Efeu - Die Kulturrundschau

Darüber spricht kein Mensch

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17.02.2022. Den Goldenen Bären für "Alcarràs" von Carla Simón nicken die Filmkritiker ab, insgesamt fehlt es der Berlinale aber längst an Aura und Zumutungen, klagen sie. Immerhin stimmt jetzt die Genderparität, freut sich die Welt. Wer die Enthemmung im Netz in Westeuropa beklagt, kennt den Osten nicht, meint Vladimir Vertlib in der taz. Die SZ erfährt von James Gregory Atkinson in Dortmund, wie der Jim Crow-Rassismus nach Deutschland kam. Die FR lässt sich von Andreas Mühe in Frankfurt an vergessene Helden erinnern: Die Biorobots, die aus der Sowjetunion kamen, um in Tschernobyl aufzuräumen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.02.2022 finden Sie hier

Film

Sensationelle Kinder: "Alcarràs" von Carla Simón

Der Goldene Bär der in diesem Jahr mit ihrem Hauptprogramm frühzeitig zu Ende gegangenen Berlinale geht an "Alcarràs" von Carla Simón (hier alle Auszeichnungen auf einen Blick). Der Film handelt von einer Familie, die in Südkatalonien eine Pfirsichplantage bewirtschaftet und sich gegen deren eigentliche Eigentümer behaupten muss. "Ein bisschen wie an die Leine genommen", fühlt sich Till Kadritzke (critic.de) von diesem Film, doch "die Kinder in diesem Wettbewerbsbeitrag sind eine Sensation", schreibt Janick Nolting in einer Notiz auf Artechock. Zugängliches Kino, das wohl vor allem deshalb und wegen seiner Thematik ausgezeichnet wurde, findet Katja Nicodemus auf ZeitOnline. Doch immerhin zugute halten muss man der Jury, dass sie mit ihren Entscheidungen "die verschiedensten Ästhetiken, Tonlagen, Formen, Haltungen des Kinos gewürdigt" habe, darunter auch den Koreaner Hong Sang-soo und Claire Denis. Nicodemus' Fazit des Jahrgangs: "Es war ein Wettbewerb wie ein netter Schulausflug, bei dem sich die Außenseiter, Eigenbrötler und interessanten Nervensägen rar machten. Womöglich hätte man aus dem Gesamtprogramm mehr Zumutungen im besten Sinne finden und im Bärenrennen platzieren können."

Generell ist die Berlinale in der Krise, lässt sich fast allen Betrachtungen zum Festival entnehmen. Nicht nur wegen der Pandemie, die ihr nun schon zweimal zugesetzt hat, auch wenn sie sich "mit Blessuren, Verlusten an Aura und Bedeutung" behauptet hat, schreibt Andreas Kilb in der FAZ. "Das Weltkino, zumal jenes aus Amerika und Fernost, ist kein selbstverständlicher Gast mehr in Berlin. Auch die Streamingdienste, die einen immer größeren Teil des Marktes beherrschen, zeigen ihre besten Produktionen nicht auf der Berlinale. Die Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und der Programmleiter Carlo Chatrian sind jetzt seit drei Jahren im Amt. Sie werden die Filmfestspiele bald neu aufstellen müssen, um ihre Position unter den Festivals zu halten."

So viel (zumindest annähernde) Genderparität wie in diesem Jahr war wohl noch auf keinem der großen A-Festivals, resümiert Hanns-Georg Rodek in der Welt: 41 Prozent aller Filme waren von Frauen, die Zahl der weiblichen Hauptfiguren überwiegt sogar und bei der Abschlussgala wurden deutlich mehr Frauen als Männer ausgezeichnet. Vieles im Programm war preisverdächtig, warum aber Claire Denis und Hong Sang-soo mit Silbernen Bären bedacht wurden, versteht er nicht: "Beide sind nicht wirklich herausragend im Kanon dieser Regisseure, sondern eher Fingerübungen." FR-Kritiker Daniel Kothenschulte attestiert Hong Sang-Soos Filmen immerhin eine "therapeutische Kraft".

Überhaupt: Frauen, Alter, Sexualität. Die Filme mit Emma Thompson, Sophie Rois, Valeria Bruni Tedeschi und Isabelle Huppert zeigen Welt-Kritiker Elmar Krekeler: "Die Berlinale des Jahres 2022 ist die Geschichte eines ganz neuen Coming-of-Age", denn "von Alterdiskriminierung kann keine Rede sein." Zu erleben ist auf diesem Festival "die Geschichte der Frauen, die das Lieben neu lernen, wenn sie es gar nicht mehr erwarteten. Die immer noch gern tabuisierte Geschichte von Frauen mit jungen Männern. Die Geschichte einer Liebesumkehr gewissermaßen." Dazu passend wirft Dunja Bialas von Artechock einen Blick auf die unterschiedlichen Konstellationen des Begehrens, die in diesem Festival zu sehen waren.

Mehr vom Festival: Thomas Abeltshauser resümiert im Freitag die deutschsprachigen Berlinalefilme. Valerie Dirk denkt im Standard darüber nach, wie sinnvoll es ist, geschlechtsspezifische Auszeichnungen abzuschaffen. Im Freitag spricht Ulrich Seidl über seinen Wettbewerbsfilm "Rimini" (mehr dazu hier). Susanne Kippenberger spricht für den Tagesspiegel mit der Schauspielerin Dale Dickey, die in "A Love Song" mit 60 Jahren ihre erste Hauptrolle hat. Anke Sterneborg berichtet in der SZ von der Verleihung des Goldenen Ehrenbären an Isabelle Huppert, die wegen einer Coronainfektion allerdings nicht teilnehmen konnte.

Aus dem Festivalprogramm besprochen werden Isabelle Stevers "Grand Jeté" (taz), Paolo Tavianis "Leonora addio" (Tsp), Natalia Sinelnikovas "Wir könnten genauso gut tot sein" (Tsp), Simon Brückners Dokumentarfilm "Eine deutsche Partei" über die AfD (ZeitOnline) sowie Andrew Dominiks Dokumentarfilm "This Much I Know To Be True" über Nick Cave und Warren Ellis (Tsp),

Abseits der Berlinale: Martina Knoben spricht in der SZ mit der Filmemacherin Margarethe von Trotta, die kommenden Montag 80 Jahre alt wird. Auch das Paramount-Studio will jetzt mit einem eigenen Dienst ins Streaminggeschäft einsteigen, meldet Christian Meier in der Welt. In der FAZ gratuliert Michael Hanfeld dem Fernsehregisseur Heinrich Breloer zum 80. Geburtstag. Besprochen werden "Nowhere Special" mit James Norton (Presse) und die fünfte Staffel der Sky-Serie "Gomorrha" (FAZ). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich diese Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Kunst

Bild: James Gregory Atkinson - 6 Friedberg Chicago, 2021. Grafik: Marcus Alasovic Studio

In ein "Archiv des Gegenwissens" blickt Gürsoy Doğtaş (SZ) in der Ausstellung "6 Friedberg-Chicago" im Dortmunder Kunstverein, wo der Künstler James Gregory Atkinson 150 Jahre afrodeutsche Geschichte und Rassismus in Filmen und Zeitkapseln beleuchtet: "Aus der Perspektive der weißen Mehrheitsgesellschaft verdichtet das Archiv Vergangenheit in afrodeutsche Erinnerung. (…) Dennoch versteht sich das Archiv nicht als ein Depot für Erinnerungen, sondern als einen Ort, an dem komplizierte und sich zuweilen widersprechende Historien aufgezeichnet werden. Beispielsweise erfahren die afroamerikanischen GIs Rassismus nicht allein im nachkriegsdeutschen Alltag, sondern auch in ihren Kasernen. 'Das US-Militär hatte den institutionellen sowie gelebten Jim Crow-Rassismus in eben das Land transferiert, dem es die Demokratie beibringen wollte,' bringen es Maria Höhn und Martin Klimke in ihrem Buch 'Ein Hauch von Freiheit?' auf den Punkt."

Im FR-Gespräch mit Sandra Danicke erklärt Andreas Mühe, dessen aktuelle Ausstellung "Stories of Conflict" derzeit im Frankfurter Städel Museum zu sehen ist, was es mit seiner Serie "Biorobots I" auf sich hat: "Die Fragestellung war: Gibt es Helden in meinem Leben? Wenn ja, wer könnte das sein? Für mich sind es die sogenannten Biorobots. Menschen, die nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl aufgeräumt haben. Diese Helden kamen aus der kompletten Sowjetunion und sind dann wieder in ihre Dörfer zurück verschwunden und dort kläglich gestorben, über 500 000 Tote. Darüber spricht kein Mensch. Es gibt Bilder, die zeigen, wie sie versuchen, sich mit ein bisschen Blei auf den Köpfen zu schützen, was Schwachsinn war. Wann braucht man einen Helden in der Gesellschaft? Wenn die große Krise da ist. Wenn die 1986 da nicht aufgeräumt hätten, dann wäre das für ganz Europa viel schlimmer geworden." Im Monopol Magazin fasst Silke Hohmann die Ausstellung knapp zusammen.

Außerdem: Ende der Woche wird das Hundertwasser Art Centre with Wairau Maori Art Gallery in der neuseeländischen Küstenstadt Whangarei eröffnet, die Pläne stammen noch viom Künstler selbst, meldet der Standard. Besprochen wird die große Georgia O'Keeffe-Ausstellung in der Baseler Fondation Beyerle (taz).
Archiv: Kunst

Literatur

In seinem Roman "Zebra im Krieg" greift Vladimir Vertlib einen Fall auf, der sich in der Ukraine zugetragen hat: Ein Blogger wird von einer Bürgerkriegspartei in einem Video gedemütigt, woraus sich ein ganzer Rattenschwanz an Social-Media-Dynamiken ergibt. Ihm ging es dabei weniger um den Ukrainekonflikt und Putin, sagt der in der Sowjetunion geborene Schriftsteller der taz, sondern um "die Verhältnisse an der Peripherie Europas" und insbesondere um die dort zu beobachtende Enthemmung im Netz: "Verglichen mit dem, was man dort lesen kann, ist das, was wir heute in Westeuropa an Verschwörungstheorien rund um die Coronakrise erleben, harmlos. Was in Netzen auf Russisch geschrieben steht, hat eine andere Dimension. ...  Die heutigen Gesellschaften in Ost- und Ost-Mitteleuropa sind als Folge von lange andauernden Diktaturen autoritär geprägt, die Menschen sind oft sehr misstrauisch und wankelmütig. Sie hängen häufig ihr Fähnchen schnell in den Wind, marschieren mit den jeweiligen Machthabern mit, ohne genau zu wissen, wohin. Das Trauma der Diktatur steckt tief in all diesen Gesellschaften drin."

Besprochen werden unter anderem die Ausstellung "Ulysses von 100 Seiten" im Literaturmuseum Strauhof in der Schweiz (NZZ), Bettina Flitners "Meine Schwester" (taz) und die unter dem Titel "Der Sklavenkrieg" veröffentlichte Originalversion von Arthur Koestlers "Die Gladiatoren" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus "Grete Minde". Bild: Andreas Lander.

Was für eine Entdeckung, jubelt Udo Badelt (Tagesspiegel), der im Theater Magdeburg Olivia Fuchs' Uraufführung von Eugen Engels Oper "Grete Minde" über eine junge Frau, die im Jahr 1617 aus Rache die Stadt Tangermünde angezündet haben soll, gesehen hat. Engel war eigentlich Kaufmann und wurde 1943 von den Nazis ermordet. (Unser Resümee) Badelt "lauscht Klängen, die - abgesehen von den Proben - noch keine Ohren live vernommen haben, auch nicht die des Komponisten selbst. Delikat sind sie, wechseln geschmeidig vom Streicherüberschwang zu fragilen Kantilenen, beim großen Brand im Finale züngeln die Flammen erst in den Holzbläsern, bevor der fantastische Chor (Martin Wagner) übernimmt. Kneipenszenen, Liebes- und Eifersuchtsduette, Volkstänze: Dies ist realistisches, down-to-earth-Musiktheater ohne Überhöhung, was natürlich auch Fontanes Vorlage geschuldet ist. Anders als Wagner, Strauss, Humperdinck greift Engel nicht zu Mythos oder Märchen, sondern zu einem Stoff, bei dem Gerichtsakten vorliegen - sie sind in Tangermünde zu besichtigen. Man könnte auch sagen, Engel ist Vertreter einer geerdeten Spätromantik." In der nmz wird Joachim Lange allerdings nicht ganz glücklich mit der Inszenierung von Olivia Fuchs.

Außerdem: In der NZZ porträtiert Bernd Noack den Regisseur Hakan Mican, der sich in drei Stücken am Berliner Gorki-Theater und der Neuköllner Oper dem Leben in traditionellen Berliner Arbeitervierteln widmet. Für die FAZ ist Irene Bazinger nach Cottbus gereist, um mit Stephan Märki, Intendant des Stadttheaters über Rechte, Theater als "moralische Anstalt" und Armin Petras - "ein dezidiert politischer Regisseur, kein Rassist" - zu plaudern. Im Standard erzählt Olga Kronsteiner, weshalb das Wiener Theatermuseum massiv bei der Inventarisierung seines Bestands hinterhinkt.
Archiv: Bühne

Musik

Für die FAZ hat Jan Brachmann das Luzerner Sinfonieorchester besucht, an das der Dirigent Michael Sanderling nach einer Mittelkürzung von Dresden aus gewechselt ist. In Luzern hingegen signalisieren die Zeichen seit einigen Jahren großzügiges Wachstum, auch wegen des Engagements privater Stiftungen. "Der Schweizer Industrielle Michael Pieper ist so begeistert von der Orchesterarbeit, dass er einen Fonds von fünfzehn Millionen Franken auflegen ließ", doch "mit Viktor Vekselberg hat das Orchester freilich auch einen Mäzen, der als russischer Oligarch und Putin-Vertrauter gilt und der seit 2018 auf der Sanktionsliste der Vereinigten Staaten steht. Vekselberg, seit langem äußerst kulturinteressiert, ist steuerpflichtiger Bürger im Schweizer Kanton Zug. Intendant Numa Bischof Ullmann begegnet eventuellen Bedenken wegen der Herkunft des Geldes mit rechtsstaatlichem Pragmatismus: Er könne und müsse in dieser Frage ja nicht strenger sein als die Schweizer Steuerbehörde."

Besprochen werden eine Vinyl-Box mit dem Frühwerk von Stereo Total und Françoise Cactus (taz), OG Keemos Rapalbum "Mann beißt Hund" (FR), das neue Soloalbum des Jethro-Tull-Sängers Ian Anderson (NZZ), das neue Album der Wiener Band Pauls Jets (Standard), ein neues Album von Beach House (Tsp), das Comebackalbum von Urge Overkill (Standard), Funny van Dannens Song über Karl Lauterbach (Tsp) und Tanya Tagaqs neues Album "Tongues" (taz).

Archiv: Musik