Efeu - Die Kulturrundschau

Es herrscht Triebhaftigkeit

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03.05.2022. Tagesspiegel und FR jauchzen vor Freude darüber, dass Franz Schrekers Oper "Der Schatzgräber" nach hundert Jahren wieder auf eine Berliner Bühne zurückkehrt. Und selbst die Berliner Zeitung findet es nicht mehr provinziell, vergessene Stücke auszugraben. Mit Beklommenheit sieht sich die taz in Dresden Theater aus Belarus an. Die NZZ ahnt auf der Biennale, dass der digitale Surrealismus unsere Zukunft sein wird. Die SZ bekommt mit der Nawalny-Film auf dem Müncher Dok.Fest Einblick in die Informationskriege.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.05.2022 finden Sie hier

Bühne

Franz Schrekers "Schatzjäger". Foto: Monika Rittershaus / Deutsche Oper Berlin

Nach hundert Jahren wurde Franz Schrekers Oper "Der Schatzgräber" erstmals wieder in Berlin auf die Bühne gebracht, an der Deutschen Oper. Im Tagesspiegel feiert eine begeisterte Christiane Peitz die Premiere, auch wenn Regisseur Christopher Loy vielleicht noch mehr aus dem Drama um Kunst und Leben hätte machen können: "Unerbittlich schlägt das Orchester zu. Auf die letzten zarten Pianissimo-Gespinste folgt eine mörderische Tutti-Attacke. Der Friede bleibt trügerisch, über den Tod hinaus. Was für eine Oper. Rauschhaft züngelnd, erotisch und eruptiv, mit Sehnsuchtsgesängen, einer ruhelosen Harmonik, die sich nicht auflösen will, mit schillernden, den süßen Schmerz auskostenden Dissonanzen. Richard Wagner und Claude Debussy, diese Erz-Kontrahenten, stehen Pate, die unendliche rezitativische Melodie und die impressionistische Klangsinnlichkeit." Auch in der FR kann Judith von Sternburg die Rückkehr des von den Nazis verfemten Schreker nur wärmstens begrüßen.

In der Berliner Zeitung gibt Peter Uehling zu, dass er es lange provinziell fand, Stücke aufs Programm zu setzen, die nicht zum erlesenen Opernrepertoire gehörten. Jetzt ist er sich nicht mehr so sicher: "Tatsächlich hat die unreduzierte Üppigkeit von Schrekers Musiktheater gegenüber dem langweiligen Klassizismus von Hofmannsthal und Strauss oder dem drögen Konstruktivismus eines Arnold Schönberg heute etwas Frisches, Subversives. Hier muss nichts bewiesen und kein Staat getragen werden, sei es der einer heilen Theaterwelt oder der Avantgarde. Es herrscht Triebhaftigkeit, die fast kritiklos wirkende Inklusion aller trivialen und verstiegenen Einfälle, die ein kaum zu lichtendes Dickicht an Bedeutungen oder auch nur Zeichen erzeugt." Weitere Besprechungen in taz und FAZ.

Michael Bartsch berichtet in der taz vom Festival freier Künste "Nebenan" in Dresden, das fünf Tage lang Theater aus Belarus zeigte, die vor 2020 entstanden waren, als eine gewisse Toleranz im Land des Diktators Lukaschenko eine Kulturszene ermöglichte: "Schon der Auftakt, 'Discover Love', des 2005 in Minsk gegründeten und inzwischen verbotenen Belarus Free Theatre relativierte allerdings das Bild einer sich nach 1994 begrenzt frei entwickelnden belarussischen Gesellschaft. Denn schon 2000/2001 erschütterte eine politische Mordserie das Land. Der zunächst eine Dreiviertelstunde lang rührend erzählten Liebes- und Familiengeschichte liegt ein authentischer Fall zugrunde. Jäh kippt die Erzählung, als der Geliebte und Vater von der Banja weg entführt und grausam hingerichtet wird. Das mittlerweile in Großbritannien arbeitende Theater steht insofern exemplarisch für die in Hellerau zu sehenden Inszenierungen, als es mit wenigen Personen und minimaler Ausstattung auskommt."

Besprochen werden außerdem Ben Frosts Opers "Der Mordfall Halit Yozgat" in Hannover (taz), Jörg Widmanns Oper "Babylon" in Wiesbaden (FR) und Christopher Rüpings Bühnenversion von Mieko Kawakamis Roman "Brüste und Eier" am Hamburger Thalia Theater (FAZ) .
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Kunst

Von der Biennale in Venedig aus ruft Philipp Meier in der NZZ dazu auf, die Kunst mit ihrem vorbewussten Sensorium als Seismograf für den Wandel der Zeit ernstzunehmen. Dem Menschen werden Grenzen aufgezeigt, bemerkt der Kritiker, während sich andere Gewissheiten auflösen: "Kunst von heute mutet oft wie ein Surrealismus des digitalen Zeitalters an. Hybride und Cyborgs als Erscheinungen der Spekulationen über Fortpflanzungstechnik, Transplantationsmedizin, Robotik und künstliche Intelligenz bevölkern die Phantasien und Visionen der zeitgenössischen Kunstproduktion. Darin spiegelt sich die Euphorie über Metamorphosen ebenso wie die Angst vor unheimlichen Mutationen. Und während sich die einen Kunstschaffenden ergreifen lassen vom Optimismus, den die Möglichkeiten der endlosen Optimierung und Perfektionierung von Leben und Körpern befördern, verfallen die anderen der dystopischen Vorstellung eines völligen Verlusts der Kontrolle an Maschinen, die die Macht über die Welt übernehmen."

Besprochen werden die große Lygia-Pape-Retrospektive in der Kunstsammlung NRW (FAZ), die Gauguin-Ausstellung "Why Are You Angry?" in der Alten Nationalgalerie in Berlin (SZ) und die bahnbrechende Ausstellung über Künstlerateliers "A Century of The Artist's Studio" in der Whitechapel Gallery in London (taz).
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Film

Ein Porträt als Politthriller: "Nawalny" von Daniel Roher

Morgen eröffnet Daniel Rohers Dokumentarfilm "Nawalny" das Münchner Dok.Fest, am Donnerstag startet der Film regulär in den Kinos (mehr dazu bereits hier). Dieses Porträt des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny "ist ein Zeugnis der Brutalität und der gelegentlich haarsträubenden Dummheit des russischen Geheimdienstes und seiner Führung - und spannend wie ein Politthriller", schreibt Martina Knoben in der SZ. Neues erfahre man zwar nicht unbedingt, dennoch sei der Film "ein Glücksfall. Weil er die Strategien politischer Showmen zeigt, wie auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij ursprünglich einer war, weil er einen Einblick gibt in den Informationskrieg, der auf Youtube und Twitter, Facebook und Tiktok, vom russischen Staatsfernsehen und Geheimdiensten geführt wird."

Außerdem: Im Welt-Interview philosophiert der zwischen Arthouse und Blockbuster locker pendelde Schauspieler Benedict Cumberbatch über Virtual Reality und warum große Schauspielkunst auch dann entstehen kann, wenn man im Motion-Capturing-Suit vor einer grünen Wand oder in einer Turnhalle spielt. Im Tagesanzeiger porträtiert Pascal Blum die belgische Kinder-Schauspielerin Maya Vanderbeque.
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Literatur

Patrick Bahners, den der von namhaften Intellektuellen unterzeichnete Brief an Kanzler Scholz an eine Szene aus Penelope Fitzgeralds Roman "Human Voices" denken lässt, kann im FAZ-Kommentar für Alice Schwarzer und ihr Co-Unterzeichner nur hoffen, dass diese mit Freundlichkeit bedacht werden, "wenn diese Episode aus dem gegenwärtigen Krieg Stoff für den großen Zeitroman nach dem Krieg geworden sein wird, den dann jemand anderer wird schreiben müssen als Martin Walser, Edgar Selge und Juli Zeh."

Charles Lewinsky ist der Schweizer Fließband-Schreiber, der aus der TV-Unterhaltung kam. Dass er vor allem Handwerk vorlegt, dazu steht er im NZZ-Interview sehr selbstbewusst. Von den Verlautbarungsgesten mancher seiner Kollegen hält er wenig: Maxim Biller etwa, der gerade seinen Ausstieg aus der Schriftstellerei verkündet hat, werde wohl "in einem halben Jahr wieder schreiben. Das kann ich nicht weiter ernst nehmen. Eine solche Aussage hat auch sehr viel damit zu tun, dass man sich als Schriftsteller so wichtig nimmt. Als ob es irgendjemanden auf der Welt interessiert oder irgendetwas verändert, wenn Biller sagt, er schreibe jetzt nicht mehr. Das ist Größenwahn. Das ist Einbildung. Wir sind nicht so wichtig."

Weitere Artikel: Oliver vom Hove (Standard) und Hans Maier (Welt) erinnern an Novalis, der gestern vor 250 Jahren geboren wurde. Besprochen werden Gianfranco Calligarichs "Der letzte Sommer in der Stadt" (Dlf Kultur), Peter Sloterdijks "Wer noch kein Grau gedacht hat" (Tsp), Katharina Adlers "Iglhaut" (Zeit), Walter Schüblers "Bibiana Amon. Eine Spurensuche" (Zeit), Denis Pfabes "Simonelli" (SZ) und Khaled Khalifas "Keiner betete an ihren Gräbern" (FAZ).
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Musik

Lawrence Foster, Chefdirigent des Nationalen Symphonieorchesters des Polnischen Rundfunks Kattowitz, äußert im FAZ-Interview zwar viel Verständnis für die emotionale Lage von ukrainischen Musikern, die sich derzeit erbeten, keine russische Musik spielen zu müssen. Dennoch steht er dem zumindest "nuanciert" ablehnend gegenüber: "Ich sehe hier einen Riesenkonflikt zwischen Logik, künstlerischer Unabhängigkeit, künstlerischer Integrität versus extremer emotionaler Reaktion auf die Geschehnisse, eine Reaktion, die sich jeder Erklärung und Logik entzieht, aber durch den Schrecken der Ereignisse verständlich ist. ... Ich weiß aber nicht, wie ich mich hier zwischen Logik und emotionaler Betroffenheit entscheiden soll. Das kann nicht lange so weitergehen. Dann wird auch die westliche Kultur zerstört. Denn diese Musik ist Teil der Weltkultur. Ich betrachte sie nicht als russisch. Ich betrachte sie als Kunst. Angesichts der sechs Millionen ermordeter Juden gab es in keiner jüdischen Organisation jemals einen Vorstoß, die Musik von Schubert, Schumann oder Brahms - ich rede nicht von Wagner, das ist ein besonderer Fall - nicht mehr zu spielen."

Außerdem: Im ZeitOnline-Gespräch spricht Rapper Pusha T über das Verticken von Koks sowie über die Zusammenarbeit mit Pharrell Williams und Kanye West. Oliver Hochkeppel berichtet in der SZ von der Verleihung des vor wenigen Jahren ins Leben gerufenen Deutschen Jazzpreises in Bremen, der sich nun nach behäbigen Anläufen in den letzten Jahren offenbar auf dem richtigen Weg befindet: "Die Höhepunkte des Abends waren wirklich welche." Andrian Kreye bekundet in der SZ-Jazzkolumne, seinen Frieden mit dem (eben wiederveröffentlichten) Album "Come Away with Me" von Nora Jones gemacht zu haben, das er bei der Erstveröffentlichung vor 20 Jahren zwar "grauenhaft" fand, aber immerhin das Label Blue Note Records vor dem Ruin bewahrt hatte. In der Zeit streiten sich Oskar Piegsa (pro) und Jens Balzer (contra), ob die Kinderrap-Combo Deine Freunde denn nun gut ist oder nicht.

Besprochen werden der Auftritt von Shabazz Palaces beim Donaufestival (Presse), eine 37 CDs umfassende Box mit von Hans Knappertsbusch dirigierten Aufnahmen (Presse), ein Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter Vladimir Jurowski (Tsp), ein Konzert des Cellisten Steven Isserlis und der Kammerakademie Potsdam (Tsp), die TNT-Serie "Almost Fly" über die Geschichte des Hiphop in Deutschland (FAZ), ein Auftritt des Gitarristen Jakob Bro in Berlin (Tsp) und neue Popalben, darunter Belle & Sebastians "A Bit of Previous" (Standard).

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