Efeu - Die Kulturrundschau

Faible fürs Okkulte

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23.04.2022. Die Kunstkritiker streifen verwirrt über die Biennale in Venedig: Ist diese große Surrealismusschau Realitätsverweigerung, alternative Wissensweisen oder ein Sieg der Poesie über den Rationalismus? In der SZ berichtet Bernard Henri-Lévy von seiner Reise quer durchs ukrainische Kriegsgebiet. Nie war das Kino humorloser als heute, klagt Artechock. Warum Lehm auch in Deutschland ein hervorragender Baustoff wäre, erklärt im Interview mit der FAZ die Architektin Anna Heringer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.04.2022 finden Sie hier

Kunst

Pawlo Makow, Der Brunnen der Erschöpfung, 1995. Zeichnung. Courtesy Pawlo Makow


Gestern wurde offiziell die Biennale in Venedig eröffnet, die unter dem Motto "The Milk of Dreams" dem Surrealismus huldigt - ein Thema, mit dem einige Kritiker fremdeln, ist es doch vom Kriegsgeschehen in der Ukraine denkbar weit entfernt. "Auch der ukrainische Pavillon eröffnet an diesem Samstag", schreibt Sophie Jung in der taz: "Im Arsenale, hinter den türkischen und singapurischen Beitrag geradezu abgeschoben, als würde der Ort des Pavillons die europäische Randlage des Landes versinnbildlichen, steht die wandhohe Pyramide aus Kupfertrichtern von Pawlo Makow. Wasser tröpfelt von oben auf die ersten Kelche, bis es sich über ihre zweiarmigen Ausgüsse auf die gesamten 78 schon quietschgrün oxidierten Gefäße langsam verteilt wie ein desolates Wasserspiel. Eine Metapher für Mensch und Natur, sagt der Künstler, ein 'Brunnen der Erschöpfung', so auch der Titel der Installation. Ko-Kuratorin Maria Lanko hat die Trichter des in Charkiw lebenden Makow in drei Kisten mit dem eigenen Auto bis nach Venedig gebracht. Die Tragik dieses Krieges und die Frage, was angesichts dessen die Kunstschau überhaupt noch soll, dringen direkt hervor in diese Biennale und versinken dann aber wieder im Rausch der 58 Länderpavillons und über 1.200 weiteren Künstler:innen der Hauptausstellung."

Findet als einzige Gnade vor den Augen der FR-Kritikerin: Precious Okoyomon und ihre Kudzu-Pflanzungen. Earthseed, MMK für moderne Kunst, Frankfurt, 2020. Photo Axel Schneider. Courtesy the Artist


Die für den Westen "zentralen Topoi der Gegenwart" können auf der Biennale alle besichtigt werden: die Vereinigung von Mensch und Maschine oder die Verwischung von Geschlechtergrenzen, gibt FR-Kritikerin Sandra Danicke missmutig zu Protokoll. "Allerdings verfestigt sich beim Durchqueren der Ausstellung ein ganz anderer Eindruck: Man hat das Gefühl, zahlreiche der hier präsentierten Künstlerinnen und Künstler wollten der Realität lieber entfliehen, anstatt sich mit ihr auseinanderzusetzen. Da werden Zauberwälder und Parallelwelten beschworen, Traumlandschaften evoziert, Bäume umarmt, dass man sich erstaunt die Augen reibt. Hätte man all dies vor zehn, zwanzig Jahren gezeigt, wäre man über die zahlreichen Entdeckungen, die man hier zweifellos machen kann, vermutlich begeistert gewesen. Jetzt, gefühlte 27 Surrealismus-Ausstellungen später, ist man doch eher befremdet." Ganz anders sieht das Gesine Borcherdt in der Welt: "Alemani ist es gelungen, unter dem Begriff des Surrealismus, der hier nicht nur als Epoche der Kunst, sondern als inneres Stimmungsbild zu verstehen ist, unter diesem Begriff also ein Zeitbild zu schaffen, in dem die Kunst die Stimme erhebt" und "das Rationale gegen die Poesie eintauscht, das Kalkül gegen die Freiheit".

In der SZ blickt Peter Richter milde lächelnd auf das weiblich "Unterleibliche" der Biennale: "Ausgerechnet den Surrealismus nun jubelnd als Bewegung für feministisches Empowerment hingestellt zu bekommen, mag verblüffen, eigentlich sogar ein bisschen beängstigen, ist aber äußerst zeitgenössisch. Denn Leute mit Faible fürs Okkulte wissen es längst, und wer Esoterischen mit Skepsis oder gar Aversionen gegenübersteht, muss seit einigen Jahren umso mehr zur Kenntnis nehmen: Die Rückkehr magischen Denkens wird unter dem Rubrum 'alternative Wissensweisen' als emanzipatives Projekt verstanden und mit großem institutionellem Erfolg vorangetrieben." Ins Stocken geraten kann die Begeisterung für Esoterik im Raum der Ukraine, "wo einem der 'Westen' zur Abwechslung nicht als etwas begegnet, das rationalitätskritisch angeklagt wird, sondern für dessen Zugehörigkeit gerade Menschen in den Tod gehen, die lieber nicht einer Herrschaft des Mystizismus anheim fallen wollen." Weitere Artikel zur Biennale im Standard und im Tagesspiegel.

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung mit Grafiken von Hans Uhlmann im Kunsthaus Dahlem in Berlin (Tsp), die Ausstellung "Moved by Schlemmer: 100 Jahre Triadisches Ballett" in der Staatsgalerie Stuttgart (FAZ) und die Ausstellung "Alfred Kubin. Bekenntnisse einer gequälten Seele" im Wiener Museum Leopold (FAZ).
Archiv: Kunst

Architektur

Meti-Schule von Anna Heringer und Eike Roswag in Bangladesh. Foto: Kurt Hoerbst


Schönheit und Ökologie gehen eher selten zusammen. In der Architektur kann das aber gelingen, versichert die Architektin Anna Heringer, die für ihre Schule aus Lehm in Bangladesch 2007 mit dem Aga-Khan-Architekturpreis ausgezeichnet wurde, im Interview mit Hannes Hintermeier (FAZ). Lehm ist der ideale Baustoff, meint sie. Er ist billig, fühlt sich wunderbar an und eignet sich hervorragend für smarte Städte: "Denken Sie an den hybriden Lehm-Betonbau des Ricola-Kräuterzentrums von Herzog & de Meuron. Dort ersetzen die Wände unheimlich viel Technologie, denn der Lehm übernimmt die Klimatisierung. Und er ist resilient, auch bei Cyberattacken und Stromausfall funktioniert er weiter. Die Suche der Industrie nach 'grünem' Beton ist überflüssig, eigentlich gibt es den schon." In Deutschland stehen allerdings oft die Bauvorschriften vor dem Bauen mit Lehm, so Heringer, "vor allem regiert hier die Angst vor möglichen Fehlern. Das hemmt, denn für Innovation muss man erst einmal mutig sein. Man müsste die Bauordnung einmal nach der Frage durchforsten: Welchen Lobbys nutzt sie?"

Exhibition View © Erik-Jan Ouwerkerk


Im chinesischen Jinyun gibt es um die 3000 Steinbrüche, die aus Sicherheits- wie Umweltgründen aufgegeben wurden, lernt Tagesspiegel-Kritiker Bernhard Schulz in einer Ausstellung der chinesischen Architektin Xu Tiantian im Berliner Architekturforum Aedes, wo er in eine Schlucht hinabsteigen muss um zu sehen, wie man den zerstörten ländlichen Raum wieder mit Leben füllen könnte: "Neun dieser bislang sich selbst überlassenen Ausschachtungen hat Xu Tiantian zu nutzbaren Räumen umgestaltet, um als Bühne, Konzertsaal, Versammlungsort zu dienen. Daher die Treppen und Podeste, besonders eindrucksvoll beim Steinbruch 'Bücherberg', der eine Art Freihandbibliothek aufgenommen hat, wobei das Tageslicht durch den nach oben schmaler werdenden Spalt zwischen den links und rechts aufragenden Felsmassiven fällt."
Archiv: Architektur

Film

Rüdiger Suchsland von Artechock hat derzeit wenig zu lachen: "Die Filme, vor allem die Kinofilme, nehmen sich alle viel zu ernst", stöhnt er nach Robert Eggers' Wikinger-Bombast-Sause "The Northman" (unsere Kritik), in dem auf Lachen die Hinrichtung mit der Breitaxt als Strafe steht. Ein Zeitgeistphänomen: "Nie gab es eine Epoche der Kinogeschichte, die humorloser war als die jetzige. Es geht immer weniger um Spielereien, um persönliche Leidenschaften und Spleens der Macher, und immer mehr um Kontrolle. Statt mit dem Publikum in Dialog zu treten, soll es möglichst gesteuert werden. Übrigens völlig egal ob es sich um Autorenkino oder Blockbuster handelt." Hoffnungen setzt Suchsland dagegen auf ein Comeback des Erotikthrillers, dessen Geschichte dieser hervorragende Podcast derzeit erzählt.

Weitere Artikel: Zum Kinostart von Robert Eggers' Wikingerfilm "The Northman" (hier unsere Kritik) denkt Marcus Stiglegger im Filmdienst über die Wirkmächtigkeit nordischer Mythen im Kino nach. Jonas Nestroy resümiert für critic.de das Festival Visions du Reel in Nyon. David Steinitz (SZ) und Jan Wiele (FAZ) gratulieren Barbra Streisand zum 80. Geburtstag. Im Filmdienst gratuliert Patrick Holzapfel Elaine May zum 90. Geburtstag, die zu den wenigen Filmemacherinnen aus New Hollywood zählt.

Besprochen werden Serpil Turhans Porträtfilm "Koy" über drei in Berlin lebende kurdische Frauen unterschiedlicher Generationen (online nachgereicht von der FAZ, unsere Kritik hier), die neue Serie "Gilded Age" des "Downtown Abbey"-Erfinders Julian Fellowes (FAZ, Welt, ZeitOnline), Catherine Corsinis "In den besten Händen" (Artechock, Filmdienst), Sylvie Ohayons "Haute Couture" (Artechock, ZeitOnline), Robert Eggers' "The Northman" (Standard, Artechock, Filmdienst, unsere Kritik hier), Aaron und Adam Nees Actionkomödie "The Lost City" (Artechock), Will Sharpes "Die wundersame Welt des Louis Wain" (Artechock), der Dokumentarfilm "Fuoco sacro" über die Sopranistinnen Asmik Grigorian, Barbara Hannigan und Ermonela Jaho (Tsp, mehr dazu bereits hier), Jennifer Peedoms "River" (Artechock, Filmdienst) und Peter Brunners Bergdrama "Luzifer" mit Franz Rogowski (Standard).
Archiv: Film

Literatur

Bernard Henri-Lévy erzählt in der SZ von seiner Reise quer durchs ukrainische Kriegsgebiet, von seinen Beobachtungen in Kiew und Butscha und von einer Nacht in den Katakomben unter einem Kloster, in denen Geflohene Schutz und Unterkunft suchen. Viele junge Leute sind da, und auch ganz kleine Kinder: "Wenn ein Alarm ertönt, erzählen ihnen die Dorfbewohner, die abwechselnd auf sie aufpassen, dass es das Feuerwehrauto ist. Wenn eine Explosion zu hören ist, ist es der Donner. Und wenn die älteren Kinder ihnen auf einem Handy Bilder von Raketen gezeigt haben, erklären sie ihnen, dass es ein Feuerwerk war. Ich weiß nicht, ob Selenskij recht hat, wenn er die von Putin beschlossene Zerstörung der Ukraine als Völkermord bezeichnet. Aber wir haben einen Abend verbracht, das steht fest, mit Kindern, die dem kleinen Giosuè aus Roberto Benignis 'Das Leben ist schön' ähneln, dem sein Papa weismachen wollte, dass das Leben im Konzentrationslager nur eine große Inszenierung war. Wer sollte 'entnazifiziert' werden? Wirklich die ukrainischen Nationalisten? Oder die Peiniger dieser Kinder, deren Leben zerbrochen ist?"

Die taz bringt fünf Gedichte des belarussischen Lyrikers Dmitri Strozew, die dieser über den Ukrainekrieg verfasst hat. Außerdem hat sie mit ihm gesprochen. Für ihn ist der Krieg im Nachbarland "eine weitere tiefe Zäsur nach der gescheiterten Revolution 2020. 'Ich denke, die Unterdrückung der Protestbewegung in Belarus war Teil der Vorbereitung des geplanten Überfalls auf die Ukraine', sagt er. Die Zivilgesellschaft in Belarus musste zerschlagen werden, um Belarus als Aufmarschgebiet für den Überfall auf die Ukraine einrichten zu können.' Der Großteil der Belarussen empfinde die gegenwärtige Situation in ihrem Land wie eine Okkupation durch Russland."

Im "Literarischen Leben" der FAZ legt uns Christiane Pöhlmann den russischen Schriftsteller Iwan Schmeljow ans Herz, der schon vor 100 Jahren in "Die Sonne der Toten" das russische Wüten auf der Krim beschrieben hat und damit Thomas Mann beeindruckte. "Rechtlosigkeit, Folter, Erschießungen, Hunger und Elend - der Ich-Erzähler nimmt sein einstiges Paradies, die Krim, nun als apokalyptisch anmutende Umgebung wahr. ... Noch heute, da weitere Darstellungen jener Zeit hinzugekommen sind, bleibt es ein Solitär. Thomas Mann hat Schmeljow nach der Lektüre dieses Buchs voller Schmerz 1931 für den Nobelpreis vorgeschlagen. Der Ton verströmt eine ungeheure Einsamkeit und Verlassenheit, seine beinahe lyrische Grundierung verleiht dem Text unverändert Sogkraft." Eben ist auch Iwan Schmeljows "Der Mensch aus dem Restaurant" wieder aufgelegt worden - eine Rezension findet sich im Standard.

Weiteres: Die NZZ liefert die 46. Folge von Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw. In der morgen erscheinenden WamS wirft Richard Kämmerlings einen Blick darauf, wie Judith Hermann, Helene Bukowski, Roman Ehrlich und Christoph Ransmayr die sich abzeichnende Klimakatastrophe in den Blick nehmen. Außerdem porträtiert Marc Reichwein in der Welt den Schriftsteller Claudio Magris.

Besprochen werden unter anderem Wole Soyinkas "Die glücklichsten Menschen der Welt" (SZ), Abdulrazak Gurnahs "Ferne Gestade" (NZZ), diverse erstmals auf Deutsch veröffentlichte Manga-Klassiker, darunter Osamu Tezukas "MW" (taz), Kristine Bilkaus "Nebenan" (ZeitOnline), Jelena Schwarz' Gedichtband "Buch auf der Fensterbank" (FR) und Walerjan Pidmohynyis "Die Stadt" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Im Tagesspiegel berichtet Rüdiger Schaper über die große, von der Primaballerina Iana Salenko organisierte Benefiz-Gala für die Ukraine in Berlin.

Besprochen werden "Gudruns Lied" am Staatstheater Mainz (FR), Oliver Haffners "Ein Geschenk der Götter" am Theater Pforzheim (nachtkritik), "Leaving Carthago" von Pina Bergemann und Anna Gschnitzer am Theaterhaus Jena (nachtkritik), Anatol Preisslers Inszenierung von Tschechows "Onkel Wanja" am Ernst Deutsch Theater in Hamburg (nachtkritik), eine Aufführung des Musicals "Harmony" - eine Geschichte der Comedian Harmonists - von Barry Manilow und Bruce Sussman im New Yorker Museum of Jewish Heritage (SZ) sowie ein "Tempest Project", frei nach Shakespeare, inszeniert von Peter Brook und Marie-Hélène Estienne am Théâtre des Bouffes du Nord in Paris (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Besprochen werden das Debütalbum von Wet Leg (Freitag, mehr dazu hier), ein Tschaikowsky-Konzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko (Tsp), ein Auftritt von Francesco Tristano in Wien (Standard) und das Soloalbum "Midnight Rocker" des Massive-Attack-Sängers Horace Andy ("ein grandioses Spätwerk", schwärmt Karl Fluch im Standard).

Archiv: Musik