Efeu - Die Kulturrundschau

Die Furien des echten Hip-Hop

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12.04.2022. Doch, auch Puschkin ist ein Problem, ruft in der Wiener Zeitung Bob Muilwijk, etwa wenn er dazu aufrief, die Polen zu zermalmen. Im Tagesspiegel  erklärt Dirk Rehm vom Reprodukt Verlag, warum die Papierpreise so in die Höhe geschnellt sind. Die taz kriecht in einer Ozeanien-Ausstellung im Linden-Museum der mächtigen Göttin der Dunkelheit lieber nicht in den Schoß. Crescendo stellt fest, dass sich der Klassikbetrieb nach Putin keine Naivität mehr leisten kann und fordert mehr Investigation vom Feuilleton. Dezeen blickt auf den dünnsten Wolkenkratzer der Welt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.04.2022 finden Sie hier

Literatur

Doch, auch Puschkin ist ein Problem, hält der Slawist Bob Muilwijk in einem Kommentar in der Wiener Zeitung einer aktuellen Losung des deutschen PEN-Zentrums entgegen. "Es ist naiv, russische Literatur pauschal vom Vorwurf imperialer Propaganda freizusprechen: Sie ist vielfach sogar davon durchtränkt." Muilwijk rät dazu, Puschkins Gedicht "Den Verleumdern Russlands" nochmal aus dem Regal zu ziehen. Darin stellt Puschkin den polnischen Novemberaufstand 1830 "als innerslawischen Familienkonflikt dar, aus dem sich die restliche Welt herauszuhalten habe. Unter dem Eindruck der aufständischen Polen und der europäischen Solidarität mit ihnen fragte sich Puschkin, ob alle 'slawischen Flüsse' in ein 'russisches Meer' münden, oder ob dieses austrocknen werde - und knüpfte dabei eine beunruhigende Verbindung zwischen Imperialismus und der weiteren Existenz des russischen Staates." Puschkin "schmeichelte sich beim autokratischen Zaren ein und schrieb seinem eigenen Zensor gegen Ende des Aufstandes in einem Brief, man müsse die Polen zermalmen."

Die westeuropäische Öffentlichkeit im Allgemeinen und die Slawistik im Besonderen müssen sich beim Blick nach Osteuropa aus ihrer Russlandfixierung lösen und die dortigen kulturellen und politischen Gegebenheiten hochauflösender zur Kenntnis nehmen, fordert der Slawist und Literaturwissenschaftler Alexander Kratochvil in der taz. "Ein Blick in russische, ukrainische und belarusische Texte der letzten Jahrzehnte könnte in der jetzige Situation erhellend wirken. Politik und Ihre Beratungsinstanzen sollten sich ihrer gestrigen Verhaltensmuster und Denkblockaden bewusst werden - auch dazu kann ein wenig Lektüre beitragen."

Im Tagesspiegel-Gespräch erklärt Dirk Rehm vom verdienstvollen und eigentlich erfolgreichen Comicverlag Reprodukt, warum sein Haus derzeit eine Crowdfunding-Kampagne machen muss, um das Herbstprogramm zu sichern: "Rohstoffmangel und steigende Energiepreise haben das Papier nicht nur teurer werden lassen, sondern auch die Auswahl an Papiersorten verringert, seit die Papierfabriken mehr auf die Produktion von Kartonage setzen" wohl auch, "da mehr mit dem Verkauf von Versandkartons verdient werden kann als mit dem Verkauf von Papier. Die Folge ist, dass viele Papiere, die vor zwei Jahren noch zum üblichen Repertoire der Druckereien gehörten, derzeit seltener und erheblich teurer angeboten werden. ... Diese Vielfalt ist nicht mehr gegeben, so wie zuvor die kleineren Druckereien verschwunden sind, mit den wir besondere Bücher wie die von Marc-Antoine Mathieu produzieren konnten. Bücher, die sich durch spezielle Effekte wie 'angerissenes' Papier, Stanzungen oder einen besonderen Falz ausgezeichnet haben."

Für die FR spricht Bascha Mika mit dem ukrainischen Schriftsteller Andrej Kurkow, der aus Kiew aufs Land geflohen ist und für energischen Widerstand gegen die russische Besatzung plädiert: "Russen fühlen sich dem Kollektiv verpflichtet. Sie lieben ihren Zar und manchmal töten sie ihn, um einen neuen zu lieben. Die Ukrainer sind Individualisten und Anarchisten." Wer von den Russen "in diesen Verhältnissen nicht zum Widerständler wird, hat auch keine Lust zu widerstehen oder gegen die repressive Regierung in seinem Land zu kämpfen. In der Ukraine gab es seit dem Zerfall der Sowjetunion immer wieder Versuche, ein autoritäres Regime einzuführen. Dennoch sind die Leute auf die Straße gegangen und haben Proteste organisiert."

In einem lesenswerten ausführlichen Artikel erzählen Lucien Scherrer und Anja Lemcke in der NZZ die Geschichte der Schweizer Dichterin Helene Bossert, die 1953 nach Sowjetrussland gereist war und voll des Lobes für das sozialistische Paradies zurückkam. In der Schweiz wurde sie dafür als Landesverräterin beschimpft. Der Streit um ihren Fall dauert noch an: Hatte sich Bossert von einem verbrecherischen Regime missbrauchen lassen, oder war sie in der Schweiz "Opfer einer völlig irrationalen 'politischen Paranoia', wie es die Historikerin Rea Köppel ausdrückt".

Besprochen werden unter anderem Imre Kertészs "Heimweh nach dem Tod" (FR), Leïla Slimanis "Der Duft der Blumen bei Nacht" (Berliner Zeitung), Karl Ove Knausgårds "Der Morgenstern" (Standard, online nachgereicht aus der FAS), Bernardine Evaristos Autobiografie "Manifesto" (Tsp), Reinhard Kaiser-Mühleckers "Wilderer" (NZZ), Claire Thomas' "Die Feuer" (Tsp), Álvaro Enrigues "Jetzt ergebe ich mich, und das ist alles" (SZ), Liao Yiwus "Wuhan" (taz), David Diops "Reise ohne Wiederkehr" (Dlf Kultur) und Gianfranco Calligarichs "Der letzte Sommer in der Stadt" (FAZ).
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Musik

"Putin hat der Klassik die Unschuld genommen und ihre Strukturen nachweisbar kriminalisiert", schreibt Axel Brüggemann in seinem Crescendo-Newsletter. Doch "anders als beim Sport oder in der Wirtschaft gibt es in der Klassik keinen investigativen Journalismus, niemanden, der hinschaut, keinen, der aufschreit" - ein Befund, den das verdienstvolle VAN-Magazin sicher mit Befremden zur Kenntnis nehmen wird. "Es ist Zeit, die Korruption der Klassik aufzudecken, ihren aktiven und passiven politischen Missbrauch durch Künstlerinnen und Künstler. Auch Schweigen hat in dieser Zeit eine Bedeutung. Zur Wahrheit gehört, dass die Vorbereitungen auf einen Krieg, in dem Zivilisten auf offener Straße erschossen werden, auch - und gerade - in der Kultur und in der Klassik stattgefunden haben." Und Brüggemann geht mit gutem Beispiel voran, indem er im weiteren zahlreiche Verflechtungen - zu viele und zu komplex, um sie hier bündig zu vermitteln - offenlegt, insbesondere zu dem ursprünglich für heute geplanten, nun aber abgesagten Konzert von Teodor Currentzis mit musicAeterna in Wien (mehr zu dieser Absage im Standard).

Schon eher genervt ist SZ-Kritiker Joachim Hentschel vom Hype um das Duo Wet Leg: Die beiden britischen Musikerinnen werden gerade für ihren schluffig-lakonischen Humor, der ohne Ausrufezeichen daherkommt, gelobt (unser Resümee). Präsentiert wird "eine Welt mit zwei trinkfesten Schlaubergerinnen, die über Stalker, Online-Hass, Sexismus und Lebensuntüchtigkeit auch endlich mal wieder ein paar grummelige, hoch über den Dingen lümmelnde Gags reißen können, anstatt sich allzu sehr darüber zu echauffieren. Die Furien des echten Hip-Hop, die ihre Krallennägel ausfahren, ständig mit ernsten Konsequenzen drohen und die Vagina dentata wie einen Kampfhund vor sich herführen, erregen im Vergleich doch wesentlich mehr Furcht. Wet Leg sind leichte, lustige Kost dagegen - wie die Serie 'Fleabag' oder die Bücher von Sally Rooney. Wenn schon böse, dann doch bitte auf die schnuffige Art."

Außerdem: Für den Tagesspiegel spricht Aida Baghernejad mit Kae Tempest über deren neues Album (mehr dazu bereits hier). In der taz empfiehlt Carolina Schwarz den Podcast "Deso - Der Rapper, der zum IS ging".

Besprochen werden ein Benefiz für die Ukraine beim Lucerne Festival (NZZ), ein Auftritt von Zoe Wees in Frankfurt (FR), neue Klassikveröffentlichungen (SZ), neue Jazzveröffentlichungen (NMZ), neue Popveröffentlichungen (NMZ), neue Veröffentlichungen aus dem Bereich Neue Musik (NMZ) und das neue Album von Bilderbuch (ZeitOnline).
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Kunst

Nackenstütze, Papua-Neuguinea vor 1900. Foto: Dominik Drasdow/ Linden-Museum
Carmela Thieme freut sich in der taz, dass das Stuttgarter Linden-Museum seine ozeanische Sammlung zeigt und dabei immer auch den Unrechtskontext mitbenennt, in dem die Stücke erworben wurden. Zum Beispiel ein maßstabgerechtes Modell eines Männerhauses aus Papua-Neuguinea: "Die flächendeckenden Schnitzarbeiten wurden 1905 von Tene Waitere, dem damals bekanntesten Holzkünstler in Aotearoa, Neuseeland, und Kollegen geschaffen. Auftraggeber war Thomas E. Donne, der es nach London überführen ließ, wo das Linden-Museum es 1912 erwarb. Ein solches, als lebendiges Wesen verstandenes Versammlungshaus war das Zentrum der Gesellschaft. Seine Schnitzereien erzählten die Legenden der Ahnen und von dem Halbgott Māui, der unsterblich werden wollte. Er kroch in die Vulva der mächtigen Göttin der Dunkelheit, um durch ihren Mund als Gott wiedergeboren zu werden, während sie sterben würde. Seine Hybris wurde ihm zum Verhängnis. Hine-nui-te-pō erwachte, schloss ihre Schenkel und brach Māui entzwei."

Besprochen werden die Fotografie-Schau "Deutschland um 1980" im Landesmuseum Bonn (SZ), die David-Hockney-Ausstellung "Landschaften im Dialog" in der Gemäldegalerie in Berlin (FAZ) und die Raffael-Schau in der National Gallery in London (Observer)
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Film

Carolin Weidner berichtet in der taz vom Filmfestival Diagonale in Graz, das sich dem österreichischen Film widmet. In den teils ziemlich fordernden Dokumentar- und Essayfilmen von Rainer Frimmel, Gerald Igor Hauzenberger und Friederike Pezold stößt sie dabei auf "filmische Zeugnisse innerer Verhärtungen, die sich häufig als Überzeugungen tarnen, wo der Kontakt zur Gegenwart und den Mitmenschen teilweise aufgegeben wurde und man sich stattdessen für das Senden aus dem eigenen Parterre entschieden hat." Pezolds "Revolution der Augen" etwa plädiert dafür, sich dem digitalen Überschuss der Gegenwart einfach nicht mehr auszusetzen. "Dass durch Petzolds eigentlich erfrischend befremdliche Arbeit die Verbitterung der Abgehängten geistert, stimmt ein wenig traurig. Denn mindestens in ihrem großartigen 'Canale Grande'" von 1983 "übersetzte sich ihr Unmut über die so bereitwillig konsumierte mediale Bilderpest noch in Witz und Opulenz." Dazu passend resümiert Esther Buss in der Jungle World die Diagonale-Retrospektive zu Ehren von Tizza Covi und Rainer Frimmel.
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Bühne

Okka von der Damerau und Brian Mulligan in Wagners "Walküre". Foto: Martin Sigmund / Staatsoper Stuttgart

Oft schon wurden für Wagners Ring-Zyklus verschiedene Regisseure zusammengebracht. In einem spektakulären Versuch hat die Staatsoper Stuttgart jedoch allein die "Walküre" von gleich drei Regieteams inszenieren lassen. In der FR sieht Judith von Sternburg hier allerdings "eine Wahnsinnsgelegenheit, radikal ungenutzt verstrichen. Zuerst verspielt das Kollektiv Hotel Modern den Hunding-Akt. Dann inszeniert der von der Beleuchtung kommende Urs Schönebaum den Walhall-Akt so konventionell, als gälte es bloß rasch eine Lösung zu finden. Dann ist der Schlussakt der Künstlerin Ulla von Brandenburg eine poppige Unverbindlichkeit. Man ist da aber so weit, dass man sich an den Farben freut. Und daran, wie gut sich die Walküren bewegen. Denn gemeinsam ist allen drei Aufzügen ein unglaublich statisches Personal, dramatischster Beleg dafür, dass es hier um Ausstattungs- und zu keinem (erkennbaren) Zeitpunkt ernsthaft um Interpretationsfragen ging."

In der SZ ist Egbert Tholl dagegen hingerissen, vor allem die Gesangspartien von Brian Mulligan und Okka von der Damerau haben ihn betört mit ihrer "zarten, wundersame Poesie, die zu Herzen geht. Cornelius Meister macht es ihnen dabei nicht leicht, sein Orchester ist zu laut und zu langsam, was vor allem für Mulligans Wotan hart wird. Aber dennoch: Am Ende der ganzen 'Walküre' geht es nicht mehr um Götter und Welten, nur noch um Menschen. Das ist wundervoll, und rundet ein Experiment, das in all seiner Disparatheit faszinierend gut aufgeht.

Besprochen Nora Abdel-Maksouds Dirskursatire "Rabatt" am Berliner Gorki-Theater (Tsp, Nachtkritik, SZ, taz), Christoph Marthalers Krimipersiflage "Der letzte Pfiff" am Theater Basel (FAZ) und das szenische Haydn-Oratorium "Das Ende der Schöpfung" (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Architektur

111 West 57t. Bild: SHoP Architects

SHoP Architects haben ihre superdünnen Wolkenkratzer in New York fertiggestellt, wie Dezeen meldet, es sind die dünnsten der Welt. Er steht natürlich in der Milliardärsstraße in Midtown Manhattan, 111 West 57th. Schon vom Hinsehen wird einem schwindlig. Der Luxusbau ist 433 Meter hoch und steht auf einer Basis von nur 13 Metern Breite, was ihm ein Verhältnis von 24:1 gibt. Zum Vergleich: Beim Empire State Building liegt das Verhältnis bei 1:3, bei den Türmen des World Trade Center betrug es 1:6.
Archiv: Architektur