Efeu - Die Kulturrundschau

Steinzeitalte Missverständnisse

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.04.2022. Die Filmkritiker feiern Gaspard Noés "Vortex" als umwerfende Meditation über Alter und Sterben eines greisen Pariser Ehepaars. Die FAZ freut sich über die Wiederentdeckung der Künstlerin Hanna Nagel in Mannheim. Die NZZ staunt über die jugendlichen Gastkritiker im Literarischen Quartett, die alles lieferten, nur keinen literaturkritischen Quark. Und sie trauert um Krautrocker Klaus Schulze.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.04.2022 finden Sie hier

Film

Erzählt nüchtern vom Sterben: "Vortex"

Gipfeltreffen der Transgressionsmeister: "Vortex", ein Sterbedrama von Gaspar Noé mit dem italienischen Regisseur Dario Argento in seiner ersten Rolle vor der Kamera - er spielt einen ins Alter gekommenen Intellektuellen und Filmkritiker, dessen Frau (gespielt von der großen Francoise Lebrun) in die Demenz absinkt. Gedreht ist der Film fast durchweg mit einem Splitscreen: Dies "erzählt von einer mentalen Trennung der beiden Hauptfiguren", schreibt Nicolai Bühnemann im Perlentaucher. "Schwer zu sagen, wann der Split Screen bedrückender ist; in den Szenen, in denen auf beiden Bildhälften gänzlich verschiedene Dinge geschehen, etwa in einem Handlungsstrang, der von der Affäre des Vaters mit einer anderen Frau erzählt. Oder aber in den Szenen, in denen die Bildhälften und die Figuren fast, aber eben nie ganz zueinander finden. Es geht Noé um das, was die Menschen auch dann noch voneinander trennt, wenn sie versuchen, sich Halt und Geborgenheit in einer zunehmend ausweglosen Lage zu geben."

Der einstige wilde Mann des französischen Kinos hat mit "Vortex" ein sensibles Drama gedreht, freut sich Daniel Kothenschulte in der FR, "ein Kammerspiel um das von Krankheit, Demenz und Todesnähe verdunkelte Lebensende eines greisen Ehepaars." Philipp Stadelmaier von der SZ sah "eine umwerfende Meditation". Auf ZeitOnline staunt Sebastian Seidler: "Selten wurde in einer derart nüchternen Zärtlichkeit über das Sterben erzählt. 'Vortex' befreit uns vom Kitsch und blickt dem Schrecken der Demenz ins Gesicht."  Mit diesem Film verarbeitet Noé auch die Sterbebegleitung an der Seite seiner dementen Mutter, verrät er im taz-Interview.

"Babyn Jar. Kontext" von Sergei Loznitsa

Marte Moneva resümiert für den Freitag das goEast-Festival in Wiesbaden, das auf den osteuropäischen Film spezialisiert ist und im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine vom Krieg überschattet wurde. Kontroversen gab es um die wenigen verbliebenen russischen Filme im Programm, aber auch um Sergei Loznitsas neuen Film "Babyn Jar. Kontext" über das Massaker von Babyn Jar. Material lieferten ihm deutsche, russische und ukrainische Archive. "Der entstandene Film ist zutiefst verstörend und hat in der Ukraine zu heftiger Kritik geführt, weil er eben auch ukrainische Mittäter und Mitläufer zeigt. Bei der Vorführung jetzt in Wiesbaden regnete es ebenfalls Kritik in diesem Zusammenhang. Ob Loznitsa sich dessen bewusst wäre, wie der Film im jetzigen Kontext als Propagandamittel verwendet werden könnte? Zu Sowjetzeiten hätte es diesen Film nie geben können. Jetzt kommt er gerade zur richtigen Zeit, um daran zu erinnern, wie man nicht handeln sollte, wenn es ein Morgen geben soll."

Außerdem: In der Welt porträtiert Britta Schmeis die Schauspielerin Pheline Roggan vor, die sich für mehr Klimaschutz beim Filmdreh einsetzt. Besprochen werden Florence Miaihes Animationsfilm "Die Odyssee" (SZ, ZeitOnline, FR, ZeitOnline), Andreas Dresens "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bus" (taz, Freitag, Welt, Tsp), Peter Brunners "Luzifer" mit Franz Rogowski (Perlentaucher), Luke Hollands Dokumentarfilm "Final Account" über frühere SS-Mitglieder (Tsp) und "Downtown Abbey 2" (online nachgereicht von der FAZ). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich diese Woche wirklich lohnen.
Archiv: Film

Musik

Das Symphonieorchester Kiew ist auf Tour. Aus Dankbarkeit gegenüber Polen, wo das Orchester Unterschlupf zum Proben vor der Tour fand, hat man auch eine polnische Komposition ins Programm geholt. Wird es im Laufe der Tour auch einen deutschen Programmpunkt geben, fragt sich Andreas Platthaus in einer Notiz in der FAZ und ist sehr skeptisch, was diese Mobilmachung der Kunst betrifft. Zumal der polnische Kulturminister Gliński gerade auch das Ukrainian Freedom Orchestra hat mitgründen lassen. "Nicht bekanntgemacht worden ist dagegen, das aus Glińskis Ministerium bereits Ende März eine Empfehlung an polnische Institutionen ergangen ist, Darbietungen russischer Kunst abzusetzen. ... Die Kraft von Kultur liegt offenbar in ihrer Destruktionswirkung: Die der Gegenseite fürchtet, die der eigenen fördert man. Und Musik entwickelt sich zum Hauptschauplatz des Kulturkriegs. Kein Ton im Konzert, kein Text im Programm, der unschuldig wäre. Kein Wort deshalb darüber, dass es der Russe Tschaikowsky war, der mit seiner Begeisterung die Entstehung von Mykola Lyssenkos ukrainischer Oper 'Taras Bulba' förderte, deren Vorspiel in Leipzig als erste Zugabe gespielt wird. Stehende Ovationen für Ignoranz?" Einen Mitschnitt des Tourauftakts in Dresden gibt es beim Dlf Kultur.

Eine traurige Nachricht vom Abend: Klaus Schulze ist tot - Synthesizerpionier, Gründungsmitglied von Tangerine Dream und auch ansonsten sehr um das Segment verdient, das man dem Missfallen der Protagonisten zum Trotz Krautrock nennt. "Er war einer der Pioniere der elektronischen Musik", schreibt Christoph Wagner in einem ersten Nachruf in der NZZ. "Mit anfangs äußerst primitivem Elektronik-Equipment gelangen ihm erstaunliche Klanglandschaften. Sein Debütalbum 'Irrlicht' von 1972 war ein Werk von funkelnder Fantasie." Einen weiteren Nachruf schreibt Andreas Dewald im Dlf Kultur. Natürlich muss man auf dieses wunderbare Foto von ihm hinweisen, das vielleicht wie kein zweites die Siebziger zusammenfasst. Seine Synthesizer-Exzesse sehr gut nachvollziehen kann man in diesem tollen Zeitdokument vom WDR. Inspiriert von seiner Zusammenarbeit mit Hans Zimmer für den Soundtrack zu "Dune" im vergangenen Jahr (bereits vor einigen Jahrzehnten hatte Schulze eine Hommage an Frank Herberts Science-Fiction-Saga veröffentlicht), wird im Juni ein nunmehr posthumes großes Album namens "Deus Arrakis" erscheinen. Einen Vorab-Eindruck gibt es bereits hier:



Besprochen werden eine Beethoven-Aufnahme von Jordi Savall (SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck bezeugt einen "Furor, der einem den Atem nimmt"), Eva Ries' Buch "Wu-Tang is forever" (taz), Taj Mahals und Ry Cooders Album "Get On Board" (NZZ), ein neues Album der Cowboy Junkies (FR) und Jillian Banks' "Serpentina" (taz).

Archiv: Musik

Bühne

Besprochen werden Carl Nielsens Oper "Maskarade" an der Oper Leipzig (historisch nicht uninteressant, findet Dieter David Scholz in der nmz, doch leider gibt es "viel musikalischen Leerlauf und wenig Dramatik"), das Tagebuch des Dramatikers Wolfram Lotz (nachtkritik), Andreas Homokis "Rheingold"-Inszenierung in Zürich (NZZ), Roger Vontobels Neuinszenierung des "Fliegenden Holländers" am Nationaltheater Mannheim (eine "plakative, dröge und ermüdende Performance", klagt in der nmz Dieter David Scholz), Kornél Mundruczós Inszenierung des "Tannhäusers" an der Staatsoper Hamburg (mit der Ute Schalz-Laurenze von der nmz wenig anfangen konnte, dafür waren die Sänger toll: allen voran Klaus Florian Vogt. "Seine glockenreine, etwas metallene und geradezu filigrane Stimme kann er fabelhaft inhaltlich einsetzen. ... Tanja Ariane Baumgärtner als kämpferische Aussteigerin Venus: auch gesanglich eine Augenweide") und Milo Raus Inszenierung des "Wilhelm Tell" frei nach Schiller am Schauspielhaus Zürich (Zeit).
Archiv: Bühne

Literatur

Das "Literarische Quartett" vom ZDF holt sich drei jugendliche Gäste auf die Bühne und Paul Jandl staunt in der NZZ, wie frank und frei von der Leber weg die jungen Leute sprechen - und dabei auch schon mal einen Camus in die Tonne hauen. "Das 'Literarische Quartett', dafür berühmt, oft auch literaturkritischen Quark zu liefern, wird auf einmal bissfest. Drei junge Menschen entzaubern ein Ritual, eben weil sie von diesem Ritual nichts wissen. Sie denken und reden einfach drauflos, und man staunt, dass man am Ende nicht nur über vier Bücher etwas erfahren hat, sondern auch einiges über die Generation Z."

Alain Claude Sulzer erinnert in der NZZ an den 1897 verstorbenen Schriftsteller Alphonse Daudet, der vor allem in den letzten Lebensjahren seinen langen Leidensweg mit der Syphilis dokumentierte: "Dass er bei der Niederschrift stets seinen kühlen Kopf bewahrte, gehört zu den Wundern dieser Eintragungen aus dem 'Land der Schmerzen', aus dem es kein Entkommen gab."

Außerdem: In der Welt hat Gisela Trahms viele Freude an der neuen Lyrikzeitschrift dreizehn+13 Gedichte, die im ansprechenden Layout einzelne Gedicht vorstellt und die Hintergründe erläutert: So muss "heute eine Poesiefördermaßnahme beschaffen sein".

Besprochen werden unter anderem Ocean Vuongs Lyrikband "Zeit ist eine Mutter" (SZ), Selene Marianis "Ellis" (FR), Marie Rutkoskis Thriller "Real Easy" (TA) und Peter Sloterdijks Essay "Wer noch kein Grau gedacht hat" (SZ, die Zeit hat mit Sloterdijk ein Interview zu dem Buch geführt, mehr dazu in 9punkt).
Archiv: Literatur

Kunst

Hanna Nagel, Die Ehe, 1930, Privatsammlung


Eine längst fällige Wiederentdeckung, meint in der FAZ Stefan Trinks über die zwischen 1928 bis 1945 entstandenen Arbeiten der Künstlerin Hanna Nagel, (hier der Katalog zur Ausstellung) die derzeit in der Kunsthalle Mannheim zu sehen sind: "Nagel wird mit ihrer an Rembrandt und Goya geschulten Hell-Dunkel-Kunst Ende der Zwanziger-, Anfang der Dreißigerjahre die bildliche Verfechterin der allseits postulierten 'Neuen Frau', die sich dennoch mit den alten Problemen herumzuschlagen hat: Vereinbarkeit von Beruf und Kind, bei einer Künstlerin nochmals erschwert, Unsicherheiten der Familienplanung (ihre Serie zu Paragraf 218 war der meistbesprochene Beitrag in der epochalen Ausstellung 'Frauen in Not' von 1931) sowie die ebenfalls steinzeitalten Missverständnisse zwischen den Geschlechtern, die auch beim 'Neuen Mann' und der 'Neuen Frau' der Goldenen Zwanziger dieselben blieben." 

Jeva Griskjane unterhält sich für monopol mit dem ukrainischen Künstler Pawlo Makow über dessen Installation "Fountain of Exhaustion" auf der Venedig-Biennale und Kunst in Zeiten des Krieges. Makow erzählt von den Hoffnungen, die die neunziger und 00er Jahre in Europa prägten. Doch schon 2008, "als ich wegen der Ausstellungen oft nach Europa kam, spürte ich wieder eine Art Rückfall in den erschöpften Zustand, in dem sich die gesamte westliche Welt befand, so wie es in Osteuropa in den 90er-Jahren war. Denn Europa hat sich verändert, besonders in den letzten 20 Jahren. Es gab wieder eine Art von Schwäche, es gab einen Mangel an Fähigkeit, die Hauptprinzipien der Demokratie zu schützen. Man konnte Europas Abhängigkeit von billigen Energiequellen erkennen und das egoistische Verhalten, den Alltagskomfort Europas nicht gegen die wichtigsten humanistischen Prinzipien eintauschen zu wollen. In gewisser Weise schien mir Europa in Bezug auf die globalen Probleme zu entspannt. Es konnte die Bedrohung, die von Russland ausging, nicht wirklich erkennen. ... Deshalb spürte ich, dass die Bedrohung zurückkam, aber nicht auf lokaler, sondern auf globaler Ebene."

Weiteres: Der vom Humboldt Forum geplanten Ausstellung zum abgerissenen Palast der Republik steht Uwe Rada in der taz äußerst skeptisch gegenüber: "Ist das jetzt notwendige Erinnerungsarbeit für ein junges Publikum, das den Palast nicht mehr kannte? Oder ist das einfach nur eine dreiste Provokation der Sieger?" Tom Mustroph annonciert in der taz das Gallery Weekend in Berlin, das am Freitag beginnt. Im Tagesspiegel empfiehlt Jens Hinrichsen schon mal die Hinterglasmalerei von Philipp Fürhofer in der Galerie Judin.

Besprochen werden die Ausstellung "David Hockney - Landschaften im Dialog" in der Gemäldegalerie Berlin (taz), Herlinde Koelbls Angela-Merkel-Serie im DHM (Tsp) und die Ausstellung "Fictions of Emancipation" mit nur einer Büste von Jean Baptiste Carpeaux im Metropolitan Museum New York (SZ).
Archiv: Kunst