Efeu - Die Kulturrundschau

Traum von einem Bombenabwurf

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14.04.2022. Die FAZ fordert die Documenta auf, endlich, wie versprochen, ihre Haltung zum BDS zu diskutieren - und zwar auch mit Kritikern des BDS. In der NZZ berichtet der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow von der Bombardierung des Charkiwer Stadtteils, in dem seine Eltern wohnen. Wie bösartig Kinder sein können, lernen die Filmkritiker in Eskil Vogts Horrorfilm "The Innocents". Die FR staunt über die Bilder des mit 25 Jahren ermordeten Malers und Einbrechers Stéphane Mandelbaum. Und VAN fragt: Was macht Valery Gergiev jetzt mit seinen 100 Millionen?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.04.2022 finden Sie hier

Film

Size does matter: Sean Bakers "Red Rocket" leuchtet von 16mm-Material.

Bei Sean Bakers "Red Rocket", eine Tragikomödie über einen abgehalfterten Ex-Pornodarsteller, der sein Leben in den Griff kriegen muss, zeigt sich FR-Kritiker Daniel Kothenschulte mal wieder, was für ein Schatz der US-Independentfilm ist, gerade wenn er aufs Außenseitertum blickt. "Angesiedelt während des Trump-Wahlkampfs 2016 spielt 'Red Rocket' in einem Amerika der eng begrenzten Möglichkeiten. ... Es sind die weiblichen Nebenfiguren, die zu den komplexesten Charakteren aufsteigen - und dem Film die Liebenswürdigkeit geben, die er der Hauptfigur verweigert. Baker arbeitet mit Laiendarstellerinnen und Neuentdeckungen wie die Meister des italienischen Neorealismus." Nicht zu vergessen "sind die leuchtenden Pigmente von 16mm-Filmmaterial, das Baker mit einer Cinemascopeoptik zu echtem Breitformat ausbelichtet hat. Eine trügerische Weite, betörend in ihren lyrischen Unschärfen." Baker hat sich "wie kein Zweiter auf die Seite des Prekariats und der gesellschaftlichen Randgestalten geschlagen", schreibt Jens Balkenborg im Freitag. Der Filmemacher erzählt "in seinen Independent-Werken eine US-Parallelwelt voller Armut und Schönheit, voller Humor und Bodenständigkeit, ohne dabei verstörend, didaktisch, warnend oder (im male gaze Sinne) ausbeuterisch zu sein", schwärmt Jenni Zylka in der taz: So ist dieser Film "kein frauen- und auch kein männerfeindlicher Film. Sondern vor allem ein menschenfreundlicher."

Ein neuer Klassiker des fantastischen Kinos: "The Innocents" von Eskil Vogt

Eine Gruppe Kinder entdeckt übersinnliche Fähigkeiten: Was anfangs wie ein Familiendrama mit Knatsch unter Geschwistern beginnt, wird rasch eine mulmige Angelegenheit: Eskil Vogts Arthouse-Horrorfilm "The Innocents" verstört die Kritik im positiven Sinn. "Kinder sind unschuldige Wesen - diese Gewissheit ist so stark, man kann sie immer wieder aufs Neue erschüttern", staunt Olga Baruk im Perlentaucher. "Eine mit blutigen Schockeffekten gespickte Coming-of-Age-Geschichte" sieht Andreas Busche vom Tagesspiegel. "Die Erwachsenen sind in 'The Innocents' nicht der Feind, sie stehen im Alltag der Kinder sogar außen vor." Sie "müssen ihre moralischen Konflikte unter sich austragen, die Grenze zwischen richtig und falsch erkennen. Das kluge Drehbuch macht diesen Konflikt in ihren wechselnden Koalitionen sichtbar."

Der norwegische Regisseur und Drehbuchautor interessiere sich "für die Grenzüberschreitungen, die weit über das Erträgliche hinausgehen", schreibt Valerie Dirk im Standard. "Was mit einem Auge schelmisch in Richtung der allgegenwärtigen Superheldenfilme schielt, ist inszeniert wie eine realistische Milieustudie. Ähnlich wie Celine Sciamma in 'Tomboy' gelingt es Regisseur Vogt, die zwischen Anspannung und Ausgelassenheit schwankende Sommerferienstimmung sinnlich erfahrbar zu machen." Vogt "lässt das Unheimliche hervortreten, das im Handeln dieser Kinder liegt", merkt Peter Körte in der FAS dazu an. "Es wirkt ziemlich lange nach." Tazler Tim Caspar Boehme sieht den jungen Darstellern "einfach gebannt" zu, "selbst wenn man manchmal wegschauen möchte". Und FR-Kritiker Daniel Kothenschulte legt sich fest: "Es ist nicht zu hoch gegriffen, diesen ungewöhnlichen Film unter die Klassiker des fantastischen Kinos einzureihen."

Besprochen werden Mahamat-Saleh Harouns "Lingui" (SZ), François Ozons "Alles ist gutgegangen" (taz, NZZ, Freitag, Welt), die Apple-Serie "Pachinko" (FAZ), Marc Boettchers Dokumentarfilm "Belina - Music For Peace" über die jüdische Folksängerin Lea-Nina Rodzynek (taz), die zweite Staffel von "Euphoria" (ZeitOnline), Sönke Wortmanns Bildungssystemkomödie "Eingeschlossene Gesellschaft" (Tsp), Antje Schneiders Dokumentarfilm "Vier Sterne plus" über David-Ruben Thies' Vorschläge für das Gesundheitssystem (Freitag), Nadav Lapids "Aheds Knie" (NZZ) und Tarik Salehs Actionfilm "The Contractor" (Perlentaucher). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich diese Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Kunst

Stéphane Mandelbaum, Selbstporträt, 1982. © Alberto Ricc


Ganz schön verstörend, was FR-Kritikerin Sandra Danicke da im Frankfurter MMK Tower sieht. Die Kunst des 1986 im Alter von 25 Jahren ermordeten Malers und Einbrechers Stéphane Mandelbaum muss man erst mal aushalten, stellt sie fest. "Bisweilen ist gar nicht klar, ob man es mit ausgefeilten Kompositionen oder mit zufällig entstandenen Schmierzetteln zu tun hat. Dann wieder klebte er Zeitungsfotos auf, die beim Näherkommen erschrecken, weil man plötzlich auf eine entblößte Klitoris blickt. Oder man entdeckt zwei gezeichnete kopulierende Schweine mit Davidsternen und Schläfenlocken und erstarrt. Auch Hakenkreuze findet man immer wieder in diesem Werk. Es scheint, als zeichnete sich der Außenseiter Mandelbaum - Jude, Homosexueller, Verbrecher - das Elend der Welt aus der Seele. Als exorzierte er gleichsam das Schicksal seiner Familie (der Großvater war Überlebender der Shoah), das Schicksal der Halbweltgestalten, der leidenden Exzentriker. Nicht wenige derer, die Mandelbaum abbildete, sind gewaltsam gestorben, etwa der linksradikale Aktivist Pierre Goldman, dem man erst einen Mord in die Schuhe schob, bevor man ihn auf offener Straße umbrachte."

So geht's nicht, meint in der FAZ Niklas Maak mit Blick auf die Documenta, die ihre Haltung zu BDS nicht diskutieren mag (ein Interview mit einem der Kuratoren zum Thema wurde von der Leitung der Documenta nicht freigegeben) und wenn, dann aber auf keinen Fall mit BDS-Kritikern. "Es gibt viele transnationale Künstlerkollektive, die jenseits von Boykott-Aufrufen an anderen Formen von Kritik arbeiten und denen es gelingt, das Leid der Palästinenser zum Thema zu machen, ohne das Existenzrecht Israels zu bestreiten, und die umgekehrt die Sorge der israelischen Bevölkerung zeigen, ohne 'die Palästinenser' kollektiv zu dämonisieren. Noch weiß man nicht, wer eingeladen ist nach Kassel - und wer aus welchen Gründen nicht. Wenn man auch auf der Documenta - wie es bei anderen Kulturveranstaltungen geschah - bestimmte israelische Künstler nicht einlädt, damit die BDS-Sympathisanten teilnehmen können, die sich weigern, mit Israelis auf einer Bühne zu stehen: Dann wäre das sympathische Bild der Gemeinschaftsscheune schon zusammengebrochen, bevor diese überhaupt eröffnet wird. Aufgeschreckt von Nachfragen, kündigt die Documenta nun an, der Kurator werde seine Aussagen zum BDS 'redigieren' und, anders als geplant, in der redigierten Form freigeben. Den Versuch, Berichterstattung zu unterbinden, macht das nicht ungeschehen."

Außerdem: Nicola Kuhn besucht für den Tagesspiegel das Kiasma, Helsinkis Museum für zeitgenössische Kunst. Stefan Trinks betrachtet für die FAZ Die "Tegernseer Tabula Magna", die Gabriel Angler um 1444 gemalt hat. Besprochen werden außerdem eine Ausstellung von Marlene Dumas in François Pinaults Palazzo Grassi in Venedig (Welt)
Archiv: Kunst

Literatur

In seinem in der NZZ veröffentlichten Kriegstagebuch aus Charkiw beschreibt der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow ein Bombardement des Stadtteils, in dem seine Eltern wohnen. Seine Nachbarn in oberen Stockwerken haben den Brand gefilmt: "Die Trennlinie zwischen Himmel und Stadt flackert wie in alten Filmen. Das Feuer fließt schnell dem Horizont entlang, erscheint links, rechts, in der Mitte und wieder links. Im orangefarbenen Stroboskoplicht kann ich Rauchwolken sehen, die wie Pilze in die Höhe schiessen und deren Spitzen mit der Dunkelheit der Nacht verschmelzen. Die meisten Rauchschwaden sind orange, aber einige sind auch gelb oder sogar leicht grün. Dann fallen wir alle in den Schlaf. Es ist das erste Mal, dass ich einen Traum von einem Bombenabwurf habe."

Weitere Artikel: In der FAZ berichtet Katrin Hillgruber vom Literaturfestival in Ascona. Paul Jandl erinnert in der NZZ  an Robert Musils letzten Lebensjahre, die der Schriftsteller unter kargen Bedingungen im Schweizer Exil verbrachte. Georg Stefan Troller erinnert sich in der Welt an eine Begegnung mit dem Schriftsteller Romain Gary. Andreas Platthaus schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Schriftsteller Thomas Rosenlöcher.

Besprochen werden unter anderem Ljudmila Ulitzkajas Erzählungsband "Alissa kauft ihren Tod" (online nachgereicht von der FAZ), Dirk Kurbjuweits "Der Ausflug" (ZeitOnline), Sascha Machts "Spyderling" (SZ), Walerjan Pidmohylnyjs "Die Stadt" (Zeit), neue Kinder- und Jugendbücher (taz) und Reinhard Mehrings Studie "'Kafkanien'. Carl Schmitt, Franz Kafka und der moderne Verfassungsstaat" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Im Standard unterhält sich Ljubiša Tošic mit Calixto Bieito, dessen Inszenierung von Wagners "Tristan und Isolde" heute abend an der Wiener Staatsoper Premiere hat. Besprochen werden Giovanni Sollimas Vertonung des "Dschungelbuchs" als Comic-Oper am Lübecker Theater (nmz), eine "Walküre" in Stuttgart, die von drei verschiedenen Regieteams inszeniert wurde (das gelingt gut und ist angenehm abwechslungsreich, lobt Joachim Lange in der nmz) und die Performance "Semiotiken der Drecksarbeit" von Nuray Demir und Minh Duc Pham im Berliner HAU3 (taz).
Archiv: Bühne

Musik

Das Team um Alexej Nawalny hat die Finanzen Valery Gergievs durchleuchtet - Anna Tarassowa hat sich die Ergebnisse für das VAN-Magazin näher angesehen. Zu Gergievs beträchtlichem zählen etwa über New York, Italien und Russland verstreute Luxus-Immobilien im Höchstpreissegment und in attraktivster Lage. "Weiter erhebt das Nawalny-Team gegenüber Gergiev den Vorwurf, er deklariere seine umfangreichen Besitztümer seit 2017 nicht mehr öffentlich. Das sei 'absolut illegal', da die Steuererklärungen anderer Theaterleiter jedes Jahr publiziert würden. Ausländische Besitztümer wie den Wohnungskauf in New York habe er ohnehin nie bekannt gemacht. 'Denn wenn diese Wohnung in der Erklärung stünde, dann würden sich jedes Mal, wenn Putin und Gergiev vom 'schrecklichen Westen' erzählen, alle empören und sagen: Lieber Gergiev, hör auf, uns anzulügen, du hast eine Wohnung in New York. Warum erzählen Sie uns Märchen?' ... Darüber hinaus soll der Dirigent laut der Recherche Gelder der Valery Gergiev Charitable Foundation, die mit dem Ziel gegründet wurde, junge Musiker zu unterstützen und 'Russlands kulturellen Einfluss in der Welt zu vergrößern', für persönliche Zwecke verwendet haben." Ein Video präsentiert die Rechercheergebnisse - englische Untertitel sind zuschaltbar.



Im VAN-Gespräch erklärt Dirigent Iván Fischer, warum er auch nach Orbans erneuter Wiederwahl Ungarn nicht verlassen will: "Ich möchte mein Publikum nicht im Stich lassen. Sie füllen die Säle, sie brauchen Musik, sie brauchen frische Luft. Vor allem in Budapest gab es immer schon ein großes Verlangen, zu Europa zu gehören, ich fühle es in jedem Konzert."

Diese Interpretation der "Matthäuspassion" spendet keinen Trost, schreibt Michael Stallknecht in der NZZ über eine von Raphaël Pichon geleitete Aufnahme von Bachs Werk durch das Ensemble Pygmalion. "Der französische Dirigent erzählt die Passion als Tragödie, die ohne jede mögliche innerweltliche Lösung auf den Tod Gottes zurast. ... Wenn die Sopranistin Sabine Devieilhe ihr 'liebes Herz' auffordert: 'Blute nur!', scheint sie sich wirklich die Brust aufzureißen. 'Ich bin's, ich sollte büßen', diese Botschaft Bachs formuliert Pichon mit seinem Originalklang-Ensemble so harsch, so unsentimental wie kaum einer zuvor: dass niemand die Welt verändert, indem er den Zeigefinger gegen andere hebt." Bereits gestern besprach Helmut Mauró in der SZ diese Aufnahme.

Außerdem: In der FAZ gratuliert Edo Reents der Countrysängerin Loretta Lynn zum 90. Geburtstag. Claudius Seidl wiederum gratuliert in der FAZ dem Filmkomponistin Bill Conti zum 80. Geburtstag. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker hier über Joan Trimble und dort über Marie Bigot. Besprochen werden neue Alben von HVOB (Standard) und Father John Misty (SZ).
Archiv: Musik