Efeu - Die Kulturrundschau

Linien und Kreise

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.03.2022. In der NZZ folgt Sergei Gerasimow den  Flugbahnen der russischen Smertsch-Raketen. Die NZZ vernimmt auch das Seufzen einer geschundenen Volksseele in Emma Dantes "Sizilianischer Vesper" in Palermo. Die FR bewunddert die zarten Linien in Jochen Lempertz' Fotografie. Und die Katerstimmung nach der Oscar-Verleihung rührt nicht nur vor der missglückten Gala, räumen die FilmkritikerInnen ein, sondern auch von den schlechten Filmen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.03.2022 finden Sie hier

Kunst

Jochen Lempertz: Kirschen, 2019. Foto: Portikus

Ganz hingerissen ist Sandra Danicke von Jochen Lempertz' Fotografien im Frankfurter Portikus, die auf den ersten Blick so unscheinbar wirken: "Nie sind spektakuläre Lichtverhältnisse zu sehen, wie sie in der Schwarzweiß-Fotografie üblich sind, vieles wirkt grau in grau. Mal sieht man einen Käfer, mal ein Paar Kirschen. Doch dann! Ganz allmählich entdeckt man die Feinheiten. Zarte Linien auf einem Blatt. Eine spezielle Körnigkeit, die es bei Digitalfotografie gar nicht gibt. Das winzige Konterfei des Fotografen, gespiegelt in einem Froschauge. Das Kirschenbild, das doch nicht bloß Kirschen zeigt, sondern eine diffuse, verlockende Lichtstimmung. Oder - je nach Betrachtungsweise - ein einsames Paar, eine Komposition aus Linien und Kreisen, ein letztes Glück an einem Spätsommertag."

Weiteres: Philipp Meier meldet in der NZZ vom Kunstmarkt, dass bei den Auktionshäusern die Russian Sales völlig zum Erliegen gekommen seien, bei denen russische Oligarchen ihre Petrodollar für Romantiker, Wintermärchenmaler und Fabergé-Eier hinauswarfen. Ingo Arend hat sich für die taz zu verschiedenen Kunstevents nach Saudi-Arabien fliegen lassen, möchte aber noch nicht abschließend entscheiden, obs es sich dabei um reine Marketingveranstaltungen handelt oder um Zeichen echter Öffnung.

Besprochen werden die Shortlist zum Deutsche Börse Photography Prize in London (Guardian), die Schau "Architektur und Farbe" mit Anish Kapoor und Daniel Buren im Skulpturenpark Waldfrieden in Wuppertal (FAZ) und die postkolonial kontextualisierte Ausstellung "Paul Gauguin - Why are you angry?" in der Alten Nationalgalerie in Berlin (taz).
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Literatur

In seinem in der NZZ veröffentlichten Kriegstagebuch aus Charkiw denkt sich der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow gallig in die Flugbahnen der Smertsch-Raketen, mit denen die Ukraine bombardiert wird und die zum Teil auch zivile Gebäude treffen - je nachdem, in welchem Winkel sie einschlagen, ändert sich das Maß an Zerstörung und erhöht sich die Zahl der Toten. "Ich frage mich, was die Leute, die die Smertsch-Raketen entworfen haben, gefühlt haben. Was haben sie gedacht? Haben sie etwa überlegt, was wäre, wenn sie die Anzahl der Splitter so ändern, dass im Idealfall nicht nur 32.832 Menschen, sondern vielleicht 32 840 getötet werden? Oder sogar 32.850? Wunderbar! Oder vielleicht wäre es gut, wenn man die Schrapnellstücke spitzer oder sternförmiger macht, oder (hmmm, das ist eine gute Idee!), sie werden mit scharfen Klingen versehen. Schade, mögen sie gedacht haben, dass jetzt keine Tests an Menschen möglich sind, aber andererseits lässt sich das in Syrien oder der Ukraine leicht nachholen."

Außerdem: Roswitha Budeus-Budde berichtet in der SZ von der Kinderbuchmesse in Bologna. Besprochen werden unter anderem Fran Lebowitz' erstmals auf Deutsch vorliegender Essayband "New York und der Rest der Welt" (Dlf Kultur), Peter Handkes "Zwiegespräch" (Welt), Tove Ditlevsens "Gesichter" (Zeit), Björn Hayers Essay "Seid utopisch!" (Standard) und Monica Alis "Liebesheirat" (FAZ).
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Film

Katerstimmung nach der Oscarverleihung: Dass Will Smiths Ohrfeige (unser erstes Resümee) so geschichtsträchtig wie verwerflich und Ausdruck toxischer Gockelei war, darüber sind sich im wesentlichen alle (und seit gestern Abend auch Will Smith selbst) einig - wie auch darüber, dass mit dem "besten Film"-Oscar für Siân Heders "Coda", einer Gehörlosen-Tragikomödie, die ausschließlich auf AppleTV+ vor bislang kaum einem Publikum läuft, der falsche Film ausgezeichnet wurde. "Coda" mag ein "Triumph für die Teilhabe und Repräsentanz von Menschen mit Handicap" sein, urteilt Jenni Zylka in der taz, aber "konventionell und schlicht ist er dennoch". Sympathisch, aber handzahm findet den Film auch NZZ-Kritiker Andreas Scheiner: "Ein richtiger Fernsehfilm." Für Hanns-Georg Rodek von der Welt ist "Coda" im Grunde auch nur gutgemeinter Zeitvertreib: "Dramaturgisch ist die Geschichte vollkommen vorhersehbar", die Filmemacherin "erzählt die Geschichte ohne inszenatorischen Ehrgeiz".

Der Verlierer des Abends war das Kino, seufzt Daniel Kothenschulte in der FR: Die wichtigsten Goldjungen gingen an Filme, die kaum je einmal einen Kinosaal illuminiert haben. "Coda" überzeugt ihn auch nur halb: "Es ist ein sympathischer aber doch künstlerisch wenig origineller, ja formelhaft erzählter Coming-of-Age-Film, der vieles übertreibt und wo immer es geht auf höchste Emotionalisierung setzt. Wer das Kino liebt, musste erleben wie einer der besten Filme der Saison leer ausging: 'Licorice Pizza' unterlag sogar beim Drehbuch gegenüber Kenneth Branaghs 'Belfast'."

Für Susan Vahabzadeh von der SZ wäre allerdings auch Jane Campions "Power of the Dog" nicht unbedingt der bessere Film gewesen (korrigiert): "Welche Emotionen aber will Jane Campion eigentlich mit 'Power of the Dog' im Zuschauer auslösen? Bei ihr geht es darum, ob eine physische Reaktion - in diesem Film ist die Reaktion schlicht ein Mord - eine angemessene Reaktion auf verbale Diskriminierung ist. Und der Film lässt einen mit dem schalen Gefühl zurück, dass Jane Campion gar keine Lust hat, in dieser Frage Zweifel zu säen."

Mehr zu den Oscars: Anke Leweke würdigt auf ZeitOnline Jane Campion, deren "Power of the Dog" von zwölf Nominierungen zwar nur eine umsetzen konnte, diese ging dafür aber auch direkt an die Regisseurin. Berit Dießelkämper hat sich für das ZeitMagazin nach Smiths Ohrfeige die Diskussionen darüber auf Social Media angesehen. Richard Kämmerlings bringt in der Welt Notizen aus der Kulturgeschichte der Ohrfeige.

Weitere Artikel: Im taz-Interview klagt die Trans-Schauspielerin Adél Onodi, dass sie nur selten cis-Frauen spielen darf, aber umso häufiger schlecht geschriebene Trans-Rollen angeboten bekommt. Besprochen werden Michael Bays "Ambulance" (Filmfilter, unsere Kritik), Gaspar Noés Ende April bei uns startender "Vortex" mit Dario Argento (Cargo) sowie William Dubas' und János Keresztis ARD-Reportage "Heimreise in den Krieg" (FAZ).
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Bühne

Emma Dantes "Sizilianische Vesper" am Teatro Massimo 

Berührt und bewegt
ist Marco Frei in der NZZ von Emma Dantes Inszenierung der "Sizilianischen Vesper" im Teatro Massimo in Palermo, die den mittelalterlichen Volksaufstand in Verdis Oper mit dem Gedenken an die Mafiajäger Giovanni Falcone und Paolo Borsellino verbindet: "Für Dante steht die Mafia genauso für die Unterdrückung Italiens wie einstmals die Fremdherrscher. Und wie sich die Mafia aus Landsleuten rekrutiert, so kollaborierten einst auch Landsleute mit den Fremdherrschern. Was bleibt, ist eine geschundene Volksseele. Bei Dante kauern deswegen 'pupi siciliani' aus der berühmten Marionettentradition von Palermo auf dem Boden: in sich zusammengefallen. Deutlicher kann man es nicht ausdrücken - der Dirigent des Abends, Omer Meir Wellber, muss da gar nicht mit großem Pathos gegenhalten; er kann die Musik einfach fließen lassen. Aus dem Massimo-Orchester strömt denn auch ein ganz natürlicher Verdi in zielgerichteten, entschlackten Tempi."

Weiteres: Im Standard blickt Helmut Ploebst auf die Folgen des Krieges für ukrainische und russische TänzerInnen. In der Nachtkritik findet die ukrainische Journalistin Lena Myhashko nicht, dass verfolgten russischen Künstler Solidarität entgegengebracht werden sollte. In ihren Augen ist die gesamte russische Kultur ein einziges kolonialistisches Projekt: "Die Wahrheit ist, dass das unersättliche russische Imperium eine ganze Reihe von Kulturen über Jahrzehnte und Jahrhunderte unterdrückt und kulturelle Vielfalt nicht zugelassen hat."

Besprochen werden "Romeo und Julia" am Staatstheater Darmstadt (FR), "La Cage aux Folles" an der Wiener Volksoper (Standard) und Anne Lenks konzentrierte Inszenierung von Kleists "Amphitryon" am Staatstheater Nürnberg (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Es ist eine Grille der Geschichte, dass ausgerechnet im russischen Kriegsmärz 2022 das Berliner Konzerthausorchester Schostakowitsch mit einer Reihe ehrt. Zwar hat der polnische Dirigent Krzysztof Urbanski darum gebeten, nicht, wie geplant, Schostakowitschs Leningrader Sinfonie mit den berühmten Kanonenstößen zu spielen, sondern stattdessen die Fünfte, in der Schostakowitsch eine Abkehr vom Atonalen unternimmt. "Ausgerechnet die Interpretation dieser Musik, die von der westlichen Welt als epigonal empfunden wurde, beschert dem Konzerthausorchester einen Erfolg ohnegleichen, frenetischen Beifall, der nicht enden will", berichtet Sybill Mahlke im Tagesspiegel. Urbanskis "elegante Gestik schließt dynamische Feinabstimmung ein. Und er zelebriert, wie die Musik im Wissen um die verbotene Avantgarde in die neue Einfachheit geht." Gerald Felber resümiert in der FAZ unter anderem den Abend, an dem der Konzerthauschef Christoph Eschenbach Schostakowitschs Es-Dur-Cellokonzert mit dessen achter Symphonie verband.

Außerdem: Für die SZ porträtiert Andrian Kreye die Musikerin Amber Mark, die in der Pandemie die Quantenphysik für sich entdeckt hat.



Besprochen werden das neue Rap-Album der Dresdner Gruppe 01099 (Tsp), Paul Cannons CD "polyglot" (FR), neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine neue CD der Harfenistin Anaëlle Tourret (SZ), Benedikt von Peters Aufführung von Bachs "Matthäus-Passion" in Basel (SZ) und das letzte, jetzt aber wirklich und versprochen allerletzte Genesis-Konzert (SZ).
Archiv: Musik