Efeu - Die Kulturrundschau

Zwischen Verzweiflung und billigem Trost

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12.02.2022. Zweiter Berlinale Tag: Die Filmkritiker lauschen der Symphonie der Tristesse, die Ulrich Seidl in "Rimini" am Abgrund der Festung Europas erklingen lässt. Auch im dritten Jahrgang von Carlo Chatrian steht die Berlinale noch unter dem Eindruck der "grauen breiigen Masse", die Dieter Kosslick hinterlassen hat, seufzt artechock. Die FAS rät dem Humboldt Forum zu einem Ausflug nach Guadeloupe, wo das Mémorial ACTe Museum vormacht, wie man Kolonialgeschichte und zeitgenössische Kunst in Beziehung setzt. Wenn deutsche Orchester in China touren, dann dient das meist handfesten politischen Interessen der chinesischen Seite, stellt Van fest.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.02.2022 finden Sie hier

Film

Kein Dolce Vita, nirgends: "Rimini" im Berlinale-Wettbewerb (Ulrich Seidl Filmproduktion)

Mit einem Schlagersänger weit jenseits seiner glamourösen Tage, der sich an der Adria voll ins Zeug legt, begrüßt Ulrich Seidls "Rimini" die Filmkritiker zum zweiten Berlinale-Tag. Wie so oft bei Seidl verwischen auch hier "die Grenzen zwischen Realem und Inszeniertem", schreibt Sophia Zessnik in der taz. Dem österreichischen Autorenfilmer ist einmal mehr eine Symphonie der Tristesse gelungen, erklärt Thomas Hummitzsch auf Intellectures. Die touristische "Bettenhochburg wird zu einer gespenstischen, abweisenden und leeren Kulisse. Geschlossene Hotels, heruntergelassene Fensterläden, verlassene Strände, der Regen peitscht erbarmungslos, später weht der Schnee fies ins Gesicht. Das süße Leben, la dolce vita, ist aus dieser Stadt längst ausgezogen. Seidl bebildert hier auch den Abgrund der Festung Europa, der sich im Umgang mit unzähligen irregulären Arbeitsmigranten zeigt." Aber: "'Rimini' liefert", schwärmt Dominik Kamalzadeh im Standard, wenngleich Seidl-Kenner, die auf Provokationen hoffen, mit Überraschungen rechnen müssen. "Statt sein Publikum nur aus der Reserve zu locken, zieht er es auch in einen Grenzbereich zwischen Verzweiflung und billigem Trost."

Auch im dritten Jahrgang von Carlo Chatrian liege noch immer der Schatten Kosslicks über dem Festival, meint Rüdiger Suchsland auf Artechock. Noch immer habe die Berlinale damit zu kämpfen, dass der frühere Leiter das Festival mit immer neuen Sektionen aus dem Leim hat gehen lassen: "Das Ergebnis einer solchen Menge ist nicht etwa zusätzliche Vielfalt, sondern zum einen eine wahnsinnige Unübersichtlichkeit und zum anderen der Grundsatz Eindruck einer grauen breiigen Masse, aus der kaum etwas Prägnantes heraussticht. Ein Filmfestival in meinem Verständnis sollte sich aber so verstehen, dass genau ein Gegengewicht zum Brei des Kinoalltags gesetzt wird. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Das Forum wird tendenziell unbedeutender, das Panorama findet seinen Charakter zwischen Forum, Encounters, Perspektive und Generation nicht. Insgesamt gibt es zu viel Austauschbarkeit und Nebeneinander des Diffusen."

Mehr vom Festival: Barbara Schweizerhof verneigt sich in der taz vor Isabelle Huppert, der die Berlinale in diesem Jahr ihre Hommage widmet. Aus dem Festivalprogramm besprochen werden außerdem die beiden Wettbewerbsfilme "Robe of Gems" von Natalia López Gallardo und "La Ligne" von Ursula Meier (Tsp), François Ozons "Peter von Kant" (FR, mehr dazu bereits hier), Peter Stricklands "Flux Gourmet" (Tsp), Dario Argentos "Occhiali Neri" (Weird Magazin), Quentin Dupieuxs "Unglaublich, aber wahr" (Intellectures), Alli Haapasalos "Tytöt tytöt tytöt" (taz) und Magnus Gerttens Dokumentarfilm "Nelly & Nadine" (Tsp).

Außerdem liefert das Artechock-Team Kurzkritiken. Ekkehard Knörer schreibt für Cargo Kurztexte vom Festival. Bei critic.de gibt es wie jedes Jahr einen Kritikerspiegel.

Abseits der Berlinale: Die Oscars wünschen sich eine Sondergenehmigung, damit sie ohne Impfpflicht stattfinden können, meldet David Steinitz in der SZ. Lili Hering besucht für die FAZ ein seit 2019 besetzes Kino in Paris, in dem sich die Pariser Filmkultur verschanzt. Rolf Giesen schreibt in der Welt Nachrufe auf die Spezialeffektemeister Douglas Trumbull und Robert Blalack. Besprochen werden Fernanda Valadez' "Was geschah mit Bus 670?" (Freitag), die Netflix-Serie "Inventing Anna" (FAZ, Presse), die "Sex and the City"-Fortsetzung "And just like that" (FR) und Roland Emmerichs "Moonfall" (FAZ, Presse, unsere Kritik hier).
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Literatur

Der Schriftsteller Aleš Šteger schreibt im "Literarischen Leben" der FAZ von seiner Reise zur Stadt Porvenir auf Feuerland, wo das Dichterkollektiv Casagrande ein ganz besonderes Projekt durchführt: "Anlässlich des fünfhundertsten Jahrestags der ersten Weltumsegelung schicken sie ein 22000 Verse langes Poem der Menschheit ins Weltall. Der Bürgermeister, der Feuerwehrmann, die Dichter, alle starren sie auf einen auf einem bemalten Holzbrett befestigten Roboterarm mit einer Satellitenantenne. Die Hightech-Apparatur krönt eine Kinderrutsche auf dem Spielplatz, was einen grotesken Kontrapunkt zum revolutionären Vorhaben ergibt. Der Roboterarm bringt die Satellitenschüssel in die richtige Position, sie ist auf die Kohlensack-Nebel gerichtet. Man beobachtet den Computerbildschirm. Ein paar Minuten Anspannung, Wind und Stille - und es ist vollbracht."

Außerdem: In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus der Schriftstellerin Irene Dische zum 70. Geburtstag, Peter Laudenbach wünscht Alexander Kluge in der taz zum 90. Geburtstag alles Gute. Besprochen werden unter anderem Vladimir Sorokins "Die rote Pyramide" (taz, Standard), Monika Helfers "Löwenherz" (FR), Daniel Schulz' "Wir waren wie Brüder" (Tsp) und der von Birgit Kreipe und Ron Winkler herausgegebene Band "Rote Spindel, schwarze Kreide. Märchen im Gedicht" (FAZ).
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Kunst

Davon, wie das Mémorial ACTe Museum in Guadeloupe historische Exponate der Sklavereigeschichte und zeitgenössische Kunst miteinander in Beziehung setzt und dabei zeigt, wie Geschichte die Gegenwart "aktiv formt", kann das Berliner Humboldt Forum lernen, meint Laura Helena Wurth (FAS) nach einem Besuch in der Karibik, wo sie auch mit der "grausamen Logistik des Sklavenhandels konfrontiert" wird: "Da sieht man gezeichnete Pläne davon, wie die Menschen gelagert wurden, um möglichst viele in einem Schiff transportieren zu können. Wie Löffel hat man sie im Bauch des Schiffs nebeneinandergelegt, mit weniger als einem Meter Platz über ihren Köpfen. ... Morgens bekamen sie eine Portion Getreidebrei und wurden mit Seewasser überschüttet, nachmittags mussten sie tanzen, damit sie beweglich blieben. Tote und Sterbende warf man über Bord. Das Werk von Abdoulaye Konaté, einem Künstler aus Mali, aus dem Jahr 2011, das neben diesen Plänen zu finden ist, zeigt einen großen Teppich, auf dem die Umrisse liegender Menschen - mit viel Abstand zueinander - sichtbar sind. Die Umrisse sind bunt und aus verschiedenen traditionellen Stoffen zusammengesetzt. Im Gegensatz zu den Transportzeichnungen, bei denen die Menschen durch kleine, schwarze, aneinandergereihte Strichmännchen dargestellt sind, haben sie hier Platz, sind bunt und strahlen."

Bild: Annemarie Heise: Sich kämmendes Mädchen, um 1922.
Endlich präsentiert das Leipziger Museum der Bildenden Künste in der aktuellen Ausstellung "Bilderkosmos Leipzig" aus dem Bestand der letzten 120 Jahre auch bisher vernachlässigte oder nie gezeigte DDR-Kunst, freut sich Sarah Alberti in der taz: "Vier Räume zum Alltag in der DDR bilden das jetzige Kernstück der Präsentation. Eindrücklich darunter die Bilder der Reinigungskraft 'Frida G.' (1977) von Monika Geilsdorf oder Ulrich Hachullas 'Erster Rentnertag' (1976/77), die die zeitlose Frage der Identifikation mit der eigenen Arbeit thematisieren. Ein anderer Raum widmet sich versteckten Freiheitsallegorien. Neben dem berühmten 'Hinter den Sieben Berge' (1973) von Mattheuer (...) hängen traurig schauende 'Spielende Kinder' (1981) von Gudrun Pontius - der Vater abgewandt, womöglich schon geflüchtet in den Westen."

Guardian
-Kritiker Jonathan Jones bewundert Ai Weiwei nach wie vor für dessen Mut. Aber ob Ai auch ein guter Künstler ist, findet Jones spätestens nach Besuch der in Cambridge gezeigten Ausstellung "The Liberty of Doubt", in der Ai etwa anhand von marmornen Toilettenhaltern über Handwerk und Fälschung nachdenkt, fraglich: "Eine traurige Möglichkeit ist, dass Ai Weiwei jetzt das gleiche Problem hat wie die regimekritischen Schriftsteller, die in den 1970er oder 80er Jahren aus dem kommunistischen Europa geflohen sind. Die wahre Bedeutung und Kraft seiner Kunst lag in der Tapferkeit seines Widerstands gegen Chinas diktatorischen Staat. Im Exil ist er hilflos. Ein Teil der Kunst hier trübt seine zuvor klare Haltung für Freiheit, indem sie impliziert, dass Demokratie genauso unfrei sei wie ein totalitärer Staat."

Weiteres: Wie hoch ist eigentlich das Budget der Documenta 15, wollte Marcus Woeller in der WamS wissen, immerhin wird die Hälfte des Budgets aus Steuergeldern finanziert. Aber die Verantwortlichen schweigen lieber: "Nach den Erfahrungen 2017 ist diese Intransparenz beunruhigend: Wer sein Budget nicht offenlegt, kann später nicht dafür belangt werden, es überzogen zu haben. Man kann diese Art der Öffentlichkeitsarbeit nur als bewusste Verschleierung interpretieren und eben nicht als verantwortlichen Umgang mit Steuergeldern." Ebenfalls in der WamS porträtiert Gesine Borcherdt den Künstler Julius von Bismarck, der für sein neues Projekt einen Spiegel ins All schießen will, um visuelle Informationen einzufangen. Als "Sensation" feiert Andreas Platthaus in der FAZ die Ausstellung "Sauve qui peut" in der Pariser Repräsentanz der New Yorker Galerie David Zwirner - nicht nur wegen der gezeigten Werke von Robert Crumb, seiner Frau Aline und der Tochter Sophie, sondern weil die Crumbs höchstpersönlich anwesend waren. Besprochen wird die Ausstellung "Beziehungsstatus: Offen. Kunst und Literatur am Bodensee" im Zeppelinmuseum Friedrichshafen (FAZ).
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Bühne

In einem epischen Gespräch, das Albrecht Thiemann im Van Magazin mit Alexander Kluge zu dessen 90. Geburtstag geführt hat, kommt Kluge auch auf die "Macht der Musik", insbesondere bei Richard Wagner zu sprechen: "Ich mag Überwältigung nicht, weder in der Musik noch im Denken noch sonst. Man muss Wagner aufsplittern, den Blick auf die Einzelteile, die feine, präzise Struktur, die seiner Musik innewohnt, richten. (…) Auf das Genie des Kammermusikers Wagner stößt man erst, wenn man ihn auf das Gerüst, auf seine Grundelemente zurückführt, auf die 'Orchesterperspektiven', die großartigen Einzelheiten. (...) Wenn man in seinen Opern die Besonderheiten sucht, ist er genial; wenn man seine Musik mit Pomp und großem Gefolge zelebriert, taugt sie für Reichsparteitage."

Außerdem: In der taz berichtet Marius Ochs, wie Sascha Förster, neuer Museumsleiter, das Düsseldorfer Theatermuseum wiederbeleben will.

Besprochen werden Brit Bartkowiaks Inszenierung von Dominik Buschs "Der Chor" am Theater Luzern (nachtkritik), Martina Gredlers Inszenierung von Ödön von Horváths "Figaro lässt sich scheiden" am Stadttheater Klagenfurt (Standard), Mauro Balestrazzis Buch "La tournée del secolo. Toscanini e la straordinaria nascita dell'Orchestra della Scala" (NZZ) und der von Ursula Renner und Christiane Mühlegger-Henhapel unter dem Titel "Mit dir keine Oper zu lang" herausgegebene Briefwechsel zwischen Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauss und Alfred Roller (NZZ).
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Musik

Wenn deutsche Orchester in China touren, dann diene dies meist handfesten politischen Interessen der chinesischen Seite, muss Hartmut Welscher in VAN feststellen. Das Schlagwort vom Kulturaustausch, mit dem solche Reisen vom Westen aus beworben werden, sei lediglich "eine legitimatorische Floskel. ... Was man in den gleichförmigen Tourneeblogs und Videotagebüchern zu sehen bekommt, erinnert eher an den Ferienkatalog von Schauinsland Reisen." Dabei changiere "das Chinabild oft zwischen Ethnozentrismus und Exotismus. Entweder wird das China des unbegrenzten Wachstums gespiegelt, das auch chinesische Staatsmedien gerne verbreiten: begeisterte, jugendliche Fans, futuristische Konzertbauten, staunende Musiker:innen vor Wolkenkratzern, exotische Kulinarik, ein Land der Superlative. Oder man bemüht ewig gestrige Stereotype vom rohen, unkultivierten China, dessen Zuhörer während des Konzerts laut sind und auf Handys schauen. Auch wenn klassische Musik in China schon lange nicht mehr nur 'das Andere' ist, das man sich aneignen möchte, werden die Gastspiele als Aufbauhilfe für ein musikalisches Entwicklungsland verstanden."

Außerdem: Für VAN kochen sich Kevin Ng und Aksel Tollåli durch Anna Netrebkos Kochbuch. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker hier Jeanine Rueff und dort Grace Williams. Jakob Biazza plaudert in der SZ mit dem Gitarristen Slash. Joachim Hentschel arbeitet sich für die SZ durch Dokus, Bücher und Theaterstücke über Britney Spears.

Besprochen werden ein Zürcher Brahms-Abend des Pianisten Marc-André Hamelin (NZZ) und das neue Album von Big Thief (Tsp).
Archiv: Musik