerne dran bleiben, wenn Oldies laufen, ist der Dudelfunk für Musik-Connaisseure ziemlich unerträglich geworden, schreibt Konstantin Nowotny im Freitag. Zu hören gibt es jetzt nämlich am laufenden Meter gut abgehangene Ware im Dance-Remix für den zeitgenössischen Kolorit. Sicher, "alle diese Songs hören sich in etwa so an, als hätte jemand über ein fertiges Gericht reichlich Ketchup verteilt und mit einem Glas Wodka-Energy als gänzlich neue Kreation serviert."

Außerdem: Der allgemeine Spotify-Boykott wegen der Causa Young/Rogan will nicht so richtig loslegen, muss Michael Moorstedt in der SZ feststellen, denn auch bei anderen Diensten finden sich "Populisten übelster Sorte". In der SZ freut sich Joachim Hentschel über Marius Müller-Westernhagens lakonischen Mittelfingerzeig in Richtung Querdenker in Form eines Fotos, das ihn beim Geimpftwerden zeigt: Westernhagens Song "Freiheit" hatten sich die Querdenker zuvor zur Demo-Hymne ausgesucht.

Besprochen werden ein neues Album von Lucinda Williams mit Coversongs von Bob Dylan und den Rolling Stone (FR) sowie das zweite Album von Black Country, New Road, bei dem sich Tsp-Kritiker Hannes Soltau über die Fülle von "hakenschlagenden, von Ideen übersprudelnden Lieder" freut. Wir hören rein:

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