Efeu - Die Kulturrundschau

Wie datieren Sie diese Madonnenskulptur?

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18.05.2022. In der FAZ erklärt Ursula Krechel, warum sie nicht aus dem PEN austritt: "Wenn man nicht um ein Haus kämpft, kommt die Abrissbirne." In der Zeit möchte Kirill Serebrennikow nicht der russischen Kultur die Schuld am Krieg geben, sondern der Unkultur. Ähnlich sieht das der Pianist Alexander Melnikov. Die SZ beklagt das Schwinden der Kennerschaft im Kunstbetrieb. Der Guardian begegnet in den Bildern Glyn Philpots gutaussehender Kultiviertheit. Und in Cannes sitzen die Filmkritiker Michel Hazanavicius' Zombiekomödie "Coupez" zum Auftakt pflichtschuldig, aber unterwältigt ab.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.05.2022 finden Sie hier

Film

Gestammel, Gefuchtel und Kunstblut: In "Coupez!" lässt Cannes es spritzen

Michel Hazanavicius' Zombiekomödie "Coupez" (die ursprünglich mal "Z (Comme Z)" hieß, was nach dem russischen Angriff auf die Ukraine und dem "Z", das die russische Propaganda als Symbol benutzt, eilig geändert wurde) über einen Regisseur, der einen Zombiefilm dreht, hat gestern Abend die Filmfestspiele von Cannes eröffnet - so überwältigend ist der Film (oder die Frist bis zur Deadline so kurz), dass die Kritiker ihre Berichte vor allem mit Strandbeobachtungen und Festival-Trivia füllen. Hazanavicius hält sein Publikum im übrigen für die erste halbe Stunde ziemlich zum Besten, schreibt David Steinitz in der SZ: Denn zunächst sieht man erstmal "den kompletten versauten Zombiekurzfilm", sodass man "sich fragt, in welchem Schwachsinnsspektakel man denn jetzt gelandet ist", bevor Rückblenden und Rückblenden in Rückblenden den eigentlichen Film erzählen - "ein gewagtes dramaturgisches Manöver für einen Eröffnungsfilm. Denn die Zuschauer in Cannes sind gnadenlos." Zwar liefert "Coupez!" dann noch "ein paar absurde und komische Szenen. Ein Riesenknaller ist er allerdings nicht."

Über weite Strecken ist ein "mäßig blutiger, mäßig lustiger Film" zu sehen, seufzt Hanns-Georg Rodek in der Welt, dem die ständigen Verschachtelungen des Films am Ende fast zu viel werden. Immerhin: Ganz am Ende schlummert in dieser Matroschka-Film doch noch "eine vergnügliche Hommage an alles Mögliche, an die Filmgeschichte, an das Film-im-Film-Genre und sogar an das frühe Fernsehen der 1950er." Hilft alles nichts, findet ein ziemlich angeödeter Andreas Kilb in der FAZ: "Die Komödie, die in diesem Triptychon steckt, ist noch deutlich erkennbar, aber sie geht in Gestammel, Gefuchtel und Kunstblut unter." Im Standard ist Dominik Kamalzadeh gespannt auf Marie Kreutzers  österreichischen Film "Corsage", einer Neuverfilmung von Sisis Leben. Tim Caspar Boehme von der taz äußert sich nicht zum Eröffnungsfilm, aber zu interessanten Problemen mit dem elektronischen Buchungssystem und dass Cannes Wegwerfflaschen verboten hat.

Außerdem: Radio Free Europe meldet, dass die iranische Filmemacherin Mina Keshavarz verhaftet wurde und im Gefängnis sitzt. Aurelie von Blazekovic schreibt in der SZ zum Tod des Schauspielers Rainer Basedow. Besprochen werden Leander Haußmanns "Stasikomödie" (online nachgereicht von der FAS), Ti Wests Slasherfilm "X" (Presse) und die Arte-Doku "Wir sind keine Puppen" (FAZ).
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Literatur

Der Streit ums deutsche PEN-Zentrum geht weiter. Schier zum Verzweifeln findet die Lyrikerin Nora Gomringer im Freitag die Lage: "Gerade heute, da Diktaturen auf dem Vormarsch sind, ist der Schutz der freien Rede und der Kunst wichtiger denn je. Der Mut zahlreicher Autorinnen und Autoren ist im Kampf für diese Werte beispiellos. Der PEN unterstützt sie in diesem Kampf. Nur nicht der deutsche PEN, der ist gerade außer Betrieb."  PEN-Ehrenpräsidentin Ursula Kechel reagiert in der FAZ auf den Streit verklausuliert mit einem Gleichnis von einem maroden Haus und gibt damit zu erkennen, keineswegs zurück- oder austreten zu wollen: "Wenn man nicht um ein Haus kämpft, kommt die Abrissbirne, damit ist niemandem gedient. Und denke: Es gibt andere Probleme in der Welt als ein marodes Haus mit vielen Schreibzimmern, denke an Menschen, die gefoltert werden, weil sie gesagt haben, was sie sagen wollten."

ZeitOnline spricht mit Josef Haslinger, dem nun amtierenden Interimspräsidenten. Er gehört zu jenen, die als erstes Yücels Rücktritt forderten. Das "war ein Fehler, den ich schon am nächsten Tag eingesehen habe. ... Wir Altpräsidenten, die wir zu diesem Zeitpunkt kein gewähltes Gremium des PEN dargestellt haben, hätten nicht als solches - als eine Art informeller Ältestenrat - agieren sollen. Zum anderen ist mir wichtig, dass ich nun ganz explizit als Brückenbauer agieren möchte." Er glaubt, "dass Deniz Yücel gute Ideen hatte und ein paar ganz gute Reformschritte machen wollte. Aber um diesen Teil ist es dann am Ende gar nicht mehr gegangen, weil die Atmosphäre schon so vergiftet war. Auch deshalb brauchen wir nun wirklich einen Neustart."

Die Welt dokumentiert eine überarbeitete Version von Deniz Yücels Eröffnungsrede der Tagung von Gotha, die mit Blick auf die Nachkriegslyrik dem Konflikt zwischen den Nachkriegslosungen "Nie wieder Krieg" und "Nie wieder Faschismus" nachgeht. "Den Kern dieser Debatte kann man in politischen Kategorien beschreiben oder in moralisch-philosophischen. Aber ich denke, man kann diese Zerrissenheit zwischen 'Nie wieder Krieg' und 'Nie wieder Faschismus' auch in lyrischen Begriffen darstellen: Wolfgang Borchert oder Paul Celan? 'Sag Nein' oder 'Wir schaufeln ein Grab in den Lüften'?" In einem Perlentaucher-Essay befasste sich Thierry Chervel vergangene Woche mit ähnlichen Fragestellungen.

Weitere Artikel: In der NZZ beschließt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw. In der FR spricht die Schriftstellerin Sharon Dodua Otoo über das "Resonanzen"-Literaturfestival über deutschsprachige Texte schwarzer Autor:innen, das sie kuratiert hat (mehr dazu hier).

Besprochen werden unter anderem Marie Luise Knotts "370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive" über Hannah Arendt und Ralph Ellison (Tsp), Yade Yasemin Önders "Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron" (taz), Karl Ove Knausgårds "Der Morgenstern" (NZZ), Andrei Bitows "Leben bei windigem Wetter" (NZZ), Nicole Krauss' Erzählungsband "Ein Mann sein" (SZ), Bastien Vivès' neuer Corto-Maltese-Comic "Schwarzer Ozean" (SZ), Norbert Hummelts "1922 - Wunderjahr der Worte" (Standard), Nathaniel Richs Reportagenband "Die zweite Schöpfung" (Tsp) und Max Frischs "Blätter aus dem Brotsack" (FAZ).
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Kunst

Glyn Philpot: Portrait of Tom Whiskey (M Julien Zaïre), 1931-32. Bild: Richard Osborn Fine Art

Als tolle Wiederentdeckung feiert Hettie Judah im Guardian den britischen Maler Glyn Philpot, dem das Pallant House in Chichester eine Ausstellung widmet: "Philpot erscheint als ein Künstler - als ein Mann -, den es in verschiedene Richtungen zog. Er war praktizierender Katholik und schwul, fasziniert von Schauspiel und Maskeraden. Sein Interesse am männlichen Körper setzte er in (manchmal seltsamen) symbolistischen Arbeiten zu klassischen Themen um. Von den Entwicklungen in Paris und Berlin beeinflusst, experimentierte er in den dreißiger Jahren mit dem Modernismus und malte das Chrom und Glas der nun funkelnden Städte. Angelehnt an Picasso, Cocteau und Matisse wurde Philpots neuer Stil nicht sonderlich geschätzt. Sein Faible für Schwarze war zu jener Zeit ungewöhnlich. Einige waren Schauspieler: Das Porträt von Paul Robeson als Othello (1939) wurde erst bei Nachforschungen für diese Ausstellung entdeckt. In Paris malte er Julien Zaïre, einem Künstler aus Martinique, der im Kabarett als Tom Whiskey auftrat. An die Stahlrohrmöbel eines schicken Interieurs gelehnt, ist Zaïre der Inbegriff gutaussehender Kultiviertheit im Smoking." (Mehr über Glyn Philpot: hier)

Heute will das Auktionshaus Christie's eine Zeichnung versteigern lassen, die neuerdings und mit schwachen Argumenten Michelangelo zugeschrieben wird, wie Kia Vahland in der SZ schreibt. Sie sieht in der Zunahme fragwürdiger Zuschreibungen eine Folge schwindender Kennerschaft: "Nur noch wenige Kunsthistoriker sind bereit, ihr Forscherleben einer einzigen Künstlerin oder einer einzigen Technik zu widmen. Das hat viele Gründe: Wer zu spezialisiert ist, hat kaum Jobs zur Auswahl. Kennerschaft erfordert mehr Geduld, als ein auf Output ausgerichteter Wissenschaftsbetrieb erlaubt. Nicht mehr an jeder Universität werden Stil-, Motiv- und Materialanalyse überhaupt noch ausführlich gelehrt; ausgedient hat vielerorts auch der Postkartentest: 'Wie datieren Sie diese Madonnenskulptur?'"

Besprochen werden die Ausstellung "Radical Landscapes" in der Tate Liverpool (Obrserver) und die von der Familie kuratierte Basquiat-Ausstellung "King Pleasure" im New Yorker Starrett-Lehigh Building (SZ).
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Bühne

Der russische Film und Theaterregisseur Kirill Serebrennikow, der in Hamburg gerade das Stück "Der schwarze Mönch" und in Cannes den Film "Tschaikowskys Frau" laufen hat,  spricht im Interview mit der Zeit über Putin als Machtsystem, die Not der Exilierten und die Unkultur, die hinter diesem Krieg steht: "Es ist nicht die russische Kultur, die die ukrainischen Städte angreift. Diejenigen, die in der Ukraine morden, sind fern der russischen Kultur, sie haben mit ihr nichts zu tun. Die wahre russische Kultur dreht sich um die Welt jedes einzelnen Menschen, um die Kostbarkeit jedes menschlichen Lebens. Wir sind in diesem Krieg mit etwas anderem konfrontiert, etwas sehr Gewalttätigem, Irrationalem, Krankhaftem, etwas Unerklärlichem. Aber andererseits ist der Krieg immer so. Man darf ihn einfach nicht anfangen, unter keinen Umständen."

Weiteres: Die Tänzerin Susan Jaffe übernimmt die Leitung des New Yorker American Ballet Theater, berichtet Wiebke Hüster in der FAZ , das nicht zu verwechseln sei mit George Balanchines New York City Ballett. Besprochen werden Lies Pauwels' Feier des "Baroque" am Bochumer Schauspielhaus (SZ) und Deirdre Kinahans Stück "Der Vorfall" in Mainz (FR).
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Musik

Was jetzt zählt, ist Solidarität mit der Ukraine und ein Ende des russischen Angriffskriegs, findet auch der russische Pianist Alexander Melnikov in der FAZ, dem angesichts der Wirkmächtigkeit der Propaganda in der russischen Bevölkerung alles vergeht. Von einem über der russischen Kultur verhängten Boykott hält er dennoch - wohl auch aus sehr naheliegenden Gründen - nichts. "Im Westen sind die Ideen der Kollektivverantwortung und Kollektivschuld derzeit eine explosive Verbindung eingegangen mit der Euphorie, sich endlich gegen die allgemein anerkannten Bösewichte - die Russen - vereinen zu können. ... Diese Euphorie lässt die westlichen Gesellschaften gerade viele hart erarbeitete europäische Werte hinwegfegen und gegen Gesetze verstoßen. Die gute alte Diskriminierung ist zurück, aber wir bemerken es nicht. Das Gefühl, 'das Richtige zu tun', besonders wenn es nicht viel kostet, ist eine starke Droge." Doch "das Schlimmste, das man in einer solchen Situation tun kann, ist, Barrieren aufzubauen und uns der großen Hilfe zu berauben, die die Kultur bietet."

Besprochen werden ein Songwriting-Buch des Wilco-Sängers Jeff Tweedy (Tsp), das neue Album der Black Keys (Tsp), Schmyts Solodebüt "Universum regelt" (ZeitOnline) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album von Lykke Li (SZ).

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