Efeu - Die Kulturrundschau

Das Lauern einer mörderischen Macht

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07.04.2022. Teile des deutschen PEN-Zentrums möchten ihren Vorsitzenden Deniz Yücel als "Marionette der Springer-Presse" aus dem Amt jagen, so die SZ. Die FAZ fragt angesichts der Sparvorgaben für die Frankfurter Bühnen, ob die linke Mehrheit im Römer die Hochkultur opfern will? Die Filmkritiker erleben ein kleines Wunder mit dem Liebesdrama "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?" von Alexandre Koberidze. Die Welt ergründet das "mehrfach verkorkste Russenvolk" in York Höllers Bulgakow-Oper "Der Meister und Margarita" in Köln. Im Van Magazin vergleicht der Musikwissenschaftler Friedrich Geiger Valery Gergiev mit Wilhelm Furtwängler.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.04.2022 finden Sie hier

Film

Feiert das friedliche Leben: "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?" von Alexandre Koberidze (Grandfilm)

Ganz hingerissen ist die Filmkritik von dem Liebesdrama "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?" des georgischen Filmemachers Alexandre Koberidze: Eine Zufallsbegegnung wächst sich hier zum modernen Märchen aus, belebte Objekte inklusive. "Dieser Filmemacher will spielen", schwärmt Tobias Kniebe in der SZ. "Er will mit seinen Bildern und Geschichten und seinem Publikum spielen wie schon lang keiner mehr." Der Drolligkeitsverdacht steht zwar im Raum, aber Kniebe entscheidet sich anders, zumal sich durch den Film auch eine Ahnung des Kriegs in Georgien 2008 zieht: "So meint man, das Lauern einer mörderischen Macht von jenseits der Grenze gerade im Hintergrund jener Bilder zu spüren, die einfach eine Feier des friedlichen Lebens sind, in strahlendster Entschiedenheit: in den lachenden und vertrauten Gesichtern einer Freundesgruppe im Café am Fluss."

Barbara Schweizerhof von der taz muss eine Weile mit sich kämpfen, bis sie ihr schlechtes Gewissen darüber ablegen kann, angesichts der Weltereignisse einen Liebesfilm im Kino zu sehen. Doch vollzieht sich auf der Leinwand "ein kleines Mirakel. Der Blick auf die Welt verändert sich." Denn "gerade in dieser gewollten Zerstreuung liegt etwas, in der Bereitschaft, sich treiben zu lassen in einem Fluss der Bilder, über deren Zielrichtung man sich in ständiger Ungewissheit bewegt, weshalb sie aber auch immer wieder Überraschungen bereithalten. ... Auf der einen Seite könnte man Koberidzes Film abtun als kokette Verschränkung von launiger Märchenerzählung und raffinierter Bildmontage, als weltfremdes Getue und L'art pour l'art. Auf der anderen Seite hat eben dieses konsequente Ablenken Methode."  Weitere Kritiken in FR, FAZ und Freitag.

Modefotografie oder Filmkunst? Jacques Audiards "Wo in Paris die Sonne aufgeht"

In der Welt spricht Jacques Audiard über seinen neuen Liebes- und Erotikfilm "Wo in Paris die Sonne aufgeht", der unserem Kritiker Jochen Werner zwar reichlich "schöne junge Brüste in Schwarzweiß" bot, auf ihn aber auch "wirkt wie ein Werbespot für ein mehr oder weniger hippes Modelabel. Insofern gilt einmal tatsächlich der nicht so recht totzukriegende Klischeesatz über visuell ausgefeiltes Kino: ja, hier könnte man wahrscheinlich wirklich jedes einzelne Bild aus dem Film herausnehmen und an die Wand hängen. Allerdings könnte man dann auch immer 'H&M' drunterschreiben. Überzeugter ist Tagesspiegel-Kritiker Ulrich Kriest: "Alles ist fluid", der Film entwerfe "tatsächlich ein Sittengemälde über Identität in der modernen globalisierten Welt, in der es eine wesentliche Qualität ist, dass man sich permanent neu entwirft".

Asghar Farhadi wurde in Teheran wegen Verletzung des Urheberrechts verurteilt: Mit seinem aktuellen Film "A Hero" (unsere Kritik) soll er einen Dokumentarfilm von Azadeh Masihzadeh, einer seiner früheren Studentinnen, plagiiert haben. Masihzadeh hatte zwar vorab auf Drängen Farhadis eine Verzichtserklärung unterzeichnet, sich angesichts des fertigen Films dann aber doch zur Klage entschlossen, berichtet  Andreas Kilb in der FAZ. "Die wahre Geschichte, auf der 'A Hero' basiert, wurde von Azadeh Masihzadeh zuerst verfilmt. Aber erst Farhadi hat ihr ein Gewicht gegeben, das über den Einzelfall hinausreicht. Der juristische Streit um die Autorschaft geht weiter. Die künstlerische Konkurrenz hat der Film schon gewonnen." Hans Jürgen Zinsli schildert im Tagesanzeiger die Chronik der Ereignisse.

Weitere Artikel: In der SZ durchleuchtet Reinhard J. Brembeck die zahlreichen Anspielungen, die Pedro Almodóvar in seinem aktuellen Film "Parallele Mütter" versteckt hat. Matthias Lerf hat für den Tagesanzeiger Sophie Marceau getroffen.

Besprochen werden Eva Vitijas Dokumentarfilm "Loving Highsmith" (taz), Matt Bissonnettes "Death of a Ladies' Man" (Perlentaucher), Judd Apatows auf Netflix gezeigte Komödie "The Bubble" (SZ), die auf AppleTV+ gezeigte Serie "Pachinko" aus Korea (Presse), Zaida Bergroths "Tove" über Tove Jansson (Standard), Ulrich Seidls "Rimini" (Standard), Hong Sang-soos "Introduction" (Presse), Frédéric Baillifs in der Schweiz gezeigtes Heimdrama "La Mif" (Zeit), Adam Rehmeiers auf DVD veröffentlichter Film "Dinner in America" (taz), die zweite Staffel der auf Arte gezeigten Serie "In Therapie" (Freitag) und David Yates' "Phantastische Tierwesen 3" (taz). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich lohnen und welche nicht.
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Kunst

Besprochen werden die Ernst-Wilhelm-Nay-Retrospektive in der Hamburger Kunsthalle (FAZ), die Ausstellung "Picasso: Painting the Blue Period" in der Phillips Collection in Washington (SZ) und eine Marcel-Duchamp-Ausstellung im Frankfurter Museum für Moderne Kunst (Zeit).
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Literatur

36 Mitglieder des deutschen PEN-Zentrums wollen im Mai per Antragsabstimmung Deniz Yücel als Präsident des Schriftstellerverbands abwählen lassen. Dabei gehe es bemerkenswerterweise nicht mehr um Yücels Position zum Krieg in der Ukraine, sondern allein um interne Konflikte, berichtet Miryam Schellbach, die für die SZ Einblick in Mailwechsel gewinnen konnte. Eine gute Figur macht darin niemand. "Yücel spricht darin von einer ihm problematisch erscheinenden Personalkonstellation als 'Elefant im Raum', von alteingesessenen Funktionären als 'Silberrücken', was allerdings für den erhobenen Mobbingvorwurf schwerlich ausreicht. Seine Gegner beschreiben Yücel in verschiedenen E-Mails als 'eine der vielen Marionetten der Springer-Presse', die nur von einem 'Mitleidseffekt für die in türkischer Haft erlittene Unbill ins Amt getragen wurde'. 'Ich werde', schreibt ein anderer, 'alles tun, um ihn und seine Mitstreiter aus dem Amt zu jagen', und fügt hinzu: 'das wird nicht angenehm werden für ihn in Gotha.'"

Der Standard spricht mit dem Schriftsteller László Krasznahorkai über Ungarn und seine Ästhetik der Hoffnungslosigkeit. Wir begehen " schreckliche Fehler. Der allergrößte besteht darin, Hoffnung zu haben. In der Anschauung meiner Romanfigur sähe das Modell folgendermaßen aus: Die Welt funktioniert symmetrisch. Das gilt für alle Prozesse, sie könnten bis in alle Ewigkeit fortdauern. Aber immer wieder passiert ein Fehler, und der verändert den ganzen Prozess. Das ganze Universum wurde überhaupt nur aufgrund eines Fehlers erschaffen. Die Hoffnung ist daher ein Fehler, aber nur in diesem Sinne." Vielleicht auch deshalb empfindet er für sein Heimatland "keine Hoffnung. Ungarn ist kein Land, sondern eine psychiatrische Klinik."

Besprochen werden unter anderem Abdulrazak Gurnahs "Ferne Gestade" (FR), Stine Pilgaards "Meter pro Sekunde" (Freitag), Senthuran Varatharajahs "Rot (Hunger)" (Jungle World), Rudolf Borchardts "Deutsche Denkreden" (SZ) und Roswitha Quadfliegs Stasi-Roman "Ihr wart doch meine Feinde" (FAZ).
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Bühne

Szene aus "Der Meister und Margarita" in Köln. Foto © Bernd Uhlig


Den Premierentermin für Valentin Schwarz' mehrfach verschobene Inszenierung von York Höllers Bulgakow-Oper "Der Meister und Margarita" an der Oper Köln findet Manuel Brug in der Welt ganz passend, wenn er die Inszenierung auch etwas lahm findet: "Es bleibt so in diesem Musiktheater in zwei ausufernden Akten viel Zeit zum Nachdenken über das anstrengend leidenschaftliche, mehrfach verkorkste Russenvolk: Seine Verführbarkeit, seine grausame Klarheit, seine verschrobene Drollerie. Da singen grüne Hunde, denen die Augen und Ohren abgerissen werden, eine rosa Bohnenstange mit Quetschkopf und Dünnschwanz ragt, die sich als Restaurantbesitzer ausweist. Buntfarbige Kinderlein hopsen, ein Chefredakteur heißt Berlioz, der Psychiater Strawinsky. Und fast jeder hat gefühlt irgendeinen Doppelgänger. Schade nur, dass Valentin Schwarz und seine fantasievollen Mitstreiter das alles in einem, possierlich sich abspulenden, klug disponierten, aber doch letztlich zeichenhaften Ungefähr belassen." Auch Guido Krawinkel (nmz) steht etwas ratlos vor dem "bunten Klamauk, den Schwarz auf der Bühne inszeniert. Die Darsteller müssen in unförmigen Kostümen als schwarze Monster, als grellfarbige Comictiere und mit unförmigen Köpfen berühmter Personen agieren. Der Qualität des Gesangs tut das keinen Abbruch, die Frage nach der Sinnhaftigkeit stellt sich gleichwohl. Denn zur Erhellung der ebenso komplexen wie verschachtelten Struktur der Textvorlage trägt dieses Durcheinander kaum bei, im Gegenteil."

In der FAZ kritisiert Matthias Alexander die Einsparung von zehn Millionen Euro, die die Stadt Frankfurt nach ihrer mittelfristigen Finanzplanung jährlich von ihren Theatern verlangt: Das geht an die "künstlerische Substanz", meint er. "Für das Schauspiel hat sich dessen Intendant Anselm Weber sehr ähnlich geäußert: 'Wenn man die Einsparung umsetzt, findet hier keine Kunst mehr statt', lautet der zentrale Satz Webers. ... Auffällig ist, dass die Planungen der Frankfurter Stadtpolitik bisher für wenig öffentliches Aufsehen sorgen. Die Corona-Pandemie hat nicht nur die städtischen Finanzen zerrüttet, sondern offenbar auch die Bindung zwischen Bühnen und Publikum geschwächt, was wiederum in Teilen der linken Mehrheit im Römer den Eindruck verstärken dürfte, in der Hochkultur ein leichtes Opfer für Sparanstrengungen zu finden."

Weiteres: In der neuen musikzeitung bittet Sarah Lindenmayer, doch auf den Einzelfall zu gucken, bevor man die Absetzung russischer Musikwerke pauschal kritisiert. Besprochen werden Vincent Boussards Inszenierung von Ambroise Thomas' "Mignon" in Liège (nmz), Martin Crimps "Cyrano de Bergerac" in der Inszenierung von Lily Sykes am Wiener Burgtheater (nachtkritik), die Performance "Under Bright Light" von Forced Entertainment am Frankfurter Mousonturm (FR), Herbert Fritschs Inszenierung von Thomas Bernhards "Jagdgesellschaft" am Hamburger Schauspielhaus (Zeit).
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Musik

Ist Valery Gergiev ein zweiter Furtwängler? Der Musikwissenschaftler Friedrich Geiger sieht dafür einige Anhaltspunkte, erklärt er Hartmut Welscher im VAN-Gespräch. Russland nutzt die klassische Musik für Auslandspropaganda, zudem stimme Gergiev politisch mit Putin völlig überein. "Das ist sozusagen der Klang des Terrors und die ästhetische Seite dessen, was wir in Butscha sehen. Es gibt diesen vor kurzem erschienenen Gesprächsband, in dem Gergiev beschreibt, wie er vom Mariinsky aus die westliche Kultur erobert hat. Das wird wie ein Feldzug beschrieben. ... Bei der Strategie der Ämterhäufung bezieht er sich explizit auf Furtwängler, der im Buch an vier oder fünf Stellen als Leitfigur und Vorbild vorkommt. Dann wird Gergiev gefragt, worauf er diese Expansion gestützt habe, und er antwortet: 'Auf die russischen Komponisten, die hatten diese eine mächtige Waffe in unsere Hände gelegt, die diese großartige russische Musik nun einmal ist.' Dazu kommen alle mögliche Kommentare zur russischen Seele. Diese Idee einer gewissen Überlegenheit der eigenen Musikkultur gibt es bei Gergiev wie bei Furtwängler."

Von mit Versöhnungsrhetorik überschriebenen Konzerten hält der ukrainische Geiger Oleh Kurochkin derzeit überhaupt nichts, erklärt er im VAN-Interview. "Es ist Kitsch. ... Vielleicht will man die Augen verschließen vor der harten Wahrheit, vielleicht ist man einfach naiv, ich weiß es nicht. Die Eltern des Chefdirigenten der Oper in Lwiw, den ich sehr gut kenne, wurden in Irpin erschossen. Eine Freundin, die Konzertmeisterin bei der Nationalen Philharmonie in Kyiv war, lebt jetzt in Wien und spielt unter anderem Aushilfe bei den Wiener Philharmonikern, eine fantastische Geigerin. Ihre Eltern leben in Mariupol, sie hat seit über einem Monat keinen Kontakt zu ihnen. Sie weiß nicht, wo die Eltern sind, ob sie noch am Leben sind. Da jetzt einfach so von Frieden und Freundschaft und 'ihr seid doch Brüder' zu sprechen? Sind wir nicht."

Weitere Artikel: Katja Kollmann spricht für die taz mit DJ Witalij Bardezkyi über dessen Doku "Mustache Funk" über die ukrainische Musikszene der Siebziger. Im VAN-Kommentar fordert Wendelin Bitzan die freien Musikerinnen und Musiker dazu auf, sich besser zu vernetzen und besser für die eigenen Interessen einzustehen. In der NZZ freut sich Wolfgang Stähr auf die von Riccardo Chailly dirigierten Mendelssohn-Konzerte beim Lucerne Festival. Arno Lücker setzt seine VAN-Reihe über Komponistinnen mit Beiträgen über Amy Horrocks (hier) und Mary Jaell (dort) fort. Und Olivia Giovetti präsentiert den VAN-Mix der Woche.

Besprochen werden die Reihe "Live at Fabrik" mit Jazzaufnahmen aus dem NDR-Archiv (taz) und ein Post-Punk-Album von Wet Leg (ZeitOnline).
Archiv: Musik