Efeu - Die Kulturrundschau

Edel wie ein Polyesteranzug

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16.02.2022. Die FR erlebt auf der Berlinale die Neuerfindung des Kinos als Alpendrama. ZeitOnline feiert mit Cem Kaya die Popmusik der Gastarbeitergenerationen. Die FAZ sehnt sich nach einem Ende der Postdramatik, aber auch die Nachtkritik möchte wieder mehr sein als nur ein Produkt des Spätkapitalismus. Die FAZ liest die Post aus der Abteilung Sensivity Reading. Und im Freitag erklärt der Musiker Sven Helbig, warum es auch Musik für neoliberale Jasager geben muss.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.02.2022 finden Sie hier

Film

Erfindet das Kino in den Alpen neu: "Drii Winter" von Michael Koch

Mit dem Schweizer Krebs- und Alpendrama "Drii Winter" von Michael Koch ist eine echte Entdeckung im Berlinale-Wettbewerb zu machen, schwärmt Daniel Kothenschulte in der FR: "Man wird unwillkürlich an Terrence Malick erinnert in der Art, wie hier die Inszenierung der Landschaft emotionale Räume schafft, doch Michael Koch ist kein schwelgerischer Ästhet wie der Amerikaner. In der konzentrierten Arbeit mit Laien bremst er zugleich die Romantik. ... Ausgerechnet im Rahmen eines Alpendramas erfindet Koch das Kino förmlich neu - mit klassischen Elementen, die er entstaubt und einbringt, als hätte man sie noch nie benutzt. Es ist eine Inszenierung, die gleichermaßen asketisch ist wie überwältigend, die offen ist für Improvisation und doch nichts dem Zufall überlässt." Einen "kargen Film" sah tazler Fabian Tietke, der sich auch wegen eines Chores, der die Handlung vorträgt, ans Theater erinnert fühlt. "Armin Dierolfs Bilder wirken nicht selten überkontrolliert", aber immerhin ist der Film mit seinem Laienensemble "hervorragend besetzt".

Exzessiv: "Liebe, D-Mark und Tod" von Cem Kaya

Cem Kaya ist mit seinem Dokumentarfilm "Liebe, D-Mark und Tod" über die Popmusik der Gastarbeitergenerationen "ein überaus interessanter, liebevoll kompilierter Film" gelungen, "der zeigt, wie sich in der Geschichte der Popmusik jene der westdeutschen Gesellschaft spiegelt", schreibt Jens Balzer auf ZeitOnline. "So wird in dem Film auch die Geschichte eines Landes sichtbar, das mit einer völlig verfehlten Migrationspolitik selbst zur Entstehung jener 'Parallelgesellschaften' beitrug, die es später so wortreich beklagte." Gespräche mit dem Filmemacher führen Fluter, Dlf Kultur und der BR.

Zum Ende des Festivals - das Programm wurde die letzten sechs Tage verdichtet präsentiert, heute Abend werden die Sieger bekannt gegeben, noch vier Tage lang sind Filmvorführungen allein dem Publikum vorbehalten -, zum Ende des Festivals also kommt Hanns-Georg Rodek in der Welt nochmal auf die Debatte zu sprechen, ob die Berlinale nicht einfach physisch und digital parallel stattfinden könne: "Es ist nicht möglich, Film und Stadt einfach voneinander abzukoppeln, wie das geschähe, würde man sich nur den Film ins Wohnzimmer holen. Eine hybride Berlinale wäre der Anfang eines Selbstmords auf Raten gewesen."

Mehr vom Festival: Durch diesen Berlinale-Wettbewerb zieht sich "so etwas wie eine globale Aussage, eine weltweite Sehnsucht", resümiert Sonja Zekri in der SZ - nämlich die Sehnsucht nach der Weite des Lands, gar dem ländlichen Leben. Inga Barthels berichtet im Tsp von einer Paneldiskussion zum iranischen und afghanischen Kino. In der taz spricht Jonathan Perel über seinen im Forum gezeigten Dokumentarfilm "Camuflaje", der eine Reise des argentinischen Schriftstellers Félix Bruzzone zur früheren Militärbasis Campo de Mayo schildert, wo zahlreiche Menschen gefoltert wurden. Verena Lueken empfiehlt in der FAZ Filme aus der Retrospektive, die in diesem Jahr den Hollywoodschauspielerinnen Mae West, Rosalind Russell und Carole Lombard gewidmet ist.

Aus dem Festivalprogramm besprochen werden Ruth Beckermanns Dokumentarfilm "Mutzenbacher" (taz), Carla Simóns "Alcarràs" (Tsp), Jonathan Perels "Camuflaje" (Tsp), Graham Moores Gangsterfilm "The Outfit" (Welt), Isabelle Stevers "Grand Jeté" (taz) und neue Filme aus den Subsahara-Nationen (Tsp), aus Italien (taz) sowie aus Kasachstan und Usbekistan (Tsp).

Abseits der Berlinale: Adrian Lobe blickt in der taz sorgenvoll darauf, dass Filmstudios allmählich damit beginnen, die Stimmen verstorbener Stars digital zu klonen. Für die SZ sprechen Claudia Tieschky und Willi Winkler mit dem Fernsehregisseur Heinrich Breloer, der morgen 80 Jahre alt wird. Besprochen werden Christian Schwochows "München - Im Angesicht des Krieges" (Jungle World) und eine Neuauflage von "Der Prinz von Bel Air" (Presse).
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Bühne

Das deutsche Theater ist nicht nur durch die Pandemie erschlafft, befindet Simon Strauss ganz grundsätzlich in der FAZ, sondern auch durch die Marketingstrategien von Kulturfunktionären, die unter den Schlagworten "digital" und "divers" ein neues Publikum erreichen wollen. Und erst recht durch die ganze "postdramatischen Nebelkerzenwerferei". Es braucht eine Erneuerung des Regietheaters: "Die vor gut zwanzig Jahren ausgerufene Epoche der Postdramatik könnte diesmal nicht von Kritikern, Dramaturginnen oder Theaterwissenschaftlern, also nicht vom Betrieb selbst, sondern vom Publikum beendet werden. Von jenen Zuschauerinnen und Zuschauern also, die an die Suggestion des psychologischen Schauspiels ebenso gewöhnt sind wie an die Einfühlung in ferne, fremde Welten. Und die eine Erzählstruktur schätzen, die ihnen nicht bei jeder Gelegenheit mit ihren eigenen Produktionsproblemen auf die Nerven geht."

In der Nachtkritik bekennt Esther Slevogt in einer Kolumne, dass ihr René Polleschs Diskurstheater mittlerweile so fremd geworden ist wie Hans Neuenfels' Hochämter der Innerlichkeit. Dabei wusste sie lange zu schätzen, die Entfremdungszusammenhänge ihrer Existenz kennengelernt zu haben: "Aber auch das ist schon ziemlich lange her und inzwischen finde ich mich immer öfter mit dem Gedanken im Theater wieder: ok, ich mag vielleicht kein authentisches Individuum sein und alles, was meine Seele so an Emotionen produziert, ist nur ein Fallout des Kapitalismus, der mich formatierte. Bloß, was nützt mir das jetzt konkret? Ist das wirklich alles, das da in mir fühlt, denkt und zweifelt? Ist der Welt, wie sie inzwischen ist, mit diesen Fragestellungen überhaupt noch beizukommen?"

Besprochen werden Caren Jeß' hippes Volksschauspiel "Knechte" über Männer im Gefängnis im Wiener Kosmos Theater (Nachtkritik), Ersan Mondtags Inszenierung von Webers "Freischütz" in Kassel (FAZ) und die Uraufführung von Eugen Engels Oper "Grete Minde" in Magdeburg (taz).
Archiv: Bühne

Literatur

In einer FAZ-Glosse berichtet amüsiert Andreas Platthaus von einem eigentlich verstörenden Brief, den der Autor Sören Sieg von der Abteilung "sensitivity reading" seines Verlags erhalten hat, nachdem er das Manuskript seines neuen Reisebuchs, für das er nach Afrika gegangen war, eingereicht hatte. "'Es ist ratsam bei einem Reisebericht - der als Genre an sich schon in koloniale Fußstapfen tritt - immer die subjektive Perspektive zu betonen', hat Sören Sieg erfahren, denn 'schließlich bietet Ihr Buch eine Perspektive an und nicht die Wahrheit.' Das wäre ja auch die Höhe, wenn ein Sachbuchautor nach Wahrheit strebte. Über die verfügt doch die Sensitivity-Expertin. Die deshalb auch die Subjektivität des Autors so gut zu ergänzen vermag: 'Sie finden ausführliche Hinweise und Literaturtipps für Ihre Recherche direkt im Manuskript.' Dort könnte man sie doch eigentlich für den Druck gleich belassen, denn wozu sollte sich ein Autor selbst Gedanken um Quellenauswahl oder gar seine Erlebnisse machen dürfen, den man derart einschätzt: 'Sie wirken wiederholt wie jemand, der eigene Privilegien nicht reflektiert hat.'"

Außerdem: Im Standard-Interview sieht der Zsolnay-Verleger Herbert Ohrlinger keine Benachteiligung von Autorinnen auf dem Buchmarkt, auch wenn sie nur ein Drittel der Verlagsprogramme ausmachen. Er sieht höchstens ein Defizit auf der anderen Seite: "Ich finde es fatal, dass Männer so wenig Belletristik lesen. Vieles bleibt ihnen dadurch verschlossen." In der FAZ porträtiert Hannes Hintermeier den Verleger Albert C. Eibl, der sich mit seinem Verlag Das vergessene Buch auf Entlegenes und Vergessenes spezialisiert hat.

Besprochen werden unter anderem Fatma Aydemirs "Dschinns" (SZ, FR), Aharon Appelfelds "Sommernächte" (NZZ), die erstmalige Veröffentlichung von Theodor Fontanes Übersetzung von Catherine Gores "Der Geldverleiher" (SZ), Sofi Oksanens "Hundepark" (NZZ), Delphine Horvilleurs "Mit den Toten leben" (Tsp) und Ronya Othmanns Lyrikband "Die Verbrechen" (FAZ).
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Kunst

Lydia Ourahmane: House of Hope Archives

Claus Leggewie besucht für die taz im Frankfurter Portikus die Ausstellung der algerische Künstlerin Lydia Ourahmane, die sich in ihren Arbeiten mit dem Bürgerkrieg, mit Christen in Algerien oder mit Migranten befasst: "Mit der Arbeit 'In Absence of our Mothers' von 2018 dokumentiert sie die Geschichte ihres algerischen Großvaters, der sich alle sechsunddreißig Zähne ziehen ließ, um sich mit der so bewirkten Untauglichkeit dem Militärdienst für die französische Kolonialmacht zu entziehen. Lydia Ourahmane ließ sich einen aufbewahrten goldenen Backenzahn in den Mund einpflanzen. Dessen Wert entspräche exakt der Summe, die algerischen Bootsflüchtlingen für ihre Überfahrt nach Spanien abgeknöpft wird."

In der NZZ gibt Philipp Meier einen groben Überblick über Zensur und Sittenwächterei, gegen die sich die Kunst seit der frühesten Höhlenmalerei von Lascaux behaupten muss, und erkennt: "Wer sich ermächtigen kann, Zensur auszuüben, der hat die Macht. Und genau darum geht es auch der heutigen Cancel-Culture. Auch sie zensuriert Kunst. Dabei gibt sie allerdings vor, nicht aus der Position der Macht, sondern der Ohnmacht zu handeln. Ihr Modus Operandi ist der Opferstatus."

Weiteres: In der SZ schreibt Kito Nedo zum Tod der kubanischen Malerin Carmen Herrera.

Besprochen werden eine Louise-Bourgeois'-Ausstellung in der Londoner Hayward Gallery (Guardian), eine Ausstellung des Medienkünstlers Walid Raad im Frankfurter Mousonturm (FR), eine Schau des Malers Gerhard Hoehme in der Neue Galerie Gladbeck (FAZ), eine Hommage an den Berliner Maler Hermann Bachmann in der Galerie Parterre (Tsp).
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Musik

Als sehr durchlässig erweist sich im Freitag-Gespräch der Komponist und Musiker Sven Helbig, der auch schon mal mit Scooter gemeinsame Sache gemacht hat, aber trotzdem nicht aus der Dreiakkordelogik des Punk kommt. Es gebe schließlich "auch schlechte Avantgarde und schlechte Zwölftonmusik. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass der reine Versuch, das reine Experiment schon etwas Gutes an sich ist. ... Ich habe auch zwei Freunde, die sind für Ärzte ohne Grenzen nach Lesbos gegangen. Dort ziehen sie 16 Stunden am Tag halbtote Menschen aus dem Wasser, und wenn sie um halb zwei ins Bett gehen, hören sie Max Richters 'On the Nature of Daylight' und finden wieder ihren Frieden. Wer bin ich, denen zu erklären, das sei Musik für neoliberale Jasager, wie ich das neulich gelesen habe?"

Für ZeitOnline plaudert Sinem Kılıç mit der Schauspielerin und Musikerin Christin Nichols, die mit "I'm Fine" ihr Solo-Debütalbum veröffentlicht hat. Mit ihrem Song "Today I Choose Violence" verarbeitet sie die demütigenden Phrasen, mit denen Frauen von manchen Männern gern belegt und konfrontiert werden. "Mein Körper wird die ganze Zeit kommentiert. In der Schauspielerei wusste ich zumindest ansatzweise, worauf ich mich da einlasse, aber leicht fallen wird es mir wahrscheinlich nie, damit umzugehen. Wenn du als Schauspielerin eine Geschichte erzählst, wirst du eben zur Projektionsfläche. . ...  In 'Today I Choose Violence' gibt es ja diese Textzeile: 'Du musst an deinem Körper arbeiten, besonders an den Beinen.' Das hat ein Musikproduzent zu mir gesagt, ganz am Anfang meiner Karriere. Danach ist das glücklicherweise nie mehr passiert."



Außerdem: In Neuseeland werden Coronamaßnahmengegner, die eine Straße besetzt haben, unter anderem mit Popmusikbeschallung zermürbt, schreibt Jakob Biazza in der SZ-Popkolumne. Für den Tagesspiegel hat sich Aida Baghernejad mit dem Rapper Hendrik Bolz getroffen, der ein Buch über seine Jugend in Stralsund geschrieben hat. In der NMZ erinnert Stefan Pohlit an den Komponisten Peter-Michael Riehm, der heute 75 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden eine Jakob Biazzas SZ-Rezension nach zu urteilen wohl ziemlich wahnwitzige Netflix-Doku über Kanye West und das neue Album der North Mississippi Allstars: "Das Album hat eine Soul-Breitseite, ist weniger roh, sondern so edel wie ein Polyesteranzug am Wochenende in einer Säuferbude", schreibt Christian Schachinger im Standard. Wir hören rein:

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