Efeu - Die Kulturrundschau

Potenziell triggernde Geschichten

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28.02.2022. Wie funktioniert Protest gegen Russland? Sicher nicht, indem Tschaikowsky, der "schwule, europäische Pazifist", aus dem Programm genommen wird, wie es das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin tat, meint die Welt. Aber auch nicht durch Lippenbekenntnisse, ergänzt die SZ und meint: Russlands Kulturschaffende haben es sich zu lange gemütlich unter Putin eingerichtet. Durch die "Putinlinse" blickt sie außerdem auf Hakan Savas Micans Tschechow-Inszenierung in Hamburg, um russische Gewaltpolitik zu deuten. In der taz empfiehlt Francesca Melandri dem deutschen Publikum dringend die Lektüre des italienischen Schriftstellers und Partisanen Beppe Fenoglio.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.02.2022 finden Sie hier

Musik

Wegen des russischen Kriegs gegen die Ukraine hat das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Vladimir Jurowski am Sonntag kurzfristig sein Programm geändert: Statt Tschaikowsky gab es den ukrainischen Nationalhymnenkomponist Mychajlo Werbyzkyj zu hören (hier eine Aufzeichnung). "Jetzt wollen wir ausnahmsweise mal nicht hysterisch werden", kommentiert Elmar Krekeler in der Welt diese Entscheidung, die er für ziemlich fehl am Platz hält. Tschaikowsky war zwar "sicher der russischste der russischen Komponisten des musikalisch schwer nationalistischen ausgehenden 19. Jahrhunderts, aber noch sicherer der europäischste. Das wiederum stand für seine Konkurrenz vom 'Mächtigen Häuflein' um Mussorgsky und Borodin und Rimski-Korsakoff für Dekadenz, für Verwestlichung und für Verweichlichung. Also für alles, was auch der Irre im Kreml hasst. Ausgerechnet mit dem Canceln von ihm, dem schwulen, europäischen Pazifisten, ein Zeichen zu setzen, wäre, sollte es Schule machen, schon ziemlich bedenklich." In einem Dlfkultur-Gespräch im Vorfeld des Konzerts hat Jurowski erläutert, warum er sich dafür entschlossen hat, das Programm zu ändern.

Mit einem dann doch eher wachsweichen als entschlossenen Statement hat sich Anna Netrebko nun auf Instagram dafür ausgesprochen, dass "dieser Krieg bald aufhört" - eingebettet ist das Statement in eine Rechtfertigung für ihr Schweigen in den letzten Tagen (sie habe erst in sich gehen wollen, bevor sie unüberlegt handelt) und von einem Hinweis, dass es auch weiterhin nicht zielführend sei, von Künstlern Stellungnahmen abzuverlangen - womit sie wohl auf Valery Gergiev anspielt, auf den der Druck gerade wächst (unser Resümee) und der derzeit wie vom Erdboden verschluckt wirkt.

Außerdem: In der NZZ spricht der belgische Popsänger Stromae unter anderem über persönliche Krisen und seine musikalischen Vorlieben. In der Welt gratuliert Manuel Brug dem Geiger Gideon Kremer zum 75. Geburtstag. Edo Reents berichtet in der FAZ von einem Heidelberger Symposion über Bob Dylan. Für die SZ hat Joachim Hentschel die Scorpions in Hannover besucht.

Besprochen werden die Netflix-Dokuserie über Kanye West (NZZ), das Comeback-Album der Tears for Fears (FR) sowie ein Mahler-Abend mit Gustavo Dudamel und den Berliner Philharmonikern (Tsp).
Archiv: Musik

Kunst

Trotz russischer Propaganda wächst der Protest auch unter russischen Kulturschaffenden, meldet Sonja Zekri in der SZ. Die Moskauer "Garasch" teilte beispielsweise mit, ihre Arbeit "bis zum Ende der menschlichen und politischen Tragödie" einzustellen. Ganz geheuer sind Zekri die Bekenntnisse nicht: "Man kann das als Krokodilstränen abtun, als späte Reue von Kulturschaffenden, die Putin nicht verhindert und es sich oft ganz gemütlich eingerichtet haben. Und natürlich spricht hier der westlich orientierte, mobile, urbane Teil der Gesellschaft, Künstlerinnen und Künstler, die Forschenden, die in Jahrzehnten Beziehungen zu westlichen Universitäten, Theatern und Museen aufgebaut haben und neben allem Entsetzen über Russlands Angriff auf das Nachbarland auch ganz direkt getroffen sind. Wer in der Provinz wohnt und nie die Möglichkeit hatte, nach London oder Paris zu reisen, wer außer den staatlichen Medien wenig mitbekommt, der sieht keinen Grund für Empörung."

Für Hyperallergic hat Hakim Bishara Stimmen aus der ukrainischen und der russischen Kunstszene gesammelt. Ukrainische Museen bemühen sich, ihre Sammlungen vor drohenden Angriffen zu schützen. "Aleksandra Kovalchuk, Direktorin des Odessa Fine Arts Museum, sagte der New York Times, dass Mitarbeiter Kunst im Keller 'versteckten' und 'versuchten, Sicherheit zu gewährleisten', wobei sie das Wort 'Stacheldraht' erwähnte."

Die Zeit hat ihre Besprechung zur Ausstellung "Walk!" in der Frankfurter Schirn online nachgereicht, in der Hanno Rauterberg noch einmal an die Bedeutung des Gehens, vor allem die politische erinnert wird: "Hiwa K zum Beispiel wanderte die Fluchtroute nach, die ihn einst aus dem Irak nach Griechenland und Italien führte. Milica Tomić war zwei Monate in der Belgrader Innenstadt unterwegs, sie besuchte die Schauplätze des bewaffneten Aufstands gegen die einstige Nazi-Besetzung, immer dabei, für alle sichtbar, eine Kalaschnikow - ohne dass irgendwer davon Notiz genommen hätte. Hier ist der Raum, den die walking artists für sich gewinnen, nicht bloß ein Raum der Selbsterkundung; er wird als Träger der Erinnerungen, als Ort des gesellschaftlichen Handelns begriffen."
Archiv: Kunst

Bühne

Szene aus "Wanja in der Gaussstraße". Bild: Krafft Angerer

Mit Hakan Savaş Micans Inszenierung von "Wanja in der Gaußstraße" nach Tschechow und Jette Steckels Inszenierung von Nino Haratischwilis gerade erst erschienenem Roman "Das mangelnde Licht" feierten dieses Wochenende gleich zwei Stücke über Russland Premiere am Hamburger Thalia Theater, die Till Briegleb in der SZ, auch wenn sie nicht mehr verändert wurden, vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse gesehen hat. "Durch die Putinlinse" lassen sich "viele Verhaltensweisen wiederfinden, die russische Gewaltpolitik vielleicht interpretieren helfen. Die große Diskrepanz zwischen einem männlich übertriebenen Selbstbild und einer eher kümmerlichen Existenz, die Serebrjakow (Oliver Mallison) in diesem Stück verkörpert, lässt sich als Metapher für ein Land verwenden, das politisch von übertriebenem männlichen Nationalstolz geleitet wird, während Lebensumstände wie Infrastruktur in weiten Bereichen ruinös sind. Auch der abschließende Rat der desillusionierten Nichte Sonja (Meryem Öz) an den unglücklichen Wanja (Stefan Stern), 'lerne das Leben zu ertragen', mag eine Stimmung im desillusionierten Russland beschreiben, wo das verratene Volk seinen Autokraten so lange erträgt, bis dieser sie an den Rand eines Weltkriegs führt."

In der FAZ rauft sich Irene Bazinger nach Steckels Haratischwili-Inszenierung über den Unabhängigkeitskampf Georgiens nach dem Zerfall der Sowjetunion indes die Haare: Nahezu alles, was den Roman ausmache, "seine mäandernde Erzählweise, die fragile Poesie, das aufgelöste Raum-Zeit-Gefüge, die Komplexität der Figuren und der komplizierte historische Hintergrund, wird hier fahrlässig übergangen." Die Inszenierung buchstabiere "brav, bieder und ohne interpretatorischen Zugriff einfach die Handlung nach, lässt deren Dramaturgie notgedrungen außer Acht, suhlt sich in ein paar prägenden Kapiteln, muss andere knapp zitieren oder ganz streichen - irgendwann möchte das Publikum schließlich heim." Nachtkritikerin Anke Dürr ist indes dankbar, dass Steckel jegliche Verbindung zum Krieg in der Ukraine vermeidet.

Szene aus "Ode". Foto: Karolina Miernik

Voller Witz und Tiefe erscheint Michael Wurmitzer im Standard Andras Dömötörs Burgtheater-Inszenierung von Thomas Melles Roman "Ode" über Cancel Culture, Rechte und die Frage, was Kunst sagen darf. "Markus Meyer kann nicht nur berückend singen, er zieht auch gleich einmal blank. Als Regisseur sieht er sich einer jungen Generation von Schauspielern gegenüber, die mit der Idee von bloßer Nachahmung, aber auch potenziell triggernden Geschichten nichts mehr anfangen können: 'Das sind traumatisierende Inhalte, dem setz ich mich nicht aus' - 'Dann können wir nichts mehr darstellen' - 'Genau'. Als Verfechter der Idee von Darstellung durch Verstellung im Theater gibt er dem zum Trotz mit bemerkenswertem Körpereinsatz, umgeschnalltem Schwangerschaftsbauch und Kopftuch nacheinander eine Vergewaltigte, eine vor dem Machomann zitternde Hausfrau und eine ausländische Putzkraft. Wenn nicht Künstler die weniger privilegierten Gruppen der Gesellschaft auf den Bühnen darstellten, kämen die dort dann überhaupt vor?"

Besprochen werden Lily Sykes Inszenierung von Anne Webers Roman "Annette, ein Heldinnenepos" am Staatstheater Hannover - anders als die Vorlage eine "gemütliche Heldinnenverehrung gegen unsere ungemütlichen Kriegstage", meint Nachtkritiker Jens Fischer. Außerdem Milo Raus Inszenierung "Grief & Beauty" im Frankfurter Mousonturm (taz), Susanne Kennedys "Jessica - an Incarnation" an der Berliner Volksbühne (taz).
Archiv: Bühne

Film

Im Standard spricht Kenneth Branagh über seinen neuen, autobiografisch grundierten Film "Belfast", für den er das Jahr 1969 seiner vom Nordirlandkonflikt heimgesuchten Heimatstadt rekonstruiert hat (unsere Kritik). Warum er dazu nicht vor Ort, sondern vor Kulissen auf einem Studiogelände gedreht hat, möchte Dominik Kamalzadeh von dem Regisseur wissen. "Ein Wort: Covid. Wir musste ja die Stadt von 1969 darstellen, und das hätte geheißen, sehr vieles ändern zu müssen. Ich wäre gern zurück auf die Straßen gegangen, auf denen ich aufgewachsen bin, aber meine Hälfte ist ohnehin abgerissen worden. Die Geschichte flüsterte mir zu: 'Bau es auf! Find den Mythos, kümmer dich nicht um das Wörtliche.'"

Besprochen werden Ali Vatansevers "Saf" (taz).
Archiv: Film

Literatur

Morgen wäre der italienische Schriftsteller und Partisan Beppe Fenoglio 100 Jahre alt geworden. In Italien wurde er lange Zeit nicht veröffentlichtet, erklärt die Autorin Francesca Melandri im taz-Interview  und legt ihn dem deutschen Publikum wärmstens ans Herz: Er "behandelte die resistenza als menschliche Erfahrung, nicht als etwas Ideologisches." Seine "Einzigartigkeit, um die ihn berühmtere Schriftsteller wie etwa Italo Calvino, der auch Partisan war, beneidet haben, liegt in der Art, wie er das Trauma des Krieges, aber eben auch die resistenza, diese große Bewegung, die Italien seine Würde zurückgegeben hat, literarisch durchgearbeitet hat. Dass der Nazismus das absolute Böse war, bedeutete für ihn nicht, dass die Partisanen das absolute Gute verkörperten. Sie waren Menschen: komplizierte, mangelhafte, unsympathische jedenfalls zwiespältige Wesen, wie auch die Bevölkerung, wie auch die Faschisten. Bei Fenoglio gibt es dieses plötzliche Aufblitzen von Schönheit, genauso plötzliche Scheußlichkeit und Gemeinheit, Feigheit." Vor kurzem ist eine Neuausgabe von Fenoglios "Eine Privatsache" erschienen.

Außerdem: Katharina Granzin (taz) und Marie-Luise Goldmann (Welt) berichten von einer prominent besetzten Lesung im Berliner Maxim Gorki Theater gegen den Krieg in der Ukraine.

Besprochen werden unter anderem Szczepan Twardochs "Demut" (Tsp), Annika Domainkos "Ungefähre Tage" (Tsp), Simone Lapperts Lyrikband "längst fällige verwilderung" (FR), Sasha Filipenkos "Die Jagd" (Standard), Philipp Winklers "Creep" (Freitag), Berit Glanz' "Automaton" (Tsp), Norbert Hummelts "1922" (Tsp), Jonas Grethleins "Mein Jahr mit Achill. Die Ilias, der Tod und das Leben" (online nachgereicht von der FAZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Kai Lüftners und Wiebke Rauers' "Marie Käferchen" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Marleen Stoessel über Inger Christensens "Sonett XV":

"Sie steigen auf, die Schmetterlinge des Planeten,
in der mittagsheißen Luft des Brajčinotal,
..."
Archiv: Literatur