Efeu - Die Kulturrundschau

Subversives, Eigensinniges und Abgründiges

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30.04.2022. "Ab jetzt sind wir diejenigen, die zu schwach waren, das Geschehene zu verhindern", stellt die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk im Standard fest. Die Zeit überlässt Rammstein achselzuckend der Musealisierung. Ohne "toxisches Sponsoring" würden nicht nur die Salzburger Festspiele bald ziemlich arm dastehen, bemerkt die Welt. FAZ und NZZ lassen sich von Brian Watkins' Sci-Fi-Western "Outer Range" fasziniert verunsichern. Und SZ und Tagesspiegel flanieren beim Berliner Gallery Weekend vorbei an Dürer, Drogenstrich und senegalesischer Kunst.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.04.2022 finden Sie hier

Literatur

"Ab jetzt sind wir diejenigen, die zu schwach waren, das Geschehene zu verhindern", muss die in Wien lebende, ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk in einem kleinen Essay im Standard feststellen, nachdem sie sich mit den immer brutaleren Kriegsfotografien aus ihrer Heimat konfrontiert hat. "Manches darf einfach nicht wahr sein, schon gar nicht dieser Krieg. Ich würde gerne in einer solchen Welt aufwachen, wo die Straße in Butscha, die mit Leichen übersät ist, nicht existiert. ... Bilder stehen zwischen uns und der Realität. Es kommt also auf uns an, was wir als Realität wahrnehmen, die stellvertretend durch diese Bilder über uns kommt. Vielleicht sollen wir ihnen tatsächlich nicht glauben? Glauben wir ihnen, müssen wir zugeben, dass sich die Welt unwiderruflich verändert hat. ... Inwiefern mich die Bilder des fernen Krieges verändern, weiß ich noch nicht."

Weitere Artikel: In der "10 nach 8"-Reihe auf ZeitOnline kommt die Schriftstellerin Annett Gröschner auf ihren heute vor 20 Jahren spielenden Berlin-Roman "Walpurgnisnacht" zurück und staunt wie weit sich die Welt von damals weitergedreht hat und wie wenig von dem Berlin, das ihre Figuren bewohnten, übrig geblieben ist. Sophia Zessnik wirft einen Blick in die spanische Gegenwartsliteratur, die im Herbst bei der Frankfurter Buchmesse einen Gastauftritt haben wird. Die NZZ liefert weiter Notizen von Sergei Gerasimow aus Charkiw. Andreas Bernard (SZ) und Peter Stephan Jungk (FAZ) erinnern an Novalis, der vor 250. Jahren geboren wurde. Dlf Kultur widmet sich mit einer "Langen Nacht" von Burkhard Reinartz dem Romantiker. Christian Endres (Tsp) und Lukas Gedziorowski (Batman-Projekt) schreiben Nachrufe auf den Comiczeichner Neal Adams, der einst Batman und Superman modernisierte.

Besprochen werden unter anderem Lola Randls "Angsttier" (taz), Ulinka Rublacks "Die Geburt der Mode. Eine Kulturgeschichte der Renaissance" (NZZ) und zwei Bände mit Lyrik und Prosa von Allen Ginsberg (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

"Outer Range" mit Josh Brolin (Amazon)

Mit einem Mal steht der große Josh Brolin vor einem Loch im Boden und weiß weder ein, noch aus - das ist die Prämisse der neuen Amazon-Serie "Outer Range". Brian Watkins kreuzt darin Elemente aus Science-Fiction und Western. "Die Dominanz des Menschen über die Natur ist hier eine lachhafte Illusion", schreibt Nina Rehfeld in der FAZ.  Und die Serie hat "viel zu bieten - das Spiel von Josh Brolin und Will Patton etwa, die als zwei höchst unterschiedliche Figuren miteinander kontrastieren. ... Vor allem aber schafft die Serie eine faszinierende Atmosphäre diffuser Verunsicherung, in der weder Demut noch Arroganz das Chaos zu besänftigen vermögen, und auch der liebe Gott sich offenbar einen Scheiß um den Kampf seiner Kreaturen schert." Über sämig-üppige Kost freut sich Jana Janika Bach in der NZZ: "Vor atemberaubenden Panoramen und zu Tracks von Dolly Parton oder Leonard Cohen, die ihre volle Wucht im Arrangement mit den unheildrohenden Klängen des Filmkomponisten-Duos Danny Bensi und Saunder Jurriaans entfalten, gelingt ein kunstvoller Genre-Mix." Wer übrigens schon immer mal erleben wollte, wie sich Josh Brolin mit den schärfsten Saucen der Welt quält, kommt hier eine halbe Stunde lang auf seine Kosten.



In der Presse empfiehlt Lukas Foerster dem Wiener Publikum die Retrospektive Bernhard Sallmann im Filmarchiv Austria: "Wieder und wieder begegnen sich bei Sallmann aufmerksame Blicke auf die gegenwärtige Welt und Texte, die aus einer anderen Zeit zu uns sprechen. Das Resultat ist dokumentarisches Kino von bestechender Klarheit, das strenge gestalterische Schönheit mit intellektueller Abenteuerlust verbindet."

Besprochen werden Gaspar Noés "Vortex" (online nachgereicht von der FAZ, unsere Kritik), Andreas Dresens "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" ("ein Meisterwerk", jubelt Tobias Kniebe in der SZ), Luke Hollands Dokumentarfilm "Final Account" über ehemalige SS-Mitglieder (Jungle World), Simon Curtis' "Downtown Abbey 2" (ZeitOnline), die Apple-Serie "Shining Girls" (Berliner Zeitung) und Catherine Corsinis Krankenhausfilm "In den besten Händen" (Standard).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus Leopoldstadt. Foto: Moritz Schell.

Ermüdet, trotz solider, aber wenig subtiler Inszenierung kommt Cathrin Kahlweit in der SZ aus Tom Stoppards Geschichtsdrama "Leopoldstadt", das Janusz Kica am Theater in der Josefstadt in Wien inszeniert hat: "Stoppards Tour d'Horizon ist mit ihren Stereotypen keine Grundlage für einen nachträglichen oder nachdenklichen Diskurs. Sie führt von der Kaiserzeit, dem Antisemitismus eines Karl Lueger und den Debatten über Herzls Judenstaat über den Ersten Weltkrieg, das rote Wien, den Bürgerkrieg 1934 und die Keller-Nazis bis zum 'Anschluss' und zur Reichspogromnacht - alles verhandelt, erzählt, beschrieben und diskutiert in den Salons der Famile Merz. Der Lärm marschierender Nazis - er sickert nur durch Fenster und Türen wie eine irritierend irreale Bedrohung. Das Ende ist bekannt." Zwar habe Kica "die Figuren allzu pauschal über die Bühne verteilt", schreibt Ronald Pohl im Standard, insgesamt lobt er aber neben dem Stück auch das Josefstadttheater als "Moralprüfstelle": "Man will eine solche Kultur des Eingedenkens nicht mehr missen."

Der Schriftsteller Lukas Bärfuss und die Regisseurin Yana Ross haben den Salzburger Festspielen "toxisches Sponsoring" vorgeworfen, der Vorwurf richtet sich gegen das mitfinanzierende Bergbauunternehmen Solway, das für Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen in einer guatemalekischen Nickelmine verantwortlich sein soll. Rühmlich findet Manuel Brug in der Welt den Ruf nach Transparenz, aber abgesehen davon, dass Künstler wie Bärfuss und Ross "gerne gut" von Sponsorengeldern leben, sei Sponsoring selten ganz "sauber": "Legte man strengste moralische Maßstäbe an, so könnte man den Festspielen - allerdings auch fest jedem anderen großen Festival - im Rückblick vieles vorwerfen. Früher war Nestlé Hauptsponsor, einer der umwelt- wie gesellschaftspolitisch umstrittensten Konzerne der Welt, immer noch sind es Audi (seit 1995) und Siemens (1999), beide auch keine klassischen Gutmenschenunternehmen. Siemens ist im verrufenen Nuklearsektor tätig, Audi stellt nach neogrünen Maßstäben Umweltverschmutzer her. Der 'Kristallsponsor' Swarovski, der jedes Jahr mit viel Wirbel die Glitzerrobe für die Putin-Nachtigall Anna Netrebko vorstellte, entließ kürzlich ein Drittel seiner Arbeitnehmer per Videokonferenz. Auch der Logistikunternehmer Klaus-Michael Kühne ist über seine Stiftung Hauptsponsor in Salzburg. Als Konzernerbe des Logistikunternehmens Kühne+Nagel wurde ihm immer wieder vorgehalten, zuletzt 2020 vom Historiker Frank Bajohr, die NS-Vergangenheit des Unternehmens nicht öffentlich aufzuarbeiten."

Besprochen werden Anna Bergmanns Inszenierung von Noah Haidles "Birthday Candles" am Deutschen Theater Berlin (nachtkritik) und Alexander Zeldins "Beyond Caring" an der Berliner Schaubühne, das Christine Wahl im Tagesspiegel mitunter zu überdramatisiert erscheint.
Archiv: Bühne

Kunst

Bild: El Hadji Sy. Untitled (2021). Acrylic on wood. Two parts. Galerie Barbara Thumm.

Ein klares Highlight des Berliner Gallery Weekends ist für Nicola Kuhn die Ausstellung "Silhouettes Critiques" des senegalesischen Künstlers El Hadj Sy, genannt Elsy, in der Galerie Barbara Thumm. Elsy, laut Kuhn der "Vater der senegalesischen Moderne", lässt seine Bilder zu Türen und Aufstellern werden, oder bemalt sie auch mal mit den Füßen: "Die Fußabdrücke auf dem Gemälde 'C14 C29 C19' repräsentieren für ihn die drei großen Katastrophen der vergangenen Jahre, die letzte ist Covid. Gemalt sind sie mit Acryl und Teer auf Blech, ein typisches Material für Elsy, der sich nimmt, was er als Unterlage kriegt: Jutesäcke, in denen Reis transportiert wurde, Metzgerpapier oder Backbleche, die er in seinem gerade bezogenen Atelier vorfand, einer ehemaligen Bäckerei. Daraus sind für Berlin drei freistehende Bilder geworden, die auf Krähenfüßen stehen: lang und schlank wie jene Bleche, die tief in den Backofen gehen. Das eine zeigt den Finger eines Pianisten, das andere einen Akt, dessen Po sich in eine herausragende Ecke des Blechs fügt, das dritte ein Pferd."

Für die SZ nutzt Peter Richter das Gallery Weekend um quer durch Berlin zu ziehen, bei Goya, Dürer und Nauman ebenso verweilend wie beim Drogenstrich auf der Kurfürstenstraße, in Charlottenburger Altbauwohnungen oder in der Galerie Chertlüdde, die in die leerstehenden Räume von "Deko Behrendt" gezogen ist: "In dem überfüllten Labyrinth war ganzjährig Fasching und Halloween gleichzeitig, man fand dort selbst Gummimasken mit den Antlitz von Kim Jong-un. Dann nutzten die Betreiber die Pandemie für die Flucht in den verdienten Ruhestand, und jetzt zeigt die Galerie Chertlüdde in den ausgekehrten Räumen zumindest Reminiszenzen an die Vormieter: Petrit Halilaj und Alvaro Urbano präsentieren Dekollagen aus dem vorgefundenen Dekomaterial, und Annette Frick zeigt Fotos aus der Schöneberger Transen-Szene, die sich in den Neunzigern auch mit Vorliebe bei Deko-Behrendt ausstaffierte."

Außerdem: Im Tagesspiegel-Interview mit Felix Lenk spricht der Berliner Koch und Galerist Ulrich Krauss über künstlerische Menüs und die Folgen von Corona. Ebenfalls im Tagesspiegel berichtet Michaela Nolte von den Initiativen und Spendenaufrufen, die Künstler und Galeristinnen während des Berliner Gallery-Weekends für die Ukraine veranstalten. In der taz begrüßt Sophie Jung die Goldenen Löwen, die vergangene Woche auf der Biennale in Venedig an die schwarzen feministischen Künstlerinnen Sonia Boyce und Simone Leigh verliehen wurden.

Besprochen werden die Ausstellung "True Pictures" zur nordamerikanischen Fotografie der vergangenen vierzig Jahre im Salzburger Museum der Moderne (Standard) und die Ausstellung "Klaus Stuttmann - Statements" im Caricatura-Museum Frankfurt am Main (FAZ).
Archiv: Kunst

Architektur

Zwischen der Potsdamer Garnisonskirche, die seit 2017 wieder aufgebaut wird und dem Rechenzentrum soll ein weiteres Gebäude entstehen, meldet Julia Hubernagel in der taz: "Der Architekt Philipp Oswalt, der sich jahrelang gegen den Bau des Kirchturms eingesetzt hat, hält das für eine gute Idee. 'Der Kirchturm hat keinen Nutzwert, dieses bauliche Symbol braucht daher einen Kommentar', meint er und fürchtet: Bliebe die Fläche frei, so würde die Diskussion darüber, ob nicht auch noch das Kirchenschiff wiederaufgebaut werden solle, niemals enden."

Für die NZZ flaniert Philipp Meier durch Dresden, stets auf der Hut, sich von den Illusionen der Stadt täuschen zu lassen: "Frauenkirche, Zwinger, Residenzschloss und Semperoper bilden das Ensemble einer Residenzstadt längst vergangener Zeiten. Anachronistisch wirkt der Hang der einstigen Kurfürsten zu maximaler Prachtentfaltung. August der Starke vollendete die Veredelung Dresdens zum vielgerühmten Elbflorenz. Von seiner Prunksucht zehrt die Stadt heute noch. Der Wille zur schillernden Illusion, diesem barocken Laster, ist geblieben."
Archiv: Architektur

Musik

ZeitOnline widmet sich "Zeit", dem neuen Album von Rammstein. Es ist das Album zur aktuellen geopolitischen Großwetterlage, fällt dem Metal-Kunsthistoriker Jörg Scheller auf: "Während sich gewaltige Ressourcen in Richtung Ramstein verschieben, bleiben Rammstein ganz bei Rammstein". Oder kurz: Alles beim Alten: "In den Strophen wird gesprrrochen, in den Refrains wird gesungen. In den Strophen wird's leiser, im Refrain wird's lauter. In den Strophen werden die Gitarrensaiten abgedämpft, in den Refrains werden sie offen angeschlagen. Verzerrer an, Verzerrer aus. Laut, leise, laut, leise. Und in den Texten? Da trifft seit dem Debüt Herzeleid von 1995 entweder Schmuddelkram auf Spätromantik oder Spätromantik auf Schmuddelkram. ... Wer sich für Subversives, Eigensinniges und Abgründiges, zumal von Künstlern aus Ostdeutschland, interessiert, tut gut daran, Rammstein der Musealisierung zu überlassen." Julian Weber kann in der taz nur stöhnen: "Es regiert Kitsch". Und überhaupt: "Bei Rammsteins unterm Sofa herrscht Nacht."

Im Standard geht derweil Christian Schachinger auf die Knie vor "Drone Mass", einer Arbeit des 2018 verstorbenen Komponisten Jóhann Jóhannsson, die nun als Aufnahme bei der Deutschen Grammophon vorliegt. "Ein Hauptwerk", schreibt Schachinger, "in dem Gott und die Natur pantheistisch zu einer untrennbaren Einheit fusionieren. ... Die Musik beschwört die sakrale Anmut eines Arvo Pärt. Man verbeugt sich aber auch vor Minimal-Hausgöttern wie Philip Glass oder den pulsierenden Kompositionen Steve Reichs. Als jüngere Errungenschaften kommen Ambient, Dark Ambient und Geisterbahnbeklommenheit aus dem Laptop zum Einsatz. Keine Schönheit ohne Gefahr. Und bitte keine Reinheitsgebote." Ein Ausschnitt aus der Premiere in New York:



Weitere Artikel: Im FR-Gespräch blickt Sven Väth auf sein Leben und Werk zurück sowie auf sein aktuelles Album "Catharsis". Der Standard bringt Robert Newalds Fotografien des kürzlich verstorbenen Austropoppers Willi Resetarits. Christian Thomas verneigt sich in der FR vor Franz Schubert, der vor 225 Jahren geboren wurde. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Philipp Krohn über die erste, in den Neunzigern erschienene Single der belgischen Indieband dEus.

Besprochen werden das Konzert des Sinfonieorchesters Kiew in Wiesbaden (FR), ein Haydn-Abend mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester in Hamburg (Welt) und Toro Y Mois Album "Mahal" (BLZ).
Archiv: Musik