Efeu - Die Kulturrundschau

Wahr oder erfunden?

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16.03.2022. Der Standard staunt in Wien, wie Ai Weiwei Readymades aus einem totalitären Regime macht. Die SZ bewundert den subtilen Spott, mit dem der libanesische Künstler Walid Raad in Mainz die Deutungshoheit autokratischer Systeme über die Vergangenheit attackiert. Tagesspiegel und SZ sorgen sich um ukrainische Kulturgüter: Es gibt keine Garantie, dass das ukrainische Kulturerbe nicht geplündert und in russische Museen gebracht wird. Der Westen weiß, wir er sich als gelobtes Land verkaufen kann, sagt der frisch mit dem Pritzker-Preis geehrte Francis Kéré in der SZ. ZeitOnline sehnt sich mit Pop-Esperanto von Rosalia nach Wohlstand und Leichtigkeit.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.03.2022 finden Sie hier

Kunst

Bild: Ai Weiwei. A Metal Door with Bullet Holes, 2015. Courtesy of the artist. Foto: Courtesy Ai Weiwei Studio. 2022

Schmerzlich aktuell erscheint Katharina Rustler im Standard die heute eröffnende, bisher größte Ai Weiwei Retrospektive mit dem Titel "In Search of Humanity" in der Wiener Albertina, die über die Verbindung von Kunst und Aktivismus in Ais Werk reflektiert: "Nachdem er anfänglich auch malte - wie großflächige Gemälde von Mao Zedong beweisen, die Andy Warhols Motivik zitieren -, begann sehr früh das Objekt (neben der Sprache) die größte Rolle im Werk des Künstlers zu spielen: 'Duchamp hatte das Fahrrad-Rad. Warhol hatte das Mao-Bild. Ich habe ein totalitäres Regime. Das ist mein Readymade.' In diesem Gedanken verflicht der Künstler in Arbeiten wie 'Shovel with Fur' die Geschichte Chinas mit seiner persönlichen: Der Spaten, den Ai mit Fell überzog, erinnert an seinen Vater, den bekannten Dichter Ai Qing, der in seiner politischen Verbannung Latrinen mit einer Schaufel reinigen musste."

Bild: Installationsansicht: Walid Raad, Better be watching some clouds, 2022, bedruckte PVC-Folie, Maße entsprechen den Raummaßen, Courtesy the artist, Foto: Norbert Miguletz

In der SZ lässt sich Till Briegleb verwirren von den "historischen Grauzonen" über die Katastrophen im Nahen Osten, die der libanesische Künstler Walid Raad in der Ausstellung "We Lived so Well Together" in der Kunsthalle Mainz geschaffen hat. Die Besucher stellen sich die Frage "Wahr oder erfunden?" In seinem neuen Werkkomplex beschäftigt sich Raad "mit Denkmälern, deren eingefrorene Herrschaftsposen irgendwann wie der Endzweck kriegerischer Politik wirkten. Walid Raads Geschichte dieser männlichen Selbstdarstellung geht nun so: Angeblich wurden die Monumente Beiruts mit dem Beginn des Bürgerkriegs 1975 zerlegt und in unbeschrifteten Kisten versteckt - leider ohne Demontageplan. In einer sachlich klingenden Erzählung beschreibt Raad dann, wie das Puzzle der Rekonstruktion misslingt und eine libanesische Kuratorin in Deutschland schließlich aus den Kisten Collagen neuer Denkmäler schuf. Die sind nun in Mainz ausgestellt. (…) Walid Raads Strategie gegenüber schematischer Geschichtsschreibung will genau diese Verunsicherung. Die Deutungshoheit, die vor allem autokratische Systeme über die Vergangenheit beanspruchen, um damit weitere autoritäre Handlungen bis hin zu Gewalt zu rechtfertigen, sind das Angriffsziel für seinen subtilen Spott."

Die Ukrainer räumen ihre Museen, um die Bestände vor Zerstörung zu schützen, berichtet Rolf Brockschmidt im Tagesspiegel mit dpa. Der Direktor des Nationalen Historischen Museums der Ukraine in Kiew, Fedir Androschtschuk "warnt aber auch vor möglichen Plünderungen bei einer Besetzung durch russische Truppen: 'Es gibt keine Garantie, dass das ukrainische Kulturerbe nicht geplündert und in russische Museen gebracht wird, zumal Kiew in Putins Interpretation der russischen Geschichte und ihrer Wurzeln einen besonderen Platz einnimmt. Viele Funde, die um 1800 und Anfang 1900 in der Ukraine gemacht wurden, befinden sich heute in den beiden besten russischen Museen. Und es gibt auch Hinweise darauf, dass Objekte aus archäologischen Ausgrabungen auf der Krim an die Eremitage in St. Petersburg geschickt wurden.'"

Zum Schutz von Kulturgütern in Kriegen hat die Unesco die Organisation Blue Shield International gegründet, gekennzeichnete Kulturstätten dürfen nach der Haager Konvention von 1954 nicht angegriffen werdern, erinnert Jörg Häntzschel in der SZ. Aber Russland hält sich nicht daran, deshalb versuchen Spezialisten zumindest digital zu sichern, was ukrainische Kulturinstitutionen aus ihren Sammlungen ins Netz gestellt haben. Aber auch die Daten im Netz sind nicht sicher, erfährt Häntzschel: "Auch Server können von Bomben getroffen werden oder durch Stromausfälle in die Knie gehen. Russische Hacker greifen gezielt Regierungsserver und ukrainische Provider an. Und wenn ein Netzknoten ausfällt, kollabieren in einer Kettenreaktion andere ebenfalls. Die großen Konzerne verfügen über Sicherheitsmechanismen. Doch Kulturinstitutionen können sich derlei oft nicht leisten. Sie haben teils jahrelang keine Softwareupdates durchgeführt, und selbst wenn es irgendwo Backups gibt - wer wüsste im Chaos des Kriegs, wo sie liegen?"

In der FAZ erstellt der ukrainische Kunsthistoriker Konstantin Akinsha eine eindrucksvolle Liste ukrainischer Kunstschätze: "Diese Vielzahl von Kulturschätzen ist unmittelbar von der Zerstörung bedroht. Kiew verfügt über mehr als dreißig Museen, die alles von der neolithischen Trypillja-Kultur bis zur Geschichte der Toiletten umfassen. Die Kunst- und Geschichtsmuseen der Stadt beherbergen zahlreiche Meisterwerke von internationaler Bedeutung. Das Staatliche Museum für Historische Schätze verfügt über eine der besten Sammlungen skythischen Goldes weltweit."

Außerdem: In der NZZ porträtiert Franz Zelger die Malerin Rosa Bonheur, die als bedeutendste Tiermalerin des 19. Jahrhunderts galt, mit Regierungsgenehmigung Männerkleidung tragen durfte und traditionelle Geschlechterrollen ablehnte. Ebenfalls in der NZZ erinnert Philipp Meier daran, wie sich die "Sehnsucht nach einem dritten Geschlecht" bereits in der Kunst der Renaissance zeigte.

Besprochen werden die Ausstellung "Kunst für Keinen" in der Frankfurter Schirn, die Werke von vierzehn KünstlerInnen zeigt, die während des Nationalsozialismus trotz Ausgrenzung in Deutschland blieben (FR), die Ausstellung "Die Fotografinnen Nini und Carry Hess" im Frankfurter Museum Giersch der Goethe-Universität (taz).
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Architektur

Der aus Burkina Faso stammende und in Berlin arbeitende Architekt Francis Kéré wird dem Pritzker-Preis 2022 ausgezeichnet, meldet der Tagesspiegel: "Der 58-Jährige versteht Architektur nicht nur als Baukunst, sondern als sozialen Prozess, als Mittel zur Transformation von Gesellschaften. 'Er weiß intuitiv, dass es bei Architektur nicht um das Objekt geht, sondern um die Absicht', teilte die Jury in Chicago mit. 'Seine Gebäude, für und mit Gemeinschaften, stammen direkt von diesen Gemeinschaften - bei ihrer Entstehung, mit ihren Materialien, ihren Programmen und ihrem einzigartigen Charakter.'" Der Tagesspiegel hat außerdem ein 2017 geführtes Interview mit Kéré online gestellt. In der NZZ hofft Sabine von Fischer, dass die Architektur Afrikas zunehmend sichtbarer wird. In der FAZ wünscht sich Niklas Maak Bauten von Kéré in Berlin.

Wir befinden uns mitten im Afrofuturismus, freut sich Kéré im SZ-Interview mit Laura Weissmüller: "Der Westen ist nach wie vor attraktiv, weil er weiß, wie er sich als das gelobte Land verkaufen kann und alles andere als primitiv abwertet. Deshalb bauen so viele Leute in Afrika nach dem Vorbild des Westens. Aber klimatisch und soziokulturell gibt es gewaltig Unterschiede. Ich will gar nicht, dass man den Westen als Vorbild immer ablöst. Die Technologie bringt ja auch Vorteile. Aber ich will, dass man das westliche Model nicht weiter 1:1 auf den Kontinent überträgt. Und dass wir aus den Fehlern des Westens lernen."
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Literatur

In seinem in der NZZ veröffentlichten Kriegstagebuch versucht sich der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow eine Reim zu machen auf die komplexe Gemengelage der Binnenwahrnehmung in der Ukraine und dem von Russland herangetragenen Vorwurf, es handle sich um ein Land voller Nationalisten. Dabei "sind Nationalismus und Putinismus keine Gegensätze. Nein, das sind sie nicht. Sie sind zwei Formen der gleichen Sache, nur anders gekleidet. Das Gegenteil von beidem sind universelle Werte: Liebe, Wahrheit, Frieden und Gewaltlosigkeit. Gewaltlosigkeit sogar inmitten des blutigen Krieges: Einige Frauen zogen zwei weinende achtzehnjährige Jungen aus einem russischen Panzerfahrzeug, beschimpften sie und ließen sie gehen. Ich weiß nicht, ob sie das Richtige getan haben, aber Gott segne ihre Seelen. Sie sind echte Ukrainerinnen."

Die taz bringt heute eine Literaturbeilage. Im Aufmacher berichtet Dirk Knipphals von seiner erneuten Lektüre eines vor zwei Jahren in der Anthologie "Warum lesen" veröffentlichten Essays des ukrainischen Autors Serhij Zhadan, der ihn in seiner Klarsichtigkeit völlig umhaut. "'Krieg ist nicht gemacht für Literatur. Den Krieg als literarisches Material zu nutzen versuchen ist das Schlimmste, was ein Schriftsteller tun kann', schreibt Zhadan und fährt fort: 'Und doch ist es unmöglich, nicht über den Krieg zu schreiben.'" Zhadans "Beitrag für diese Anthologie macht einem klar, wie nah der Krieg in der Ukraine tatsächlich ist und was jetzt alles auf dem Spiel steht. Ich hätte nie geglaubt, als Literaturredakteur einmal einen so pathetischen Satz schreiben zu müssen, aber es ist einfach so: Die Ukrainer kämpfen gegenwärtig auch für die Literatur. Gekämpft wird von ihnen auch für eine kulturelle Selbstbehauptung, für das Recht, sich in all seinen Kompliziertheiten selbst zu beschreiben und dabei zu versuchen, in diesen Beschreibungen möglichst wenig zu lügen."

Außerdem: Für den Tagesspiegel hat Gerrit Bartels Karl-Markus Gauß besucht, der heute mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wird. Besprochen werden Heike Geißlers "Die Woche" (ZeitOnline, Welt), Lea Ypis "Frei" (Tsp, Zeit), Katerina Poladjans "Zukunftsmusik" (FR), Domenico Müllensiefens Romandebüt "Aus unseren Feuern" (Freitag), Albert Ostermaiers Lyrikband "Teer" (SZ), Emmanuel Carrères "Yoga" (FAZ) und die Ausstellung "Beziehungsstatus: Offen" über Kunst und Literatur am Bodensee im Zeppelin-Museum in Friedrichshafen (Freitag). In der taz-Literaturbeilage werden unter anderem Yasmina Rezas "Serge" (taz) und Wolf Haas' neuer Brenner-Krimi "Müll" (taz) besprochen.
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Film

Im Rahmen einer Online-Retrospektive zu den Filmen von Maurice Pialat zeigt La Cinetek auch dessen Serie "La maison du bois", "ein kleines Filmwunder", das Presse-Kritiker Patrick Holzapfel nur wärmstens empfehlen kann: Die Serie "treibt in einem großen Meer erzählerischer Möglichkeiten. Wie in seinen Kinofilmen bemüht sich der für seinen außergewöhnlichen Naturalismus bekannte Regisseur vor allem darum, der Ambivalenz des alltäglichen Lebens Ausdruck zu verleihen. Dabei gewinnt das widersprüchliche Nebeneinander von Traurigkeit, lächelnden Gesichtern, Spiel und Ernst dank der Zeit, die Pialat den Figuren über sieben Folgen hinweg schenken kann, enorm an Kraft. Satt angespannt auf den nächsten Plot-Twist zu warten, leben wir quasi mit den Menschen mit, erst dadurch entsteht eine tiefgehende Identifikation."

Besprochen werden Nanni Morettis "Drei Etagen" (FAZ), Pedro Almodóvars "Parallele Mütter" (Jungle World, Artechock) und die Arte-Doku "Selenskyj - Ein Präsident im Krieg" (ZeitOnline).
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Musik

"Futuristischen Latin Pop" gibt es auf dem neuen Album von Rosalía zu hören, schreibt Julia Lorenz auf ZeitOnline. Den Flamenco ihrer früheren Platten lässt die spanische Künstlerin darauf endgültig hinter sich. Stattdessen gibt es wunderbare Sprach-Synkretismus zu bestaunen, nämlich ein "polyglottes Fantasie-Spanglish, das selbst manche Muttersprachler nur schwer verstehen. Rosalía singt, als sei sie im südspanischen Andalusien aufgewachsen, wo man bei der Aussprache die s-Laute und manchmal sogar alle Konsonanten verschluckt", und begibt sich damit auf die "Suche nach dem perfekten Pop-Esperanto. In ihren neuen Songs hört man Anglizismen, die sie grundsätzlich nicht Englisch ausspricht, japanische Worte wie im Song 'Chicken Teriyaki', zuletzt auch immer öfter Slangbegriffe aus Mittelamerika, zum Beispiel pampara. Damit beschreibt vor allem die Jugend in der Dominikanischen Republik ein Lebensgefühl, eine Sehnsucht nach Wohlstand und Leichtigkeit."



Weitere Artikel: Der Standard schafft einen Panorama-Überblick zur Frage, wie man sich zu russischer Kultur verhalten solle und welche Ressorts und Gewerke sich gerade wie verhalten. Aleksandra Lebedowicz spricht für den Tagesspiegel mit der Komponistin Ella Milch-Sheriff über deren neue Arbeit "intonations", die im April uraufgeführt wird. Jan Brachmann (FAZ) und Manuel Brug (Welt) schreiben Nachrufe auf die Pianistin und Musikhochschulleiterin Annerose Schmidt. Im Tagesspiegel schreibt Christian Schröder zum Tod des Soulsängers Timmy Thomas.



Besprochen werden Éliane Radigues und Frédéric Blondys Orgel-Ambientkomposition "Occam XXV" (Pitchfork) das Delines-Album "The Sea Drift" (FR), die Wiederveröffentlichung von Sonic Youths "In/Out/In" (The Quietus), neue Tape-Veröffentlichungen (The Quietus), Yasuaki Shimizus "Kiren" mit Aufnahmen von 1984 (Pitchfork), neue Popveröffentlichungen, darunter ein gemeinsames Album von Peter Doherty und Frédéric Lo (SZ) sowie das neue Album von Jenny Hval (The Quietus).

Archiv: Musik