Efeu - Die Kulturrundschau

Koksend, posend, schnorrend

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.02.2022. Die Berlinale hat mit François Ozons Fassbinder-Hommage "Peter von Kant" eröffnet. Leider fehlte die Aura, bedauert die FAZ. Die wurde nur sichtbar, wenn Hanna Schygulla auftrat. Oder Isabelle Adjani, meint Zeit online. Die NZZ gratuliert Reto Hänny zum Grand Prix Literatur. FAZ und SZ tasten sich durch die blutroten Räume einer Wiener Dali-Ausstellung. 54books ist dankbar, dass Museen bislang den politisch-esoterischen Kontext der Arbeiten von Joseph Beuys ignoriert haben - sonst würde er noch als Querdenker verunglimpft. Die Kritiker trauern um die Funk-Diva Betty Davis.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.02.2022 finden Sie hier

Film

Isabelle Adjani als Diva, Denis Ménochet als Quasi-Fassbinder: François Ozons "Peter von Kant"

Die Berlinale ist eröffnet - und nach dem vielen viel Hin und Her um das Konzept des Festivals als Präsenzveranstaltung geht es nun tatsächlich auch mal wieder um Filme. Den Auftakt gestaltet "Peter von Kant", François Ozons Neuinterpretation von Rainer Werner Fassbinders "Die bitteren Tränen der Petra von Kant", die zugleich von Fassbinder selbst handelt - "ein filmhistorisch reflektiertes Remake und eine hemmungslose Hommage", schreibt dazu Andreas Kilb in der FAZ. Auch die frühere Fassbinder-Diva Hanna Schygulla konnte Ozon für einen Auftritt gewinnen, doch einen Gefallen hat er sich damit offenbar nicht getan: "Die mühsam aufgebaute Versuchsanordnung, in der Ozon seine Vorstellung von Rainer Werner Fassbinder auf dessen kaum maskierte Selbstbeschreibung in Frauengestalt projiziert hat, bricht zusammen. Denn mit Hanna Schygulla betritt eine Schauspielerin den Raum, die das mitbringt, was dem Film insgesamt fehlt: Aura. Auf einmal ist Fassbinders Welt, in der die Fiktion ihre Wahrheit aus dem Leben schöpfte (und umgekehrt), nicht mehr fern. Nur dass sie in diesem zugleich überklugen und unterbelichteten Film keinen Platz hat."

Ziemlich ratlos sitzt tazlerin Barbara Schweizerhof im Kino: Was eh schon jeder weiß - dass die Fassbinder-Figur Petra von Kant eine verklausulierte Selbstdarstellung des Regisseurs ist -, pinselt Ozon als Erkenntnis mit dicken Strichen auf die Leinwand, wenn er "seinen Hauptdarsteller Denis Ménochet in vielen Szenen mittels einzelner ikonischer Kleidungsstücke und Sonnenbrille auch äußerlich noch dem großen Vorbild anverwandelt. So deutlich, überdeutlich wird das Ganze, dass man fast verführt ist, 'wir haben es kapiert!' gen Leinwand zu rufen." ZeitOnline-Kritikerin Carolin Ströbele findet immerhin Isabelle Adjani in dem Film ziemlich großartig: "Wenn Fassbinder für die Kunst stand, den größten Realismus der Gefühle durch die größte Künstlichkeit auszudrücken, dann hätte er in der koksenden, posenden, schnorrenden Adjani eine neue Diva gefunden." Doch bleibt der Film eine "flokati-flauschige, wohlig erschütternde Liebesgeschichte, und die Frage, ob diese so umkämpfte Berlinale nicht doch eine Eröffnung mit mehr Kante hätte gebrauchen können. Die Sehnsucht nach harten Filmen für harte Zeiten steigt." Außerdem besprechen Elmar Krekeler (Welt) und Dominik Kamalzadeh (Standard) den Film. Für die Zeit hat Katja Nicodemus mit dem Regisseur gesprochen.

Mehr vom Festival: Carolin Weidner bespricht im Perlentaucher Norbert Pfaffenbichlers "2551.01" und Masaaki Yuasas "Inu-oh", die bei der "Woche der Kritik" laufen, die auch in diesem Jahr die Berlinale wieder als Parallelfestival flankiert. Das Festival hat einen heimlichen Schwerpunkt zu Jean-Luc Godard, schreibt Michael Meyns in der taz. Fabian Tietke führt in der taz durch das Programm der Retrospektive, die in diesem Jahre Filme mit Mae West, Rosalind Russell und Carole Lombard zeigt. Hanno Rehlinger stellt im Tagesspiegel das Kurzfilmprogramm des Festivals vor. Christiane Peitz berichtet im Tagesspiegel hier von der Pressekonferenz der Festivaljury und dort von der Gala-Eröffnung. Aus dem Festivalprogramm besprochen wird außerdem Alain Guiraudies "Nobody's Hero" aus dem Panorama (Tsp).

Abseits der Berlinale: Die FAZ hat ihr Gespräch mit der Filmemacherin Andrea Arnold über deren (in der Presse und auf Filmfilter besprochenen) Tierporträfilm "Cow" online nachgereicht. Besprochen werden Roland Emmerichs "Moonfall" (Perlentaucher, Welt, FR), die südkoreanische Netflix-Serie "All of Us Are Dead" (NZZ), die Science-Fiction-Serie "Station Eleven" nach einem Apokalypse-Roman von Emily St. John Mandel (Zeit), die Netflix-Serie "Inventing Anna" (taz) und die auf Sky gezeigte Serie "Landscapers" (FAZ, Freitag).
Archiv: Film

Literatur

Roman Bucheli freut sich in der NZZ über die Auszeichnung von Reto Hänny mit dem Grand Prix Literatur. Vor allem die großen Klassiker der modernen Literatur haben den Schweizer Schriftsteller in jungen Jahren völlig umgehauen: "Man kann sich keine rechte Vorstellung davon machen, wie der junge Reto Hänny mit sich und mit den Büchern gerungen haben muss. Aber man ahnt es heute noch beim Lesen seiner Bücher, die er sich förmlich vom Leib und den Lippen ringen muss. Was schon im Erstling 'Ruch' von 1979 wie eine Sturzgeburt aussah, ein Wortschwall ohne Ende und Struktur, gehorchte einem minuziös inszenierten Paradox: Mit einer entfesselten Sprache sollte der Tumult im Kopf gebändigt werden."

Besprochen werden unter anderem Alice Schaleks "Reportagen von den Rändern der Moderne" (online nachgereicht von der FAZ), Kjell Bohlunds "Die unbekannte Astrid Lindgren" (SZ) und Josef Kleindiensts Krimi "Mein Leben als Serienmörder" (TA).
Archiv: Literatur

Bühne

In der SZ wirft Christian Zaschke einem neuen Broadway-Musical über Michael Jackson vor, "unterschwellig" Jackson von allen Vorwürfen des Kindsmissbrauchs freizusprechen: "Was man der Inszenierung besonders übel nehmen muss, ist die Tatsache, dass sie Jackson als einen Menschen zeigt, der allein deshalb eine prinzipielle Unschuld verkörpert, weil er zeit seines Lebens nie erwachsen geworden sei. In dem Musical schießt er mit einer Wasserpistole, er liebt Süßigkeiten so sehr, er spricht fast immer mit der Stimme eines unverstandenen Zwölfjährigen, und er will doch stets nur das Beste für alle. Damit wird insinuiert, dass man diesem Michael halt manches durchgehen lassen muss. Er kann gar nichts Böses tun, er ist doch immer Kind geblieben."

Außerdem: In der SZ denkt Reinhard J Brembeck - mit Blick auf die Oper unter den Linden nach Barenboims Abgang - darüber nach, welche Anforderungen heute an einen Opernintendanten gestellt werden.
Archiv: Bühne

Kunst

Salvador Dalí, Le jeu lugubre (Das düstere Spiel), 1929. Privatsammlung, Schweiz. © Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí / Bildrecht, Wien 2022 / Photo White Images/Scala, Florence


Das Untere Belvedere in Wien hat seinen Umbau beendet und mit einer Salvador-Dali-Schau wiedereröffnet. Welchen Einfluss hatte Freud auf das Werk Dalis? Diese Frage soll das Frühwerk Dalis beantworten. Der Besucher bekommt dafür nicht allzu viel an die Hand, findet FAZ-Kritiker Hannes Hintermeier, andererseits lassen Dalis Bilder unendliche Assoziationsmöglichkeiten offen: "'Das düstere Spiel' von 1929, das aus einer Schweizer Privatsammlung stammt, bringt die Zutaten von Dalís Freud-Begeisterung anschaulich auf den Punkt. Es spiegelt ein von Neurosen und Phobien überlagertes Unterbewusstes. Da ist die überdimensionale Hand einer androgynen Statue mit voller Brust, die gleichsam nach dem Betrachter zu greifen scheint - sie wird als Masturbationsphantasie gedeutet. Die Heuschrecke auf dem Mund, ein Insekt, das Dalí seit Kindheitstagen Schrecken einjagte. Eine nackte Frau in Rückenansicht, die sich in ein blaues Schnittbild innerer Organe auflöst, in das ein phallischer Kopf stößt, darüber ein Traumwirbel mit Vogelkopf, Hüten, Steinen, Schnecken, Vulven. Unten rechts der Künstler selbst in einer Kastrationsszene als Figur mit Kot auf der Hose - das ging selbst den Surrealisten damals zu weit."

"Für Sigmund Freud selbst war das alles völlig uninteressant", erklärt Almuth Spiegler in der SZ, "überhaupt verstand er nicht, warum diese Surrealisten ihn auf ihren Schild hoben, was für Kunst sie aus der Psychoanalyse gewinnen wollten. An Breton schrieb er noch versöhnlich: 'Vielleicht brauch ich, der ich der Kunst so fern stehe, es gar nicht zu begreifen.' Was wohl vor allem höflich sein sollte, denn Freud liebte es, die Alten Meister zu analysieren, den Moses des Michelangelo, Anna Selbdritt von Leonardo. Die Produktion der Surrealisten schien ihm wohl so langweilig wie künstlerisch fragwürdig, das Unbewusste allzu vordergründig." Nach einem Besuch Dalis soll er seine Meinung allerdings geändert haben.

In einem etwas mäandernden Text für 54books fragt sich die Kunsthistorikerin Christina Dongowski, warum Museen den politisch-esoterischen Kontext von Joseph Beuys' Arbeiten nie thematisieren - die Nähe zu heutigen, anthroposophisch geprägten Querdenkern sei manifest -, um dann doch wieder erleichtert abzuwinken: "Eigentlich ist es auch ganz gut, dass es nicht zur großen Beuys-Debatte gekommen ist. Denn die Sache mit Beuys und der Verankerung seiner künstlerischen Praxis im von esoterischen, okkulten und spiritistischen Lehren und Weltanschauungen geprägten Strang der Moderne ist sehr komplex. Das Problem Beuys ist zu interessant, um für eine deutsche Feuilleton-Debatte verheizt zu werden."

Weitere Artikel: Jo Seuß besucht für die taz das neue Zukunftsmuseum Nürnberg, kommt aber nicht so richtig in Stimmung: "Die Frage, wie kreativ KI sein kann, wird hier eindrucksvoll beantwortet. Ansonsten wird KI eher unkritisch als ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten inszeniert." Ingo Arend besucht für die SZ auf Sri Lanka die Berliner Kuratorin Natasha Ginwala, die gerade das siebte Colomboscope-Kunstfestival kuratiert hat. Laut Arend "ein interkultureller Kreuzungspunkt der unterschiedlichsten Positionen, fernab der üblichen Verdächtigen der westlichen Kunstszene".
Archiv: Kunst

Musik

Die Feuilletons trauern um die Funkmusikerin Betty Davis. Ihren kurzzeitigen Ehemann, den Jazzmusiker Miles Davis, stuppste sie Ende der Sechziger in Richtung Jazzrock, hält Ueli Bernays in der NZZ fest. In den Siebzigern machte sie eigenständig Karriere und holte sich 1973 für ihr Debütalbum Sly Stone und Santana mit ins Studio. "Die rockige, knackige, peitschende Begleitung durchbrach die geregelte Ordnung eines Songs." Mit ihrem Auftreten "formulierte sie auf offensive Weise weibliches Begehren, was Anfang der Siebziger offenbar noch viele irritierte", schreibt Nadine Lange im Tagesspiegel. "Religiöse Gruppen protestierten bei ihren Konzerten, Radiosender ignorierten sie." Ihre drei in den den Siebzigern entstandenen Alben fordern auch heute noch heraus, schreibt Philipp Krohn in der FAZ: "Nie zuvor hatte eine afroamerikanische Sängerin so ins Mikrofon geschrien, gefleht und ihren eigenen Körper so sehr ausgestellt. Diese drei Meisterstücke waren Ausdruck eines neuen schwarzen Selbstbewusstseins." Großen kommerziellen Erfolg hatte sie damit zwar nicht, doch ohne sie "wären Bands wie Mother's Finest oder Skunk Anansie kaum vorstellbar, auch Prince und Madonna haben sich von ihr einiges abgeschaut."

Um sie selbst war es seit diesen Alben still geworden, "die aggressive Funk-Diva hatte sich in eine schweigsame, entrückte Melancholikerin verwandelt", schreibt Andrian Kreye in der SZ und hat in seinem Dokumentarfilm von 2017 auch eine Äußerung von ihr selbst dazu mitgeschrieben: 'Ich habe niemandem erzählt, dass Miles gewalttätig war. Also schrieb und sang ich mir das Herz aus dem Leib. Drei Alben mit hartem Funk. Ich habe alles reingepackt. Aber die Türen in der Branche schlossen sich immer wieder. Immer wieder sagten mir weiße Männer hinter Schreibtischen, ich solle mich ändern - mein Aussehen, meinen Sound. Ich müsse 'dazugehören', sonst gäbe es keinen Vertrag. Ich lernte, dass Stars in der Stille verhungern.'"



Auf Carmen Villains Album "Only Love From Now On" lässt sich dem Klang der Liebe auf komplexe Weise nachspüren, schreibt Lars Fleischmann in der taz. In ihrem Stück "Gestures" etwa bezieht sie sich auf eine gleichnamige Arbeit der Künstlerin Hannah Wilke, in der es um den männlichen Blick geht. "Villains Gesten sind eher schwebender Natur, hybride Bewegungen durch die Raumzeit. Getragen durch einen vollen, dubbigen Beat, eingespielt auf einem schlichten Percussion-Set-up und einem verwischten Soundteppich, ist das Signalinstrument oftmals eine Trompete. Gespielt vom norwegischen Jazzmusiker Arve Henriksen, katapultiert uns das mal zärtliche, dann wieder wütende Spiel mitten rein in einen Disput, eine Verhandlung. Hörbares Anblasen, dominantes Vibrato - es ist hochinteressant und fesselnd, was hier passiert." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Adeles Feststellung bei der Verleihung der geschlechterneutralen Brit Awards, dass sie eine Frau sei, führte zu schrillen Wortmeldungen besonders woker Menschen, berichtet Gina Thomas in der FAZ. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Uwe Ebbinghaus über "Es geht immer ums Vollenden" von Nino aus Wien.

Besprochen werden eine Aufnahme des letzten von Nikolaus Harnoncourt dirigierten Konzerts in Zürich (NZZ), das neue Album von FKA Twigs (FR), ein Abend mit Golda Schultz und ihrem Klavierpartner Jonathan Ware im Berliner Pierre Boulez Saal (Tsp),  das neue Album von Black Country, New Road (Standard) und Mitskis "Laurel Hell" (taz).
Archiv: Musik