Efeu - Die Kulturrundschau

Man erklärt, was eine Vorband ist

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21.02.2022. Der Tagesspiegel fordert eine neue Spielstätte für die Berlinale, die sonst von der Tristesse des Potsdamer Platzes mit in Baugrube gerissen werden wird. SZ und Standard begeben sich mit Sartre am Burgtheater in den Gewissensgulag. Die Irish Times fragt sich, warum die Stasi ihre Agenten in Lyrik schulte. Die SZ leidet mit der Musikbranche an der Bürokratie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.02.2022 finden Sie hier

Film

Von Musik affiziert: Grace Kaufman in "Über mir der Himmel"

Seine helle Freude hat Perlentaucher Lukas Foerster an "Über mir der Himmel" von Josephine Decker. Ihre Verfilmung des gleichnamigen Romans von Jandy Nelson "realisiert ein erstaunliches Maß an sinnlicher Freiheit. Licht, Musik, Text, Körper: Alles ist zuallererst Bewegungsmoment. Musik insbesondere ist immer schon gelebte, vielstimmige Entgrenzung, entspringt Körpern und affiziert sie gleichzeitig." Wobei es nicht einmal die verschrobenen Michel-Gondry-Momente sind, die hier beglücken, sondern toll ist der Film "immer dann, wenn er sich der Hauptdarstellerin, Grace Kaufman, gleich macht. Eine Symbiose: Jede kleinste Erregung des Mädchens - und das Mädchen ist, auf komplett unaffektierte Art und Weise, ganz Erregung - wird von der Kamera aufgegriffen, unmittelbar übersetzt in Bewegung."

Die Berlinale könnte einen Kulissenwechsel gut vertragen, meint Christiane Peitz im Tagesspiegel, nachdem der sowieso schon nicht sonderlich charmante Postdamer Platz in diesem Jahr wegen zig Bauzäunen noch einmal ganz besonders trist gewesen ist: "Wenn der Potsdamer Platz nicht in absehbarer Zeit wieder attraktiv wird, muss eine neue Hauptspielstätte her." Und in seinem Berlinale-Fazit auf Artechock versteht Rüdiger Suchsland zumindest die Welt der Filmkritiker nicht mehr, die zwar jeden Film von Hong Sang-soo als Offenbarung feiern, ihrem Lesepublikum aber überhaupt nicht vermitteln können, warum.

Außerdem: Daniel Kothenschulte (FR) und Bert Rebhandl (FAZ) gratulieren der Filmemacherin Margarethe von Trotta zum 80. Geburtstag. Besprochen werden Jens Meurers Dokumentarfilm "An Impossible Project" über der Rettung von Polaroid (Standard), Simon Brückners auf der Berlinale gezeigter Dokumentarfilm "Eine deutsche Partei" über die AfD (NZZ), David Blue Garcias auf Netflix gezeigte Fortsetzung zum "Texas Chainsaw Massacre" (Perlentaucher) und die auf Disney+ gezeigte Serie "Pam & Tommy" über den Sextape-Skandal um Pamela Anderson und Tommy Lee in den Neunzigern (NZZ).
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Bühne

Regina Fritsch, Dörte Lyssewski, Tobias Moretti in Sartres "Geschlossener Gesellschaft". Foto; Matthias Horn / Burgtheater


Am Wiener Burgtheater hat Martin Kusej Sartres "Geschlossene Gesellschaft" aus der Versenkung geolt, was SZ-Kritiker Wilfgang Kraliczek nach anfänglicher Irritation gar nicht schlecht findet: "'Geschlossene Gesellschaft' ist also ebenso wenig das Stück zum Lockdown, wie 'Die Pest' - ein anderes existenzialistisches Hauptwerk - der Roman zur Pandemie ist. Trotzdem war es keine schlechte Idee, es wieder einmal aus dem Fundus zu holen. Der Text bietet tolles Spielmaterial, das in Kušejs Inszenierung - seiner bisher besten als Direktor des Burgtheaters - dann auch entsprechend genutzt wird." Standard-Kritiker Ronald Pohl kam sich vor  wie in einem "Gewissens-Gulag", in dem "unser pandemisch geknicktes Ich" erforscht wird. Dabei verströmte die Inszenierung den "Charme einer Ausgrabungsaktion": "Praktisch zu jeder Gelegenheit eignet dem Abend das säuerliche Phlegma der Pflichtübung. Man lauscht den Wut- und Hassarien der Drei, blickt auf die grell überschminkten Münder der Damen - und empfindet sich doch merkwürdig allein gelassen in dieser (schlechten) Ewigkeit." Theresa Luise Gindlstrasser bleibt in der Nachtkritik etwas unentschieden, konstatiert aber: "Die Hölle, das ist Theater, das sein Publikum wegdenkt. Wegwünscht."

In der FAZ berichtet Felix Ackermann, wie Polens Regierung gegen Kulturinstitutionen vorgeht. Im Visier steht gerade der Direktor des Krakauer Juliusz-Słowacki-Theater, Krzysztof Głuchowski, der nicht nur die polnische Sängerin Maria Peszek ("Polen gab es, und es starb.") auftreten lässt, sondern auch Adam Mickiewiecz' Nationaldrama "Totenfeier" feministisch deuten lässt: "Nach der Premiere im November beendete das Warschauer Kulturministerium die verabredete Förderung des Słowacki-Theaters aus nationalen Mitteln - angeblich wegen Formfehlern in den Antragspapieren. So entstand eine Finanzierungslücke von jährlich 650.000 Euro. Alle Premieren für 2022 mussten abgesagt werden. Der staatliche Regionalsender TVP3 informierte über Pläne, den Theaterdirektor Głuchowski wegen 'Verrohung der Sprache' abzusetzen. Nach einer Kontrolle warf der Vorstand der Woiwodschaft Kleinpolen Głuchowski vor, er habe Richtlinien nicht eingehalten und den Ruf des Hauses beschädigt.

Besprochen werden Floris Vissers "Hercules"-Inszenierung bei den Händel-Festspielen in Karlsruhe (die Judith von Sternburg in der FR als spannendes, tragisches Gerichtsdrama lobt), ein Theaterabend zu Edouard Louis im Freien Schauspiel Ensemble in Frankfurter (FR), Strindbergs "Vater" in Wiesbaden (Nachtkritik), Leoš Janáceks "Jenufa" im Theater an der Wien (Standard) und Leoš Janáčeks Oper "Die Sache Makropulos" an der Staatsoper in Berlin (Welt).
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Literatur

Dieser Artikel in der Irish Times ist zwar schon ein paar Tage alt, aber zeitlos lesenswert: Philip Oltermann geht hier in der Frage nach, warum in den Achtzigern bei der Stasi mindestens einmal monatlich länger Licht brannte und sich Personal zum Verfassen und Vortragen von Gedichten traf. Keine gemeinsame Vorliebe für die Muse, sondern eine Anordung von ganz oben war dafür die Ursache. "Ein intendierte Funktion dieses Stasi-Gedichtezirkels war es wohl, die Funktionäre darin zu schulen, sich in den mysteriösen Verstand eines dissidenten Schriftstellers hineinzuversetzen. Ein 1980 veröffentlichtes Papier des Thinkthanks für wissenschaftlichen Kommunismus des Ministeriums für Staatssicherheit hatte behauptet, dass Kunst und Kultur eine besondere Neigung zu 'verdeckten und unbewussten Angriffen' hätten, da ihre Praktiker solche Geheimtechniken wie 'Allegorien, Metaphern, Fabeln, Verfremdungseffekte' einsetzten." Einer der solcherart ausgebildeten Soldaten, der fortan literarische Zirkel unterwandern sollte, frustrierte seine Vorgesetzten allerdings erheblich, "da er sich als unzuverlässiger Erzähler entpuppte, der lose zwischen Loyalität zum sozialistischen Staat und der Absicht, selbst als Schriftsteller zu reüssieren, schwankte."

Im Standard nimmt der Ethiker und Theologe Kurt Remele die aktuelle Verfilmung in Serienform von Emily St. John Mandels bereits vor einigen Jahren erschienenem Roman "Das Licht der letzten Tage" zum Anlass für eine kleine Philosophie über die Freiheit des Menschen und das Gemeinwohl. Der Roman handelt davon, wie eine Influenza binnen kürzester Zeit die Zivilisation lahmlegt, die sich nur mühsam wieder aus ihrer Asche erhebt: "Angesichts der ungeheuren Katastrophe ertappte sich Jeevan bei der Überlegung, wie menschlich die moderne Welt eigentlich gewesen war: 'Sie war niemals unpersönlich gewesen. Es hatte immer eine riesige, störungsanfällige Infrastruktur von Menschen gegeben, die um uns herum arbeiteten. Doch sobald die Leute nicht mehr in die Arbeit gehen, kommt das ganze System zum Erliegen.' Diese Infrastruktur ist unser Gemeinwohl. Obwohl es nicht ohne Mängel ist, darf man dankbar dafür sein. Will man gemeinwohlorientiert handeln, ist man jedoch verpflichtet, die Bedingungen unseres Zusammenlebens so zu verändern, dass sie wirklich allen ein guten Leben ermöglichen."

Weiteres: In der NZZ schickt Paul Jandl eine Liebeserklärung an die Buchmesse in Leipzig, deren Absage er den Großkonzernen zur Last legt. Besprochen werden unter anderem Fatma Aydemirs "Dschinns" (Standard), Szczepan Twardochs "Demut" (online nachgereicht von der Zeit), Tove Ditlevsens "Gesichter" (Freitag), Martin Ottos Biografie über Ulrich Biel (NZZ), Yael Inokais "Ein simpler Eingriff" (Dlf Kultur), Emma Stonex' "Die Leuchtturmwärter" (Standard), die zweibändige Gesamtausgabe von Gilbert Sheltons Comicklassiker "Freak Brothers" (taz) und Maddalena Fingerles "Muttersprache" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Richard Dove über August von Platens "Farbenstäubchen":

"Farbenstäubchen auf der Schwinge
Sommerlicher Schmetterlinge
Flüchtig sind sie, sind vergänglich
..."
Archiv: Literatur

Kunst

In der FAZ brerichtet Frauke Steffen, dass das Orlando Museum of Art in Florida angeblich 25 verschollene Werke des New Yorker Künstlers Jean-Michel Basquiats aufgetan haben will. Unter anderem die New York Times hat Zweifel an der Echtheit angemeldet. Ingo Arend schreibt in der taz einen Nachruf auf den amerikanischen Künstler und Fotografen Dan Graham. Kartin Bettina Müller besucht für die taz die Ausstellung der Dada-Künstlerin Hannah Höch im Berliner Bröhan-Museum.
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Musik

Jakob Biazza hat sich für die SZ in der deutschen Musikbranche umgehört, wie diese in die Zukunft blickt und insbesondere auf das derzeit von erheblichen Risiken in der Planung betroffene Konzertgeschäft. Auch um den Hamburger Fonds, der Ausfälle abmildern soll, geht es - aus dem 2,5 Milliarden Euro umfassenden Topf wurden bislang gerade einmal 55 Millionen ausgezahlt. Die Branche stöhnt. "Bei der Abwicklung waren da zumindest am Anfang eben Menschen, die angelernt wurden, aber die Praxis der Branche nicht kannten. Man reiche also eine Veranstaltung ein und bekomme als Rückfrage zum Beispiel: 'Was ist eine Support-Band-Gage?' Dann geht es los: Man erklärt, was eine Vorband ist. Man beschreibt, dass diese Musiker da waren, auch wenn sie nicht auf der Karte stehen, mit Techniker und Equipment und ohne Auftritt. Man gibt all das ein und schickt es ab. Man wartet. Man bekommt die Antwort: 'Wurde abgelehnt.' ... Gut möglich, dass alles inzwischen ruckelfreier geht. Gut möglich aber auch, wir sind in Deutschland, dass die Bürokratie eine große Idee destabilisiert."

Außerdem: Für die taz porträtiert Jan Feddersen die ukrainische Sängerin Alina Pash, die nach Vorwürfen, sie sei für einen Auftritt auf der Krim über Russland gereist, ihre ESC-Qualifikation hingeschmissen hat. Besprochen werden neue Bücher Musik in Leipzig und in Venedig (NZZ), Eddie Vedders neues Soloalbum "Earthling" (Standard) und das neue Dreampop-Album von Beach House: "Psychodelisch, träumerisch, verklebt, aber schon auch mit Popappeal", schreibt dazu Niko Kappel in der taz.
Archiv: Musik
Stichwörter: Venedig, Krim, Bürokratie