Efeu - Die Kulturrundschau

Hundert wohlplatzierte Pointen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.05.2022. In Cannes schlürfen FR und Tagesspiegel genüsslich Ruben Östlunds Sozialsatire "The Triangle Of Sadness", die ihnen runtergeht wie ein schlecht gemixter Martini. Der Tagesspiegel bewundert auch kapriziöse Kaktus-Architekturen in den Fotografien Graciela Itubides. FAZ und FR schwirrt der Kopf nach einem Elfriede-Jelinek-Abend am Schauspiel Frankfurt. taz und SZ sehen nach dem Theatertreffen das postdramatische Theater wohlauf. Die NZZ ruft mit Anne Kaestle die Architektur zum zivilen Ungehorsam gegen die Bauvorschriften auf.    
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.05.2022 finden Sie hier

Film

Die Influencerin und das Model: offensichtliche Zielscheiben des Spotts von Ruben Östlund

Mit seinem Triptychon-Film "The Triangle Of Sadness" feiert der Regisseur Ruben Östlund sein Cannes-Comeback, wo er 2017 für "The Square" die Goldene Palme erhielt. Zu beobachten gibt es beispielsweise Woody Harrelson als saufenden Marxisten und Bootskapitän, ein Influencer-Pärchen und "die spektakulärste Brechorgie der Kinogeschichte seit Marco Ferreris Bourgeoisie-kritischem Klassiker 'Das große Fressen'", freut sich Daniel Kothenschulte in der FR und macht Lust aufs Finale des Films, der "als Robinsonade die sozialen Hierarchien noch einmal so gründlich durcheinander schüttelt, wie ein schlecht gemachter Martini seine Zutaten. Anders als sein geradezu intellektualistischer Vorgänger 'The Square' über die Doppelmoral des Kunstbetriebs ist dies ein grelles Stück Agitprop mit breitem Pinsel - aber hundert wohlplatzierten Pointen."

Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche erlebte ein "Satire-Stahlbad zwischen Feelbad-Movie und Crowdpleaser. ... Der schwedische Provokateur schien nur auf Cannes zu warten. Ein besserer Ort, um sich über die Schönen (Fashion!), Reichen (eine Cruisetour auf einer Yacht von Aristoteles Onassis) und Privilegierten (die soziale Hackordnung auf einer einsamen Insel) lustig zu machen, ist kaum vorstellbar." Doch "die Prämisse klingt so gut, dass Östlund sich danach aber nicht mehr viel einfallen lässt - außer einer lauten Nummernrevue mit offensichtlichen Zielscheiben für seinen Spott." Andreas Kilb von der FAZ musste im Kino mehrfach auf die Uhr sehen: "Im Kino ist Wirkung eine Frage der Ökonomie. Bei Ruben Östlund läuft die Erzählökonomie derart aus dem Ruder, dass man sich an eins jener Feste erinnert fühlt, die erst zu spät anfangen und dann nicht mehr enden wollen." Tazler Tim Caspar Boehme findet den Film "bei aller kalt-präzisen Beobachtung mitunter mehr als krude".

Aus dem Programm an der Croisette besprochen werden weiterhin Mantas Kvedaravičius' "Mariupol 2" (ZeitOnline, mehr dazu hier), Cristian Mungius "R.M.N." (Standard), Marie Kreutzers Sisi-Drama "Corsage" (Standard), Emily Atefs "Mehr denn je" (Tsp) und Tarik Salehs "Boy From Heaven" (FAZ). Außerdem berichten die Teams von critic.de und Artechock fleißig von vor Ort.
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Architektur

Der taz-Neubau von e2a. Foto: Rory Gardiner/e2a

Laura Helena Wurth freut sich über den Kreativitätsschub, den Schweizer Architekten in den vergangegen Jahren den deutschen Städten verschafften, womit sie nicht nur die Ikonen von Herzog & de Meuron meint, sondern auch die Bauten des Büros E2A, das die Heinrich-Böll-Stiftung und die taz entwarf, oder das Büro Duplex mit seinen Genosschaftsbauten: "Anne Kaestle hat vergangenes Jahr ein Buch herausgegeben, in dem sie ihre Idee des Bauens mit Duplex genau beschreibt. Eine Idee, die sich vielmehr mit dem Dazwischen, mit den Räumen, die unfreiwillig entstehen und gerade deswegen frei von den Menschen genutzt werden, beschäftigt. In der Publikation ruft sie dazu auf, dass Architekten eine Art zivilen Ungehorsam etablieren sollen, um die strikten Bauvorgaben zugunsten einer menschenfreundlicheren Architektur zu umgehen."

Im Welt-Interview leidet Architekt Hans Kollhoff einmal mehr an fehlender Verdichtung, Berlins "Europacity" am Hauptbahnhof und überhaupt all den Sozialbauten in Berlin. Von der neuen Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt erhofft er sich eine radikale Kehrtwende: "Aber wie will man das machen mit städtischen Wohnungsbaugesellschaften, die nur Sozialwohnungen im Kopf haben und nicht in urbanen Kategorien denken wollen oder können. Es muss auch wieder über das ehemalige Flugfeld Tempelhof nachgedacht werden. Die riesige Grünfläche kann ja genauso bleiben, am besten ohne 'Gestaltung', aber an den Rändern könnte ein Quartier heranwachsen wie am Central Park in New York. Das wäre doch grandios Mein Gott, wie mutlos ist diese Stadt geworden!" Vielleicht auch nur resigniert, betrachtet man die grausliche Randbebauung am Gleis Park.
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Kunst

Graciela Iturbide: Jardín Botánico, Oaxaca, México. Bild: Museum of Fine Arts, Boston

Im Tagesspiegel fragt sich Brigitte Werneburg, warum sie eigentlich immer nach Paris reisen muss, um die Bilder der mexikanischen Fotografin Graciela Iturbide sehen zu können. Hier zeigt die Fondation Cartier eine Retrospektive "Heliotropo 37", beid er vor allem auch das Spätwerk die Kritikerin beeindruckte: "Faszinierend die Aufnahmen von Kakteen, die so mächtig sind, dass sie gestützt werden müssen. Heftig bandagiert, mit dicken Lagen Zeitungspapier umwickelt und schweren Hanfseilen an Holzlatten gebunden, erzählen die kapriziösen Pflanzen-Architekturen und Skulpturen von naturgegebener Hinfälligkeit und menschlichem Bemühen. Die Aufnahmen entstanden im 1993 eröffneten Botanischen Garten von Oaxaca de Juárez, der vor allem die Pflanzen der Region sammelt und dokumentiert.

In der FAZ schreibt Freddy Langer zum siebzigsten Geburtstag des britischen Fotografen Martin Parr und er ahnt, warum Parrs grelle Fotografie so unangenehm auf den Betrachter wirkt: "Parrs Kritik an den unerträglichen Zuständen der Welt ist schrill formuliert und beruft sich auf die Annahme, wonach die Satire alles dürfe. Dabei ist es am wenigsten all der Müll und Plunder oder auch der protzende Reichtum, dem er beim Pferderennen in Ascot oder auf Luxusmessen in Dubai begegnet, über den man staunt und der zugleich die Bilder oft schwer erträglich macht - es sind vielmehr die Menschen, die darauf den Eindruck vollkommener Zufriedenheit vermitteln und nicht eine Sekunde lang zu glauben scheinen, es stimme mit ihrer Situation etwas nicht. Und so wird all der Hohn und Spott am Ende von einem Moment von Traurigkeit überlagert, geradeso wie bei fast jeder Clowneske." in der SZ gratuliert Alexander Menden.
Archiv: Kunst

Literatur

In der NZZ schließt sich der Slawist Thomas Grob seinem Kollegen Jens Herlth in seiner Kritik (unser Resümee) an Oksana Sabuschkos Generalabrechnung mit der russischen Kultur und der Slawistik (unser Resümee) an: Die Schriftstellerin liefere lediglich Anekdotenwissen, ihre "Invektive erklärt wenig, aber insinuiert viel", sie habe nur verzerrte Kenntnisse vom Stand der Disziplin und argumentiere sich die Lage zurecht, behauptet er: "Im Gegensatz zu diesen mythisierten nationalen Gegenüberstellungen - Gut und Böse - spielt das aus dem 19. Jahrhundert stammende Konzept der Nationalliteratur in slawistischen Untersuchungen immer weniger eine Rolle; dem pluralen osteuropäischen Raum ist es zu oft nicht angemessen. ... Vielleicht darf man gerade in der Solidarität die ukrainischen Freunde, deren Wut und Verzweiflung man verstehen kann, darauf hinweisen, dass ein Ausblenden der russischen Literatur oder Kunst auch viele ukrainische Autoren unsichtbar macht, zudem, mit Ausnahme der Westukraine, teilweise das Land selbst. Auch dies kann nicht im Sinne der Slawistik sein."

In der FAZ erzählt der tschechische Autor Jaroslav Rudis von Diskussionen "in einer kleinen Kneipe im Böhmischen Paradies" über die Deutschen und den Ukrainekrieg: "'Im Westen haben sie keine Ahnung von dem Krieg. Keine Ahnung, was die Sowjets hier alles gemacht haben. In Liberec haben sie 1968 neun Leute auf dem Marktplatz erschossen, einen direkt im Eingang zum Ratskeller. Stell dir vor, du stehst vor der Kneipe, wo leider gerade auch ein russischer Panzer steht. Und dann bist du tot. Nichts hat sich geändert, gar nichts. Sie haben keine Ahnung, was die Sowjets in Polen angerichtet haben, als sie da gleich nach der Wehrmacht einmarschiert sind.'
'Deshalb nicht aufgeben. Prost.'"

Außerdem: Dlf Kultur dokumentiert die Diskussion zwischen Eva Menasse, Marjana Gaponenko, Svenja Flaßpöhler, Johano Strasser und Deniz Yücel im Schloss Friedenstein in Gotha. Gerrit Bartels fragt sich im Tsp, wie sich die negativen Kritiken zu Uwe Tellkamps "Der Schlaf in den Uhren" auf dessen Verkaufszahlen auswirken wird. Magnus Klaue beugt sich für ZeitOnline über das Comeback-Programm des wiederbelebten März-Verlags. Alexander Kluy sichtet für den Standard zum Großjubiläum des Vampirismus - 125 Jahre "Dracula, 100 Jahre "Murnau" und 150 Jahre Le Fanus "Carmilla" - diverse Neu- und Wiederveröffentlichungen.

Besprochen werden unter anderem die Werkausgabe der Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky (online nachgereicht von der Zeit), Imre Kertészs "'Heimweh nach dem Tod'. Arbeitstagebuch zum 'Roman eines Schicksallosen'" (online nachgereicht von der FAZ), Nicole Krauss' Erzählband "Ein Mann sein" (Tsp), Fiston Mwanza Mujilas "Tanz der Teufel" (taz), Lena-Marie Biertimpels "Luftpolster" (Standard), Andrei Platonows "Der makedonische Offizier" (NZZ), Rudi Nuss' "Die Realtiät kommt" (Tsp), Gregor Sanders "Lenin auf Schalke" (Intellectures) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Juri Johanssons und Stefanie Jeschkes "Von Schildflöten, Herdmännchen und Großmaulnashörnern" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Beate Tröger über Erika Burkarts "Vita":

"Fremdkörper geworden mir selbst,
erinnere ich, da war ich doch einmal
eins mit meinem Sehen und Hören,
..."
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Bühne

Schweinsein mit Jelinek.  Foto: Thomas Aurin / Schauspiel Frankfurt

Erschöpft, aber glücklich kommt FR-Kritikerin Judith von Sternburg aus einem großen Elfriede-Jelinek-Abend am Frankfurter Schauspiel, bei dem sich der Wortschwall gleich zweier Stücke über sie ergoss: "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!" und "Was ich sagen wollte". Es geht um die Pandemie, Ex-Kanzler Sebastian Kurz und das Schweinsein des Menschen: "Bachmann ist ein Jelinek-Spezialist, und man erlebt hier wieder, wie sagenhaft gut er sich in den vorliegenden Textkoloss, die vorliegenden Textkolosse eingegroovt hat, wenn man das einmal so sagen darf ... Er wirkt atem- und geradezu besinnungslos. Das Nachdenken (der Autorin, des Theaters) hat bereits stattgefunden - ein intensives Nachdenken, es wäre irre anzunehmen, das bräuchte es nicht für einen solchen Text -, dazu eine akribische Vorbereitung sondergleichen. Jetzt strömt es aus den Mündern heraus wie nichts, unablässig, aber nie stupide pulsierend, in musiktheaterhafter Qualität und Ausfeilung." In der FAZ gibt Hubert Spiegel zu, dass Bachmanns Inszenierung sehr durchdacht, geschlossen und konsequent ist, das Schauspieler-Ensemble ganz hervorragend: "Aber irgendetwas stimmt nicht. Das Publikum folgt dem Geschehen konzentriert, respektvoll, wirkt aber auch leicht belämmert."

In der SZ bilanziert Peter Laudenbach das Berliner Theatertreffen: Auch wenn ihm ökologische Symbolpolitik und Publikumserziehung etwas zu weit gehen, konnte sich die Auswahl sehen lassen, findet er. Und auf die seiner Ansicht nach optimistische, integre und diplomatische Leiterin Yvonne Büdenhölzer, deren 50-Prozent-Frauenquote das Theater zum Positiven verändert habe, lässt er gleich gar nichts kommen. In der taz befindet Katrin Bettina Müller vor allem nach den Stücken von Rimini Protokoll und Toshiki Okada, dass das postdramatische Theater keineswegs an Kraft verloren hat: "Seine Mittel taugen dann doch sehr gut, von den Herausforderungen und den Hilflosigkeiten der Gegenwart zu erzählen, dabei zu fesseln, zu unterhalten, emotional zu erfassen und die Gedanken aus eingefahrenen Bahnen auf ungesichertes Gelände zu bringen." Der Tagesspiegel bringt Valery Tscheplanowas Laudatio auf Samouil Stoyanov, der beim Theatertreffen mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis ausgezeichnet wurde.

Besprochen werden Nis-Momme Stockmanns Stück "Der unsichtbare Reaktor" am Staatstheater Nürnberg (Nachtkritik), Peter Konwitschnys "Walküre"-Inszenierung an der Oper Dortmund (SZ) und Franzobels "Schiffbruch der Fregatte Medusa" im Münchner Marstall (SZ).
Archiv: Bühne

Design

Das Diadem erfährt derzeit ein Comeback, beobachtet Olga Kronsteiner vom Standard, nachdem Anna Wintour bei der letzten Gala der Metropolitan Museum of Art in New York entsprechend geschmückt auftrat.

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Außerdem: In der Zeit feiert Tillmann Prüfer ein Comeback des Blazers: gern auch bauchfrei.
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Musik

Das Donaufestival und die Wiener Festwochen haben es versäumt, angemessen über Rassismus und Sexismus zu diskutieren, findet Stefan Weiss im Standard. Ebenfalls im Standard gratuliert Ronald Pohl dem Jazzer Franz Koglmann zum 75. Geburtstag.

Besprochen werden der Auftakt des Mozartfests Würzburg (FAZ), das neue Album von Kendrick Lamar (FAS), das Comeback-Album von Marius Müller-Westernhagen ("So richtig nach Alterswerk klingt das alles nicht", meint Juliane Liebert in der SZ), das Debütalbum der Hamburger Rapperin Finna (Tsp), das Debüt von Schmyt ("Singer-Songwriting auf Trap-Beats", findet Amira Ben Saoud im Standard), ein von Riccardo Muti dirigiertes Konzert im Wiener Musikverein (Standard), sowie Auftritte von Rammstein (taz), Jamie Cullum (NZZ), Marteria (Tsp) und des Duos Kanneh-Mason (Tsp).
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