Efeu - Die Kulturrundschau

L'Eclat, c'est moi

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16.05.2022. Nach der Schlacht von Gotha fegen die Feuilletons zusammen: Der PEN hat sich gründlich zerlegt, klagt die FAZ, die SZ sieht Narzissmus und Eitelkeit auf allen Seiten am Werk, die taz möchte die Bilder von Siebzigjährigen mit Trillerpfeifen aus dem Kopf bekommen. Inbrunst, aber mit Qualität bescheinigen SZ und Nachtkritik dem bayrischen Mega-Event der Oberammergauer Passionsfestspielen. taz und ZeitOnline feiern den ukrainischen Sieg beim ESC.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.05.2022 finden Sie hier

Literatur

Die Schlammschlacht von Gotha dürfte schon jetzt ein Fall für die Geschichtsbücher sein. Die Feuilletons stehen ratlos vor dem Scherbenhaufen, als der sich das deutsche PEN-Zentrum nach der peinlichen Selbstdemontage des vergangenen Wochenendes nun darstellt (unser erstes Resümee). "Der deutsche Schriftstellerverband PEN hat sich am Wochenende auf seiner Jahrestagung in Gotha selbst zerlegt", resümiert Julia Encke in der FAZ die Geschehnisse - "Arschloch" wurde gerufen, Mittelfinger gezeigt. "Wie der heillos zerstrittene Verein wieder zur Sache kommen und sich seinen Aufgaben widmen will, ist nach der Tagung in Gotha tatsächlich völlig unklar."

Die vorläufigen Fakten: Das Präsidium ist am Samstagmorgen zurückgetreten, fürs Erste wird der Autor Josef Haslinger den Verein interimsmäßig führen, meldet Julia Encke in der FAZ. Haslinger wolle sich um Versöhnung bemühen, stehe für eine vollwertige Amtszeit aber nicht zur Verfügung, zitiert ihn der Standard.

"Alle Beteiligten haben irgendwie verloren", resümiert Cornelius Pollmer in der SZ und schließt explizit auch Deniz Yücel mit ein, dem Pollmer attestiert: "L'éclat, c'est moi ... Zum Antritt als Präsident war klar, hier fühlt sich einer nachvollziehbar geschmeichelt von der neuen Rolle. Und hier hat zweitens einer ein ihm wichtiges Anliegen, nämlich die tatkräftige Hilfe für wo auch immer bedrohte Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Der ganz große Abgang Yücels jetzt lässt sich auch so lesen, dass Narzissmus und Eitelkeit am Ende gesiegt haben über die Sache." So sei "eine gewisse Bratwursthaftigkeit auch ihm zu attestieren". In einem zweiten Artikel schreibt Pollmer: "Der tragische Held Deniz Yücel ist in seiner kurzen Zeit als Präsident genau das gewesen, was der narkoleptische PEN dringend braucht - nur davon eben so dermaßen zu viel, dass er am Ende selbst sich und seine Arbeit verunmöglicht hat."

Zum SZ-Interview hat Pollmer Yücel ebenfalls gewonnen. Der betont, dass es bei all dem grellen Spektakel im Grunde um ernste Angelegenheiten ging, nämlich um das "Writers in Exile"-Programm und dessen Umsetzung. Yücel kritisiert einen "kolonialherrenhaften Umgang" mit den Stipendiaten: "Stella Nyanzi, die auch in Gotha gesprochen hat, wurde in Uganda wegen eines Gedichts auf Facebook verhaftet, sie saß ein Jahr im Knast, dann bot man ihr an: Du kommst raus, wenn du kooperierst und deinen Fehler eingestehst. Sie sagte Nein und saß deswegen noch länger im Knast. Und so jemandem wird von der 'Writers in Exile'-Beauftragten Astrid Vehstedt gesagt: Nicht twittern, Klappe halten. Das ist kolonialherrenhaft, das ist mangelnde Empathie und eine politische Bankrotterklärung."

Ralf Sotschek, selbst PEN-Mitglied, zeigt sich in der taz völlig entgeistert vom Verlauf der Veranstaltung: "Man schrie sich zehn Stunden lang gegenseitig an", daneben gab es "teenagerhafte Schwanzvergleiche", als ein Redner seine Publikationsliste ins Spiel brachte, die ja viel länger als die von Deniz Yücel sei. "Es war zum Fremdschämen!" Ziemlich "befremdlich" findet auch David Hugendick im ZeitOnline-Kommentar die Szenerie.

Dirk Knipphals spricht in der taz von "70-Jährigen mit Trillerpfeifen", die Redebeiträge störten - ein fatales Signal für alle, die mit Yücels Präsidentschaft einen Neuanfang des ergrauten Vereins erwarteten. "Es ist erst einmal nur schwer abzusehen, wie dieser Verein jemals wieder intellektuell ernst genommen werden kann. ... Auf gar keinen Fall darf es ein Zurück in die Zeit vor der Präsidentschaft Yücels geben. Vielmehr muss der deutsche PEN jetzt nicht nur an der Professionalisierung seiner Strukturen arbeiten, sondern vor allem seine interne Kultur von Grund auf ändern."

Außerdem: Der Schriftsteller Bora Ćosić meditiert in einem NZZ-Essay über Odessa. Der Standard bringt einen Essay von Eva Menasse über die Schriftstellerin Mechthilde Lichnowsky. Sergei Gerasimow setzt in der NZZ hier und dort sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Im Literaturfeature für Dlf Kultur wirft Jörg Plath einen Blick in Imre Kertész' Arbeitagstagebuch für dessen "Roman eines Schicksallosen". Im Comic gibt es mal wieder einen vor Gericht ausgefochtenen Erbenstreit, berichtet Stefan Pannor im Tagesspiegel - diesmal geht es um Gaston.

Besprochen werden Uwe Tellkamps "Der Schlaf in den Uhren" (Freitag, FR), Daniel Siemens' "Hinter der 'Weltbühne'. Hermann Budzislawski und das 20. Jahrhundert" (Freitag), Philipp Deines' Comic "Die 5 Leben der Hilma af Klint" (Freitag), Christoph Poschenrieders Krimi "Ein Leben lang" (FAZ) und neue Hörbücher, darunter eine Autorenlesung von Leif Randts Roman "Schimmernder Dunst über Coby County" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Frieder von Ammon über Goethes "An die Zikade":

"Selig bist du, liebe Kleine,
Die du auf der Bäume Zweigen,
Von geringem Trank begeistert,
..."
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Bühne

Das professionellste Laientheater der Welt. Foto: Oberammergauer Passionsspiele

Ach wenn sie doch nur hätte jubeln dürfen, seufzt eine völlig überwältigte Christine Dössel in der SZ nach der Premiere der Oberammergauer Passionsspiele, die pandemiebedingt um zwei Jahre verschoben werden musste. Der bewährte Volkstheater-Intendant Christian Stückl hat sie Dössel zufolge eher als große Oper denn als Volkstheater inszeniert hat: "Mit einem Folklorespektakel oder billigem Sandalentheater hat das nichts zu tun, das sei allen gesagt, die noch nie da waren und womöglich ihre Vorurteile pflegen. Zwar spielen tatsächlich 'nur' Laien, insgesamt 1.800 Oberammergauer, doch gerade dass es sich um Laien handelt, macht die Sache umso beeindruckender, denn wie sie spielen und singen, mit welcher Inbrunst, Authentizität und Qualität, das ist schon sagenhaft: das wohl professionellste Laientheater der Welt."

Nachtkritiker Maximilian Sippenauer muss allerdings zugeben, dass ihn am Ende Stückls Passion ziemlich kalt lässt, Mitleid will bei ihm nicht aufkommen. Liegt es am politischen Fokus, in dem die Menge wichtiger ist als das Individuum? "Auch sonst konkurriert nicht hier Team Juden mit Team Jesus, sondern sowohl unter den Aposteln als auch unter den Pharisäern zeigen sich politische Konfliktlinien. Es geht um den Umgang mit den Besatzern: Sich fügen? Die Römer wollen ihre Abgaben, sind aber bekanntlich ziemlich tolerante Besatzer. Oder Freiheit um jeden Preis? Die Parallelen zum Ukraine-Krieg springen einen geradezu an. Und nun passiert etwas Wichtiges: Eine Wertung schleicht sich ein. Die Römer und dessen Prokurator Pontius Pilatus treten in schwarzen, dezidiert nicht historischen Uniformen auf: Sie wirken totalitär, protofaschistisch. In dieser Gewichtung scheinen die irdischen Bedenken der Juden plötzlich nachvollziehbarer als das Wort Jesu, obwohl der diesen unwahrscheinlich tiefen Satz sagt: Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, wo liegt dann der Verdienst. In dieser Passion aber klingt dieser Gedanke so hilflos und naiv wie heute ein offener, pazifistischer Brief im Feuilleton. Dann wird Jesus verhaftet. Pause."

In der FAZ erklärt Hannes Hintermeiner, was für ein Mordgeschäft die Passionspiele sind. Bis Ende Oktober sind noch hundertdrei Vorstellungen geplant: "Vierhundertfünfzigtausend Karten: Mit Übernachtungen, Gastronomie, Merchandising, Lüftlmalerei und Wood Carving, wie die Holzschnitzerei jetzt heißt, ist die Passion ein eminenter Wirtschaftsfaktor.". Sylvia Staude freut sich in der FR trotzdem, dass inszwischen nicht nur verheiratete Frauen, sondern auch Muslime mitspielen dürfen, sofern sie in Oberammergau geboren sind.

Besprochen werden Wolfram Lotz' neues Stück "Heilige Schrift I" an den Münchner Kammerspielen (SZ), die Bühnenfassung von Viktor Martinowitschs Romans "Revolution am Hamburger Schauspielhaus (FAZ), Simon Stones in den amerikanischen Rostgürtel verlegte Version von Donizettis "Lucia di Lammermoor" an der New Yorker Met (FAZ) und "Cesare in Egitto" bei den Händel-Festspielen in Göttingen (FAZ).
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Film

Jörg Seewald resümiert in der FAZ das Dokfest in München. Besprochen wird die auf Sky gezeigte Schweizer Krimi-Serie "Tschugger" (taz).
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Kunst

Im Tagesspiegel bemerkt Birgit Rieger, dass sich Kulturstaatsministerin Claudia Roth in der Auseinandersetzung um die Documenta-Kuratoren von Ruangrupa an die Seite des jüdischen Zentralrats gestellt hat. In einer gemeinsamen Erklärung erklären Roth und Josef Schuster, Boykotten gegen israelische Künstler entgegentreten zu wollen: "Bleibt die Frage, wie, wo und mit wem diese Dinge im Rahmen der Documenta erörtert werden? Was heißt, den Boykotten entgegentreten? Und wer holt Ruangrupa wieder ins Boot?"

Anetta Kahane kritisiert in der FR mit Blick auf die Debatte um die Gruppe Ruangrupa und ihren Text, dass beim Antisemitismus mit zweierlei Maß gemessen wird. "Man stelle sich dieses Geschehen mit schwarzen Künstlern vor, denen bei Kritik gesagt wird, wo man Rassismus sehe und wo nicht und wann sie mitreden dürften, wenn sie nicht einverstanden sind."

Besprochen werden Nina Canells Ausstellung "Tectonic Tender" in der Berlinischen Galerie (taz) und eine Schau des Dürer-Kopisten Hans Hoffmann im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (FAZ).
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Musik

Wie erwartet hat das ukrainische Kalush Orchestra den Eurovision Song Contest gewonnen - wenn auch am Ende nur dank der Publikumsabstimmungen. Prompt gibt sich auch Selenskyj siegesgewiss: Der Wetbewerb werde nächstes Jahr selbstverständlich in der Ukraine stattfinden. War der Sieg verdient? "Das Lied ist einfach gut, moderner Seitenmainstream, sympathisch, eher bescheiden in der Performance", schreibt Jan Feddersen in der taz, der alles in allem einen euphorischen Abend erlebte: "Was war das für eine Propagandaschau des modernen Selbstverständnisses von Europa: Inklusiv, hassfrei, queer, ästhetisch durchaus sammelsurisch, antidiskriminierend, einladend und frisch."

Dass Russland vom ESC ausgeschlossen wurde, hält Jens Balzer auf ZeitOnline für "zweifellos richtig", trotzdem packte ihn Wehmut - schließlich waren die russischen Beiträge in den letzten Jahren eher patriarchatskritisch und queer-nahe. "In den Beiträgen zum ESC zeigte sich gerade jene russische Zivilgesellschaft, zumal die feministische und queere Community, die vom autoritären Regime Wladimir Putins inzwischen vollständig zum Schweigen gebracht" worden ist. "Es wäre, bei allen selbst auferlegten Beschränkungen, gerade an diesem Abend ein Zeichen auch an diese Menschen, an ihre Kultur von Bedeutung gewesen: Wir haben euch nicht vergessen." Einmal mehr genervt zeigt sich Elmar Kraushaar in der Berliner Zeitung über den deutschen Beitrag und Peter Urbans Moderation für den NDR: Wie jedes Jahr ist der Beitrag matt und auf die Bedürfnisse eines deutschen Provinzpublikums zugeschnitten und die Rolle von Urban besteht im blindwütigen Loben des Beitrags wider alle Vernunft und Realität.

Themenwechsel: Andreas Zurbriggen porträtiert in der NZZ den im Berliner Exil untergekommen, 84-jährigen ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov, dessen Werke gerade viel gespielt werden - zumal sie sich auch stets mit der jüngeren ukrainischen Geschichte befassen. "'Nun wird die ganze Ukraine und die ganze Welt zum Maidan', sagt Silvestrov mit Blick auf den derzeitigen Konflikt in seinem Heimatland. Er reagiert darauf auch weiterhin künstlerisch. In Kompositionen für Klavier verarbeitet er seine Gefühle von Verlust, Wut und Resignation. So entstand beim Anblick der Menschenmengen und Autokolonnen an der polnischen Grenze in seiner Imagination eine zerbrechliche Musik von berückender Schönheit."

Wer russische Musik und Literatur in Bausch und Bogen verdammt, treffe "akkurat die Falschen", meint Ronald Pohl im Standard. Denn die Widersprüche Russlands zwischen Tradition, Moderne und imperialem Großmachtstreben wurde ja gerade und besonders von Kulturschaffenden stets offengelegt. "Wer heute, aus berechtigter Empörung über den Krieg, eine Aufführung von Dmitri Schostakowitschs 13. Symphonie verhindert, hilft mit, das Wichtigste zu unterschlagen. Des Komponisten Erinnerung an die Opfer des Massakers von Babyn Jar 1941 in Kiew ist von Anfang an ein Werk der Auflehnung gewesen: gegen Stalins Antisemitismus."

Außerdem: Jens Balzer wirft in einem Essay für ZeitOnline einen Blick aufs Heimatverständnis bei Rammstein und Helene Fischer. In einem weiteren Essay für ZeitOnline rekonstruiert Tobi Müller mit kritischem Blick, wie aus der schwarzen House-Musik in Detroit deutscher Techno aus Hessen wurde. Die Provenienzforschung steht in der Musik - etwa im Hinblick auf den Instrumentenhandel - noch ganz am Anfang, muss Corinne Holtz in der NZZ feststellen.

Besprochen werden das neue Moderat-Album (Tsp), das erste Soloalbum von Daniel Rossen von Grizzly Bear (taz) und ein Konzert der Geigerin Patricia Kopatchinskaja mit dem Mahler Chamber Orchestra (Tsp).
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