Efeu - Die Kulturrundschau

Die Liebe wird für alle reichen

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06.05.2022. Der Tagesspiegel lernt in einer Münchner Ausstellung, wie die "Stillen Rebellen" Polens kulturelle Identität prägten. Die FAZ fühlt in der Ausstellung "Beirut and the Golden Sixties" den politischen Pulsschlag des Libanon. Die SZ findet Haltung und Hoffnung in William Kentridges Oper "Sibyl", die die Ruhrfestspiele eröffnete. Die NZZ erzählt, wie in der Haas'schen Schriftgiesserei AG die Schrift des Fortschritts erfunden wurde. Die taz lauscht den sonischen Autobiografien der Klangkünstlerin Ain Bailey.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.05.2022 finden Sie hier

Kunst

Jan Matejko, Stańczyk, 1862, Nationalmuseum in Warschau


Im Tagesspiegel empfiehlt Katrin Hillgruber wärmstens die "Stillen Rebellen" in der Münchner Hypo-Kunsthalle: eine Schau mit polnischen Künstlern, die Polens kulturelle Identität prägten. "130 der bedeutendsten Gemälde Polens sind in dieser Dichte erstmals in Deutschland zu sehen, viele wurden noch nie im Ausland gezeigt. Darunter befindet sich der zum Briefmarken-Motiv geadelte 'Polnische Hamlet' des Matejko-Schülers Jacek Malczewski von 1903: Es zeigt den Regierungschef Kongresspolens Wielopolski Blütenblätter zupfend zwischen einer gefesselten alten und einer befreiten jungen Polonia. Mit 'Stille Rebellen' dokumentiert die Kunsthalle einen blinden Fleck in der westlichen Wahrnehmung - von einem 'peinlichen Manko' spricht Kuratorin Nerina Santorius. ... Durch den russischen Überfall auf die Ukraine haben die 'Stillen Rebellen' eine traurige Aktualität erlangt. Denn auch dem besetzten Polen sprach Russland wie jetzt der Ukraine eine eigene kulturelle Identität ab; ab 1880 war in Verwaltungsdokumenten nur vom 'Weichselland' die Rede."

Khalil Zgaib, Untitled, 1958. Courtesy: Saleh Barkat Collection / Agial Art Gallery


Nicht weniger interessant findet FAZ-Kritiker Georg Imdahl die Ausstellung "Beirut and the Golden Sixties" im Berliner Gropius-Bau, die die Vorgeschichte der libanesischen Kunst, die heute in allen Großausstellungen zu sehen ist, vorstellt: "In der Ausstellung im Gropiusbau ist durchgehend der Wille unterschiedlichster Künstler spürbar, die Spannungen der Zeit zu erfassen. ... So wähnt man sich in der Schau mit ihren zweihundert Gemälden, Skulpturen, Grafiken und zahlreichen Archivalien vom ersten Werk an am gesellschaftlichen und politischen Pulsschlag der arabischen Metropole, dies selbst bei einer naiven Malerei wie einer Hafenszene des Autodidakten Khalil Zgaib aus dem Jahr 1958. Der gelernte Friseur schildert die Invasion der amerikanischen Marines an der Südküste von Khaldeh und damit ein dramatisches Kapitel der Zeitgeschichte, als die Vereinigten Staaten unter Präsident Eisenhower einen libanesischen Regierungswechsel betrieben. Auf U-Booten und Kriegsschiffen reihen sich die Invasoren wie Zinnsoldaten auf, Strand, Meer und Himmel sind als Bildgründe akkurat gestapelt. Zgaib sollte später dann, 1975, im libanesischen Bürgerkrieg umkommen."

Weiteres: In der FAZ blickt Stefan Trinks kritisch auf die Documenta, die nach Vorwürfen des Antisemitismus eine angekündigte Gesprächsreihe (unser Resümee) "ohne wirkliche inhaltliche Begründung" einfach wieder abgesagt hat. "Das Kuratorenkollektiv Ruangrupa wolle 'zunächst die Ausstellung beginnen und für sich sprechen lassen'. Abermals hat sich die Documenta XV somit für eine Umkehrung des üblichen Verfahrens entschieden: Man lässt das Kind erst in den Brunnen fallen und fragt es dann, wie tief das Wasser sei." Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Varlin/Moser: Exzessiv!" im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen (NZZ).
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Design

In der NZZ erzählen Oliver Camenzind und Cian Jochem wie der Grafiker Max Miedinger und Edouard Hoffmann, Chef bei der Haas'schen Schriftgiesserei AG, in den 50ern die Helvetica-Type gestalteten und damit einen ungeahnten Siegeszug hinlegten: "Nach dem Schrecken des Zweiten Weltkriegs soll die Welt ruhiger werden und einfacher." Miedinger "ahnt, dass der Zeitgeist nach puristischen Formen verlangt, und trifft damit ins Schwarze: Die Werbebüros großer Basler Pharmaunternehmen sind sofort begeistert, Tausende weitere werden folgen. Auf den Schildern in der New Yorker U-Bahn kommt bald die Neue Haas Grotesk - unter dem Markennamen Helvetica - zum Einsatz, Notausgänge, Toiletten, Wegweiser oder Theaterplakate werden weltweit in Helvetica beschriftet." Sie wird zur "Schrift des Fortschritts".
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Stichwörter: Typografie, Helvetica, Toilette

Film

In Berlin trifft sich heute der Deutsche Produzententag. Christian Meier spricht in der Welt mit dem ehemaligen SPD-Politiker Björn Böhning, dem neuen Chef der Produzentenvereinigung. Er sieht die Zunft in der Not, mit den Streamern "auf Augenhöhe kommen zu müssen" und fordert "eine Teilhabe an Vertriebs- und Ausspielungserlösen. ... Das Geschäftsmodell der Plattformen, das bisher auf den totalen Rechteabkauf von Inhalten setzt - Produzenten werden nur einmal für ihre Leistung bezahlt - ist in dieser Form nicht zukunftsfähig. Wir brauchen eine gerechte Rechteverwertung, an der Produzenten als Urheber auch beteiligt sind." Die bislang gängige "ist wirtschaftlich und moralisch unanständig".

Weiteres: Annett Scheffel plaudert in der SZ mit Benedict Cumberbatch, der im Kino aktuell als Superheld Doctor Strange (mehr dazu im Standard) zu sehen ist. Besprochen werden Apichatpong Weerasethakuls "Memoria" (Zeit, unsere Kritik hier), die Serie "Gaslit" mit Julia Roberts und Sean Penn über die Watergate-Affäre (Freitag) und die Netflix-Miniserie "Our Great National Parks" mit Barack Obama als Host (taz).
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Architektur

Kevin Hanschke hat für die FAZ eine Ausstellung im Tschechischen Kulturzentrum Berlin besucht, die von Bau und Rezeption der 1979 eröffneten Botschaft der ČSSR, ein Monument des tschechischen Brutalismus, erzählt. "Allein die technische Gestaltung war für die damalige Zeit spektakulär: Auf einer Grundfläche von 48 mal 48 Metern ruht der Würfel aus verdunkeltem Glas, Granit, Stahl und Beton auf Pfeilern. Fünf Geschosse mit abgeschrägten Ecken sind über dem Eingangssockel aufgetürmt und mit kupfergetönten Glasscheiben verkleidet, in denen sich die gegenüberliegenden Plattenbauten spiegeln. Die geometrische Außenhaut mit den Glaskapseln trägt zur skulpturalen Gesamtwirkung bei. Diese äußere Erscheinung steht im Kontrast zum farbigen Design im Inneren, das von Glas- und Textilkunstwerken sowie Einbaumöbeln geprägt ist. Hinzu kommt die durchgängige Nussbaumverschalung, die an böhmische Burgen erinnert. Es gibt kreisrunde Bars, orangefarbene Teppiche und Toiletten- und Telefonkabinen mit Schiebetüren aus Milchglas."
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Bühne

"Haltung und Hoffnung" ist das Motto der diesjährigen Ruhrfestspiele in Recklinghausen. William Kentridge hat mit seiner Oper "Sibyl" zur Eröffnung schon mal beides gezeigt, freut sich in der SZ Christine Dössel. "Die alten Götter sind müde, heißt es, und auch von der Prophetin ist keine Zukunftsprognose, keine Sicherheit, nichts Handfestes zu erwarten. In Gestalt von Thandazile Radebe tanzt sie mit gerafftem Rock in der Mitte der Bühne wie ein Derwisch, und ihr Schatten vergrößert und verselbständigt sich auf der großen Bildwand hinter ihr, die aussieht wie ein Kontorbuch. Nichts ist von Bestand auf dieser Rätselbilderbühne. Alles fließt. Blätter wehen. Rorschach-Bilder rennen und zerrinnen. Sätze wie Orakelsprüche erscheinen als Projektionen auf den Seiten des vermeintlichen Lebensbuches: 'Du bist nicht als nächster dran', 'Lass uns vernünftig sein'. Fragen ploppen auf, auf einen Algorithmus wird verwiesen - und auf einen glücklichen Mann in Nordbrasilien. Aber sichere Antworten gibt es keine. Es muss schon jeder selber sein Leben in die Hand nehmen. Dazu fordert dieser sinnenfreudige, sinnenreizende Theaterabend auf." Simon Strauss, der für die FAZ aus Recklinghausen berichtet, hörte etwas anderes: "Zum Ende hin wandelt sich Kentridges zu Beginn etwas angestrengtes Gesamtkunstwerk zu einer leichtfüßigen Persiflage auf große Ziele und hohe Erwartungen: Seid bescheiden mit euren Hoffnungen, so lautet der leise Ratschlag, die Zukunft liegt doch nicht in eurer Hand."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel annonciert Rüdiger Schaper Aufführungen beim Berliner Theatertreffen, das heute beginnt. In seiner Video-Reihe "Eine kleine Dosis Theatergeschichte" bei der nachtkritik stellt der Literaturprofessor Holger Syme den schwarzen Schauspieler Ira Aldridge vor. Laurent Hilaire wird nach Igor Zelensky neuer Direktor des Bayerischen Staatsballetts, meldet in der SZ Dorion Weickmann, der das für eine "eine kluge Wahl und eine ziemlich sichere Bank" hält. In der FAZ schreibt dazu Wiebke Hüster. In der Welt gratuliert Peter Praschl dem Kabarettisten Gerhard Polt zum Achtzigsten.

Besprochen werden Malte Jeldens Inszenierung von Tonio Schachingers Fußballroman "Nicht wie ihr" im Vereinsheim der SG Wattenscheid 09 (SZ), ein "Fidelio"-Gastspiel des freie "Modern Music Theatre Kiev" in Meiningen (Tsp, SZ) und Sibylle Bergs Roman "RCE: #RemoteControlExecution" (nachtkritik).
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Literatur

In der FAZ porträtiert Anna Prizkau den ukrainischen Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan, der schon bei den Auseinandersetzungen 2014 und 2015 in Charkiw in Scharmützel mit Russen geriet und auch heute wieder in der Stadt ist, um sie zu verteidigen oder den Leuten zu helfen. "Liest man seine Romane heute noch einmal, muss man Serhij Zhadan für einen Hellseher halten", so etwa in "Mesopotamien", seinem großen Roman über die umkämpfte Stadt. "Geschrieben hat er den Roman noch vor dem Donbasskrieg, und doch ahnt man beim Lesen, dass auf die Ukraine noch ein großer Krieg wartet. In der Geschichte von Romeo erzählt ihm seine Julia - sie heißt eigentlich Dascha -, 'dass auf der Straße wieder geschossen werde, dass der Krieg weitergehe und niemand die Absicht habe, sich zu ergeben. All das wird weitergehen, solange wir lieben, erläuterte sie wie auf etwas anspielend. Die Liebe wird für alle reichen, fügte sie hinzu.'" Dazu passend setzt Sergei Gerasimow in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort

Außerdem: Die Welt porträtiert den Schriftsteller Christian Baron, dessen Roman "Ein Mann seiner Klasse" als Theateradaption demnächst beim Theatertreffen in Berlin (und bei 3sat) zu sehen ist. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Schriftsteller Ariel Dorfman zum 80. Geburtstag. Außerdem meldet Dlf Kultur die besten Krimis des Monats - auf der Nummer 1 auch weiterhin: Riku Ondas "Die Aosawa-Morde".

Besprochen werden unter anderem Eckhardt Nickels "Spitzweg" (SZ, Zeit), Michael Wildts "Zerborstene Zeit" (FR), Philipp Felschs "Wie Nietzsche aus der Kälte kam" (Tsp), Jacob Ross' Krimi "Die Knochenleser" (Dlf Kultur), Alexander Brauns Ausstellungskatalog "Horror im Comic" (Tsp), Hamid Ismailovs "Wunderkind Erjan" (Dlf Kultur), Derek Penslars Biografie über Theodor Herzl (Tsp) und Klaus Bittermanns Biografie über Wolfgang Pohrt (FAZ).
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Musik

Lars Fleischmann führt in der taz durch die Arbeit der Klangkünstlerin Ain Bailey, die gemeinsam mit "bisweilen traumatisierten Personen" sonische Autobiografien erstellt. "Diese prozessuale Arbeit, die immer nur im Moment der einzelnen Workshops Bestand hat, ist ephemer und vergänglich. Es entsteht danach kein marktgerechtes Produkt. ... In Field-Recordings, Found-Footage-Material und Musik sucht sie nach klanglichen Spuren. Durch die Montage und Collage der verschiedenen Quellen entstehen demnach Narrative des Selbst, des jeweiligen Ortes oder der Community."

Weitere Artikel: In Zürich sprach Alfred Brendel über Goethes Verhältnis zur Musik, berichtet Christian Wildhagen in der NZZ. In Südkorea könnten Popkünstler eventuell in Zukunft vom Militärdienst befreit werden, was wohl mit dem internationalen Erfolg des K-Pop-Exportschlagers BTS zusammenhängen dürfte, berichtet Jakob Biazza in der SZ. An vier von ihm kuratierten Abenden beim Festival Heidelberger Frühling hat Max Czollek das Klassikpublikum mit dem konfrontiert, was Deutsch, vielleicht sogar spezifisch Nachkriegsdeutsch an der Klassik ist, wie wir sie heute kennen, berichtet Hannah Schmidt in der Zeit. Besprochen werden Kae Tempests neues Album "The Line Is a Curve" (FR) und Ibeyis neues Album (BLZ). Wir hören rein:

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