Efeu - Die Kulturrundschau

Apokalyptisches Sittenbild

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03.03.2022. Cannes will vorerst keine russischen Delegationen mehr empfangen, auch die US-Filmindustrie boykottiert Russland. Verbietet der Krieg Nuancen?, fragt der Tagesspiegel. Die FAZ warnt vor pauschalem Boykott - denkt an die "anständigen Russen", ruft etwa Gideon Kremer. In Russland reicht indes schon ein DIN-A4-Blatt mit der Aufschrift "Nein zum Krieg" für dreißig Tage Haft, berichtet die taz. Düster und männlich sind die Kinostarts diese Woche: Matt Reeves depressiver Batman macht im besten Sinne keinen Spaß, freut sich die Presse, die taz lässt sich derweil von Paul Schraders Casino-Drama "The Card Counter" durchbohren. Der Tagesspiegel feiert die neue Transparenz im Leipziger Grassi-Museum, wo Raubkunst vorerst nicht mehr gezeigt wird.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.03.2022 finden Sie hier

Film

Das Filmfestival von Cannes hat angekündigt, bis zum Rückzug Russlands aus der Ukraine keine russischen Delegationen mehr zu empfangen, daneben boykottiert auch die US-Filmindustrie Russland, weiterhin gibt es Friedensaufrufe etwa seitens der Berlinale. Doch "wozu sind solche Appelle gut", fragt sich Christiane Peitz im Tagesspiegel. Das Kind werde zu oft mit dem Bade ausgeschüttet, zumal sich zahlreiche russische Filmschaffende ebenfalls gegen den Krieg positioniert haben. "Es ist das eine, offizielle russische Delegationen für unerwünscht zu erklären, wie Cannes es jetzt tut. Aber es ist etwas anderes, russische Künstler als Ganzes vom Europäischen Filmpreis auszuschließen. Der Krieg verbietet Nuancen? Es ist angemessen, wenn die westliche Welt prominente Putin-Unterstützer wie den Dirigenten Valery Gergiev jetzt nicht auftreten lässt. Aber es darf weder Gesinnungsprüfungen geben noch einen pauschalen Mit-Boykott all derjenigen, die sich als Gefahren aussetzen, wenn sie protestierten."

Nein, nicht der Sänger von The Cure, sondern Robert Pattinson als "The Batman"

Ein Asphaltgedicht in nächtlichem Schwarz: Von Matt Reeves' neuer Batman-Variante ist Presse-Kritiker Markus Keuschnigg völlig umgehauen. "Selten hat ein dermaßen teurer, popkulturell derart zentraler Film es gewagt, so sehr keinen Spaß machen zu wollen" - und das ist positiv gemeint: "So eng die nur von kaltem Neonlicht beschienenen Gassen sind, so labyrinthisch die Wohnungen und Lokale, so vielgliedrig ist auch die Erzählung selbst, ausgebreitet über drei Stunden, angelehnt an ambitionierte Neo-Noirs. ... Weniger zählt hier der einzelne Handlungsstrang als die Summe von allen, montiert zum atmosphärisch apokalyptischen Sittenbild und radikal gegenwärtigen Zivilisationsbefund." Eine "tolle und depressive Batman-Version", bestaunt Fritz Göttler in der SZ und beteuert: "Keine fantastische Superhelden-Action, sondern eine schwarze Detektivgeschichte mit tiefgründiger Off-Erzählung, wie man sie von Chandler & Co kennt", steht hier im Mittelpunkt.

Auch Perlentaucher Sebastian Markt kann dem Fledermaus-Treiben einiges abgewinnen: Der Regisseur entpuppe sich einmal mehr "als gewissenhafter Handwerker eines viszeralen Actionkinos. Toll etwa eine (natürlich nächtliche) Verfolgungsjagd, die in ihrer visuellen und erzählerischen Perspektivierung an die Körper derer angebunden bleibt, die in sie verstrickt sind, was sie als kinetisches Kino eher verstärkt als abschwächt. ... Und auch wo die Gewalt ohne maschinelles Zutun von Körpern auf andere Körper ausgeht, dominieren längere Einstellungen, die die brutale Arbeit des Heldentums als eine unterstreichen, die eben Arbeit macht." Daniel Kothenschulte von der FR sah diesem Film gerne zu und stellt verwundert fest, "wie altmodisch dieser Film inszeniert ist". In der taz kann Jenni Zylka allerdings nur müde gähnen: Dieser Film zementiere "den alten Batman-Status-Quo, anstatt die Figuren innovativ in die Zukunft zu schieben, gar modern oder überraschend zu plotten". Weitere Besprechungen in NZZ, Dlf Kultur, FAZ und in der Zeit.

Nein, nicht noch ein Batman, sondern Paul Schraders "The Card Counter"

Düster und männlich ist in dieser Woche auch Paul Schraders "The Card Counter": Ein kühles Casino-Drama, dessen Verästelungen bis in die Foltereien von Abu Ghraib reicht, schreibt Robert Wagner auf critic.de: Dies "ist bei aller Zurückhaltung ein bohrender Film. Einer, der seine Mittel genau kennt und einsetzt. Der sich als Liebes- und Seelendrama gibt, aber auch als Sportfilm über Spieler und Turniere seine Fährten genau legt. Der seine Filmstile genau kennt. Am Ende aber ist er ein Film von Paul Schrader durch und durch, in dem Männer mit ihren Obsessionen und Dämonen mit der expressiven Kraft des Kinos seziert werden. In dem Liebe nur als Teil der Zerstörung möglich ist."  Doch "bei allem Fatalismus gehört auch das zu Paul Schraders Werk: Wo Verzweiflung herrscht, gibt es Grund zur Zuversicht", schreibt dazu Arabella Wintermayr in der taz. "Auch wenn Aussichtslosigkeit die Stimmung des Films bestimmt, ist die Erlösung immer schon darin angelegt."

Auch Perlentaucher Fabian Tietke war beeindruckt: Der Film ist "ein Kammerspiel in großen Räumen, nicht selten in riesigen Spielsälen". Er "spart nicht mit Schauwerten, stellt die Glitzerwelt der Casinos und die gleichzeitige Profanität ihrer ausgelatschten Teppiche Tells grauer Selbstisolation gegenüber." Schraders Vorgängerfilm "First Reformed" mag ein Alterswerk gewesen sein, doch "gegenwärtiger als 'The Card Counter' kann ein Film kaum sein". In der FR schwärmt Daniel Kothenschulte für Oscar Isaac, der hier die Hauptrolle spielt und zwar "so eindringlich wie der junge De Niro". Freitag-Kritiker Michael Pekler wirft mit diesem Film "einen Blick in ein Fass voller fauler Äpfel, so schwarz und abgrundtief, dass man seinen Boden nicht mehr erkennen kann".

Besprochen werden Michael Kranz' Dokumentarfilm "Was tun?" über Zwangsprostitution in Bangladesch (Tsp), Joe Wrights "Cyrano"-Neuverfilmung (Standard), Nadav Lapids "Aheds Knie" (Presse), Michaela Kirsts, Monica Lãzurean-Gorgans und Ebba Sinzingers Dokumentarfilm "Wood - Der geraubte Wald" über mafiöse Raubrodungen (SZ), die Apple-Serie "Severance" (Welt) und die Wiederaufführung von Francis Ford Coppolas "Der Pate" (SZ). Außerdem erklärt uns die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Kunst

Das Leipziger Grassi-Museum hat zur Neueröffnung mit dem Projekt "Reinventing Grassi.SKD" seine ethnologischen Sammlungen umgekrempelt und macht es dabei allemal besser als das Humboldt Forum, findet Nicola Kuhn im Tagesspiegel. Die Sammlung wird transparenter, auch didaktischer - und jene Objekte, über deren Restitution noch verhandelt wird, werden nicht ausgestellt: "Statt die Bronzen zu zeigen, wird in den Vitrinen die Geschichte ihres Raubs und die Bedeutung der Stücke für das Museum dargestellt. Und der nigerianische Künstler Emeka Ogboh, der schon 2020 mit einer Plakataktion in Dresden auf die Bedeutung des Verlusts für ihr Herkunftsland aufmerksam machte, widmet ihnen gleich daneben eine Installation. 'An der Schwelle' heißt sie. In einem abgedunkelten Raum treten die abfotografierten Konterfeis der Obaköpfe zwischen Vorhängen hervor. Es bleibt unklar, ob sie kommen oder gehen."

In der SZ berichtet Peter Richter indes von der Aktion der Künstlergruppe Para, die die obersten sechs Zentimeter des Kilimandscharo abgetragen hat - und diese als Geisel nimmt, bis jene Hälfte des Gipfelsteins, die einst von dem Kolonialgeografen und Grassi-Gönner Hans Meyer vom Kilimandscharo mitgebracht wurde und die sich heute im Handel befindet, nach Tansania zurückkehrt: "Zuvor hatten die Deutschen die tansanischen Behörden von der Sache in Kenntnis gesetzt. Während die Regierung von Tansania bisher wenig Interesse daran gezeigt und jedenfalls kein offizielles Rückgabeersuchen gestellt hat, haben sich nach Angaben von Para aber lokale Stellen in der Kilimandscharo-Region bereits für die Rückführung des Steins ausgesprochen."

Vergeblich hatte der ukrainische Kunsthistoriker, Journalist und Kurator Konstantin Akinsha bereits Mitte Februar dazu aufgerufen, die Sammlungen in den ukrainischen Museen zu evakuieren, Bestände wurden nun zum Teil in Kellern versteckt, berichtet Olga Kronsteiner im Standard: "Die internationale Organisation forderte dieser Tage ebenso wie die Unesco die Einhaltung der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut ein. Das internationale Abkommen war 1954 eigens aufgrund der Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs verabschiedet worden. Es sieht nicht nur die Respektierung des eigenen, sondern im Konfliktfall explizit auch jene des fremden Kulturguts vor. Allerdings werden sich Aggressoren, die selbst das Völkerrecht ignorieren, wenig um Vereinbarungen zum Erhalt von Kulturgut kümmern. Eher ist vom Gegenteil auszugehen. Angesichts der Entwicklungen in den vergangenen Tagen befürchtet Akinsha auch im Hinblick auf die Zerstörung historischer Bausubstanz und wichtiger Architekturmonumente nicht weniger als 'die größte kulturelle Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg.'"

Selten wurde den Werken von Maria Lassnig so viel Raum gegeben wie jetzt in der Ausstellung "Wach bleiben" im Kunstmuseum Bonn, freut sich Patrick Bahners in der FAZ und verliert sich ganz in den Bildern: "Im 'Selbstporträt mit Stab' (1971) presst die Malerin die Lippen zusammen, als wollte sie darüber schweigen, dass sie auf die Leinwand hinter ihr den Umriss der Mutter gezeichnet hat, die ihre Hände aus dem Bild im Bild gespenstisch herausstreckt, um die Schultern der Tochter zu umklammern. Leistet Maria Lassnig in der Pose eines heroischen Dulders dem Sprechzwang der psychoanalytischen Situation Widerstand? Aber verbündet sich der Analytiker des Bildes nicht mit der Mutter, wenn er es in dieser Weise zum Sprechen bringen will?"

Außerdem: Im taz-Interview mit Falk Schreiber spricht der Fotograf Andrzej Steinbach über seine Ausstellung "Modelle und Verfahren" im Hamburger Kunstverein.
Archiv: Kunst

Bühne

Inzwischen sind fünf TheaterleiterInnen staatlicher Häuser in Russland aus Protest gegen Putin zurückgetreten, aber der Krieg spaltet auch die Theaterszene, berichtet Katja Kollmann in der taz: "In Moskau findet - wie geplant - das renommierte Theaterfestival 'Goldene Maske' statt. Auf der Bühne des Moskauer Taganka-Theaters, Gastgeber des Festivals, steht am Abend des 27. Februar der Regisseur Maxim Isajew und fordert Wladimir Putin zur Beendigung des Krieges auf. Daraufhin wurde die zweite Aufführung durch das gastgebende Theater abgesagt. Ähnlich erging es dem Dirigenten Iwan Welikanow, der von seinem Dirigat im Rahmen des Festivals entbunden wurde, nachdem er gegen den Krieg Position bezogen hat. Und der Regisseur Jurij Schechwatow ist in Twer, einer mittelgroßen Stadt 80 Kilometer westlich von Moskau, wegen Störung der öffentlichen Ordnung zu 30 Tagen Arrest verurteilt worden.Das Teatr-Tagebuch veröffentlicht das Beweis-Foto seines Verbrechens: Er steht vor einem Laden und hält ein DIN-A4-Blatt mit der Aufschrift 'Nein zum Krieg' vor seiner Brust."

Besprochen werden Anna Bergmanns Inszenierung von Alice Birchs Stück "Blank" am Staatstheater Karlsruhe (nachtkritik) und die Uraufführung "Karoline und Kasimir. Noli me tangere" des Nature Theater of Oklahoma nach Ödön von Horvath (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Die SZ berichtet im Feuilleton-Aufmacher von der Absagewelle an russische Künstlerinnen und Künstler. Die Frankfurter Buchmesse etwa ließ bereits verlauten, der russische Nationalstand sei kurzfristig ausgeschlossen worden: "Der Überfall Russlands auf die unabhängige und souveräne Ukraine sei ein unvergleichlicher Vorgang in der jüngeren europäischen Geschichte und er bedürfe einer klaren, eindeutigen Haltung. Einzelstände russischer Verlage seien zwar auch in diesem Jahr weiterhin willkommen, wegen der Sanktionen aber nicht unbedingt wahrscheinlich. Der Leitgedanke der Frankfurter Buchmesse laute zwar, in den Ausstellungshallen einen 'exterritorialen' Bereich zu etablieren, in dem jede Art von Dialog geführt werden könne, an dem sich auch jene Staaten beteiligen, die sich die Genfer Konvention nicht an eine Wand im Präsidentenpalast hängen würden, die sich durch ihre Präsenz auf der Frankfurter Messe aber trotzdem der Kritik einer politisch gebildeten und aktiven Öffentlichkeit aussetzten. Der Überfall auf die Ukraine und die Unterdrückung oppositioneller Stimmung im eigenen Land aber hat die Messe zu diesem Ausschluss bewogen."

In einem nebenstehenden Kommentar findet es Sonja Zekri zwar "begreiflich", dass kulturelle Kooperationen mit russischen Institutionen abgesagt werden, aber auch "fatal, wenn hiesige Verleger nun alle russischen Bücher aus dem Programm nähmen". Was natürlich kein Verlag tut.

Maxim
Biller erzählt in seiner Zeit-Kolumne, wie er den ersten Tag der russischen Invasion zunächst verschlief, um sich danach Prag im August 1968 erinnert zu fühlen. Andreas Kablitz (Welt) und Thomas Steinfeld (SZ) schreiben Nachrufe auf den Romanisten Harald Weinrich. Auf SpiegelOnline schreibt die ukrainische Fotografin, Künstlerin und Autorin Yevgenia Belorusets ein fortlaufendes Tagebuch über den Alltag in Kiew.

Besprochen werden unter anderem Naoki Urasawas Manga "Asadora!" (Tsp), Lauren Oylers "Fake Accounts" (Welt, ZeitOnline), Vladimir Sorokins "Die rote Pyramide" (FR), Guy Scarpettas "Die Lyrische Suite" (Standard), Greg Buchanans Krimi "Sechzehn Pferde" (TA), Stine Pilgaards "Meter pro Sekunde" (SZ) und eine Neuausgabe von Stefan Heyms ursprünglich 1944 erschienenem Roman "Flammender Frieden" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Einen von den Ereignissen in der Ukraine völlig niedergeschmetterten Gidon Kremer trifft Wolfgang Sandner von der FAZ nur ein Tag nach dessen 75. Geburtstag zum Gespräch an: "Ich lebe auf der Bühne, ich lebe in der Musik. Aber ich bin im Augenblick so verzweifelt, dass ich mir sogar die Frage stelle: Ergibt es irgendwie noch Sinn, Musik zu machen? Ich bin ja sonst der Ansicht, dass die Musik die Welt schöner machen kann. Aber wenn sie so hässlich ist wie dieser Tage? Ich bin durch die Straßen von Venedig gegangen und habe überall Mahler gehört, natürlich in Verbindung mit Visconti, mit dem 'Tod in Venedig', mit Thomas Mann. Ich war auf dem Friedhof, dort liegen Strawinsky, Brodsky, Diaghilew, alle nahe beieinander, alles Russen. Wir sollten nicht nur an die Russen in Russland denken, an die anständigen Russen."

In die Debatte um Zusammenarbeit mit russischen Künstlern sollte sich die Kulturpolitik nicht einmischen, findet Matthias Alexander im FAZ-Kommentar. Ein pauschaler Boykott verbietet sich, vielmehr sollten Institutionen im einzelnen mit ruhiger Hand und Augenmaß für sich entscheiden. "Auf institutioneller Ebene die Beziehungen mit der russischen Seite bis auf Weiteres zu suspendieren, wie es die Frankfurter Buchmesse und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz getan haben, ist richtig. Die oft beschworenen Gesprächskanäle der Kultur offenzuhalten liefe auf eine Legitimation von Putins Vorgehen hinaus. Ähnlich hat es der Pianist Lars Vogt, der privat und beruflich enge Beziehungen zu Russland unterhält, für sich persönlich entschieden. Er teilte mit, er werde nicht mehr in Russland auftreten, solange der Neofaschist Putin an der Macht sei, und wolle auch nichts mehr mit Künstlern zu tun haben, die hinter Putins Politik stehen."

Außerdem: Alex Bondarenko verschafft auf The Quietus einen mit Beispielen gespicken Überblick über den ukrainischen Pop-Underground. In der Jungle World führen Michael Klarmann und Johannes Simon die Geschichte der Rechtsrock-Strukturen und -Strategien in Deutschland. Das VAN-Magazin listet Benefizkonzerte für die Ukraine. Außerdem hat Oksana Lyniv für VAN eine Playlist mit klassischer Musik aus der Ukraine zusammengestellt.


Besprochen werden das Comeback-Album der Tears for Fears (Pitchfork) und Kanye Wests ausschließlich für den Stem Player veröffentliches Album "Donda 2" (Pitchfork).
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