Efeu - Die Kulturrundschau

Hey Leute! Das Theater hat wach und offen zu sein

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30.05.2022. In Cannes sind die Filmfestspiele mit einer Goldenen Palme für Ruben Östlunds Reichensatire "The Triangle of Sadness" zu Ende gegangen. FR, NZZ und Standard hätten feinsinnigere Filme bevorzugt, nur Artechock freut sich über diese Provokation des Publikums. In den Augen von FAZ und ZeitOnline ist Cannes alt geworden. In der Berliner Zeitung zieht Claus Peymann gegen Theaterintendanten zu Felde, die ihre Häuser führen wie Bankfilialleiter. Die taz lässt sich in die kosmischen Tiefen des Loop-Sounds fallen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.05.2022 finden Sie hier

Film

Gespaltene Abendgesellschaft, gespaltene Kritik: Ruben Östlunds "Triangle of Sadness"

Das Filmfestival in Cannes ist mit einer Goldenen Palme für Ruben Östlunds Reichensatire "The Triangle of Sadness" (unser Resümee) zu Ende gegangen. Schon 2017 hatte Östlund für seine Kunstbetriebssatire "The Square" (unsere Kritik) die Goldene Palme erhalten. FR-Kritiker Daniel Kothenschulte ist von dem neuen Film jedoch nicht so überzeugt: "Fraglos überaus unterhaltsam, ist die Farce doch deutlich gröber gestrickt als Östlunds Vorgängerfilm. ... Dabei gab es auch feinere, einfühlsamere und kunstvollere Arbeiten in diesem uneinheitlichen Wettbewerb, die schönste kam zuletzt - und ging leider leer aus", nämlich "Showing Up" von Kelly Reichardt. Der Film lässt "der Fantasie keinen Raum", bemängelt NZZ-Kritiker Patrick Straumann, einen "Film gewordenen Urschrei" erkennt SZ-Kritiker David Steinitz in dem Film.

Auch Dominik Kamalzadeh vom Standard findet den Gewinnerfilm allenfalls halb geglückt: "Östlunds großes Talent für luzide Analysen liberaler Scheinheiligkeiten blitzt in dieser Klassen-Groteske über die Marotten und Arroganz von Superreichen nur gelegentlich auf." Dem Regisseur war hier der Publikumserfolg offenbar "wichtiger als künstlerische Subtilität". Ganz anders Kamalzadehs leer ausgegangene Favoriten: Albert Serras "Pacifiction", Saeed Roustaees "Leila's Brothers" und Kelly Reichardts "Showing Up" waren allesamt "Filme, die mit Nuancierungen und originellen inhaltlichen Setzungen" überzeugten. Stimmt schon, in Östlunds Film herrscht kein Mangel an "Plattheiten mit viel Freude am Slapstick", doch auch diese kann taz-Kritiker Tim Caspar Boehme "als gelungen betrachten". Eher schwach fand er in diesem Jahr die Auftritte der Altmeister.

Sehr zufrieden ist Rüdiger Suchsland von Artechock mit der Entscheidung für Östlunds Film: "Ein Glücksgriff für das Festival, ein Geschenk für das Kino in Zeiten seiner existentiellen Krise: Indem er das Publikum spaltet, indem er provoziert, indem er dazu anregt, nach dem Film weiter zu debattieren, nachzudenken und ihn sich vielleicht gleich noch mal anzuschauen, um zu verstehen, was man da eigentlich genau gesehen hat, ist 'Triangle of Sadness' eigentlich ideales Autorenkino. Wir haben es nur ein bisschen verlernt, auf solche Filme angemessen zu reagieren und die Uneindeutigkeit die sie in uns hervorrufen, als Vorzug wertzuschätzen und zu begrüßen."

Cannes leidet an Überalterung, muss FAZ-Kritiker Andreas Kilb feststellen: Die besten Jahre hat man hinter sich, nun bleiben "die gerade noch guten. ... Diesmal lief kein einziger Debütfilm im Wettbewerb. Dafür stammten zwei Drittel der Beiträge von Regisseuren, die schon mindestens einmal einen der Hauptpreise gewonnen haben." Dem kann Anke Leweke auf ZeitOnline nur zustimmen: "Man fühlte sich seltsam unterfordert vom Geschehen auf den Leinwänden. Zu bequem hatten sich die renommierten Autorenfilmer, die Stammgäste von Cannes, in ihren Themen und Erzählweisen eingerichtet. Zu gediegen ihre Wettbewerbsbeiträge." Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek fühlte sich beim Festival genervt von Filmen, die ihre Gesinnung vor sich hertragen, während die "paar tolle Filme" dieses Jahrgangs gemein hatten, "dass sie politische Aussagen der Politik überließen".

Im SZ-Gespräch unterstreicht der ukrainische Filmemacher Sergei Loznitsa seine Fassungslosigkeit, aus der Ukrainischen Filmakademie geflogen zu sein, weil er einen Totalboykott russischer Kultur, der auch putinkritische Künstler trifft, nicht mittragen will. Mit ihm gesprochen habe man nicht. "Jemanden einfach ohne Diskussion rauszuschmeißen, weil einem seine Meinung nicht passt, das erinnert mich doch leider sehr an die Zensur zu Zeiten der Sowjetunion. Diese Leute sind immer noch im alten Denken erstarrt. Das sind Sowjet-Methoden."

Abseits der Croisette: Joachim Hentschel berichtet in der SZ von seinem Treffen mit Natja Brunckhorst, die als Hauptdarstellerin in "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" bekannt wurde und nun mit "Alles in bester Ordnung" ihr Debüt als Regisseurin gegeben hat. Besprochen werden Dominik Galizias Berliner Kneipenfilm "Heikos Welt" (taz), Icíar Bollaíns ETA-Drama "Maixabel" (Standard, unsere Kritik hier), der neue "Top Gun"-Film mit Tom Cruise (taz, unsere Kritik hier), Andreas Wilckes Doku "Volksvertreter" über die AfD (Tsp)  und die vierte Staffel der Netflix-Serie "Stranger Things" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Alexander Hetterle als Macbeth. Foto: Herwig Prammer/Landestheater Linz

Als rabenschwarze Lektion nimmt ein sehr beeindruckter Ronald Pohl im Standard den "Macbeth" in Heiner Müllers Überschreibung an den Linzer Kammerspielen auf: "Der inszenierende Schauspielintendant Stephan Suschke besitzt als hochverdienter Ex-Müller-Mitarbeiter alle Weihen der Authentizität. Der Dramatiker entwarf eben kein Stufenmodell von Klassenkämpfen, die einander nach Schema 'HM' (wie 'historischer Materialismus') ablösen sollen. Er legte einen beunruhigenden Kern bloß: Aus offenen Wunden quillt immer neues Blut. Ist die letzte, alles entscheidende Hemmschwelle erst überwunden, hindert nichts am Weitermetzeln. Man muss lediglich bereit sein, die moralische Deformation mit allen Folgeschäden zu akzeptieren. "

In einem tollen Interview mit Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung spricht Claus Peymann zu seinem 85. Geburtstag über seine romantische Liebe zum Berliner Ensemble, den Regisseur als Diener und opportunistische Theater von heute: "Statt sich in dieser schicksalhaften Situation nach der Pandemie aufzubäumen, wird Corona zur Ausrede für die schwachen Theaterdirektoren, die wie Bankfilialleiter agieren und immer schon genau festlegen, was sie in fünf Jahren machen werden. Ich wollte nicht mal wissen, was im nächsten halben Jahr gespielt wird, weil ich das Theater für ein aktuelles, lebendiges Medium halte, mit dem man reagieren kann. Das heutige Theater begreift nicht, dass es durchlässig sein müsste für die großen Bewegungen der Gegenwart. Ich erlebe das jetzt als freier Regisseur, da ich jemanden brauche, der mir vertraut und der zugreift, wenn ich mit meinen Ideen komme. Aber was ist? Die Herren und Damen schauen in ihren Terminplan und versprechen mir vage etwas für die überübernächste Spielzeit. Hey, Leute! Das Theater hat wach und offen zu sein. Stattdessen sichert ihr eure Karriere für die nächsten fünf Jahre und tötet die Kunst! Es gibt einen Intendanten im Ruhrgebiet, der ist kaum anwesend und interessiert sich gar nicht für sein Haus, bekommt aber ein Jahresgehalt von 350.000 Euro."

Weiteres: "Mailand zurückerobert" meldet der Standard nach Anna Netrebkos erstem Auftritt seit Kriegsbeginn in der Scala. Klangwelten des Dunklen und schattenhaft Sinnlichen erlebt NZZ-Kritiker Marco Frei beim Münchner Mai-festival, auch wenn er - ausgerechnet - die Opern "Bluthaus" und "Thomas" von Georg Friedrich Haas ungestörter von aktuellen Anfechtungen genossen hätte.

Besprochen werden Yael Ronens und Dimitrij Schaads Stück "Operation Mindfuck" (das Tsp-Kritikerin Christine Wahl als unsubtile "Gedankenvernebelungsgroteske" nur den Freunden des Hardcore-Humors empfehlen möchte, dümmlich findet Esther Slevogt in der Nachtkritik diesen "Kontextbrei"), die historischen Labyrinthgänge "Letzter Aufguss" des Wiener Kollektivs Darum in Leipzig (Nachtkritik) und die "Orlando"-Inszenierung bei den Händel-Festspielen in Halle (FAZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Grasen in Essen: Folke Köbberlings Schafe. Foto: Folkwang Museum

Sehr gelungen findet Alexander Menden in der SZ die Ausstellung "Folkwang und die Stadt", die mit zahlreichen Interventionen das Folkwang Museum zum hundertsten Geburtstag direkt in die Essener City Nord bringt: "Weiter östlich, in der sogenannten 'Grünen Mitte', grasen Schafe auf einer Weide - umgeben von einem Neubaugebiet, angrenzend an einen Spielplatz. Es ist ein Projekt der Künstlerin Folke Köbberling: Der mit Schafswolle überzogene Stall ist nicht nur ein aus der Zeit gefallener Fremdkörper, er soll auch auf den Verfall des Wertes dieser natürlichen Ressource hinweisen: Zwölf Cent pro Kilogramm bekommt man gerade noch für Rohwolle. Dass zwanzig Anwohner dafür gewonnen wurden, sich mit um die Schafe zu kümmern, lässt die Idee, ein wirkliches Gemeinschaftsprojekt zu erarbeiten, glaubwürdiger erscheinen, als es eine in sich abgeschlossene Installation wäre."

Weiteres: Sabina Paries fordert in der FAZ, an den Schulen mehr visuelle Kompetenz zu lehren, um Kinder gegen Instagram und TikTok zu feien. Im Guardian feiert Jonatha Jones eine große Edvard-Munch-Schau in der Courtauld Gallery in London.
Archiv: Kunst

Literatur

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hatte ins Hygiene-Museum in Dresden zur Frühjahrstagung geladen und um Positionen zum Krieg in der Ukraine gebeten. Zeitgleich fand auf der anderen Seite der Elbe eine Lesung mit Uwe Tellkamp in einer pegida-nahen Buchhandlung statt. Eine verpasste Chance, findet Andreas Platthaus in FAZ, den Schriftsteller mit seinem Kollegen Durs Grünbein wieder ins Gespräch zu bringen, nachdem die beiden sich vor vier Jahren ebenfalls in Dresden wirkmächtig in die Haare bekommen hatten. Der Coup eines solchen erneuten Aufeinandertreffens "hätte Tellkamps Mantra, dass man ihn wegen seiner Ansichten aus dem öffentlichen Diskurs ausgrenze, den Boden entzogen. ... Zwischen dem Kulturhaus Loschwitz und dem Hygienemuseum liegen die Elbe und fünf Kilometer - keine unüberwindliche Distanz. Aber der Zufall der Gleichzeitigkeit hat bei aller Wortgewandtheit unserer Schriftsteller einmal mehr die wechselseitige Sprachlosigkeit aufgezeigt, die auf beiden Seiten des deutschen gesellschaftlichen Spektrums herrscht." Warum die zahlreichen Rezensionen von Tellkamps neuem Roman und ein abendfüllender Porträtfilm über ihn auf 3sat in dem Schriftsteller immer noch nicht die Erkenntnis reifen lassen, aus dem Diskurs nicht ausgegrenzt zu sein, diese Frage stellt Platthaus allerdings nicht. In der SZ berichtet Miryam Schellbach von der Dresdner Tagung.

Außerdem: Der Standard spricht mit der US-Schriftstellerin Nell Zink über Vögel. Senta Wagner porträtiert für den Standard die Schriftstellerin Marie Gamillscheg. Roman Bucheli resümiert in der NZZ die Solothurner Literaturtage. In einer taz-Glosse malt sich Uli Hannemann aus, wie der Literaturbetrieb wohl in zehn Jahren aussehen wird. Besprochen wird unter anderem Katharina Hackers "Die Gäste" (FR).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Uwe Wittstock über Heiner Müllers "Zahnfäule in Paris":

"Etwas frißt an mir
..."
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Musik

Nach einer unwesentlichen Pause von 32 Jahren melden sich Loop mit einem neuen Album zurück, berichtet Martin Conrads in der taz. Manches darauf mag vielleicht "kosmisch-esoterisch wirken, tatsächlich aber entwickeln die repetitiven Schlagzeugpatterns und verzerrten Gitarrenriffs die gewohnte, schichtweise Tiefe des Loop-Sounds", obendrauf verbreite Sänger Robert Hampson auch weiterhin stoisch "die gewohnt dystopisch-düstere Stimmung." Die Band klinge auch 2022 "jenseitiger, als es Dreampop zulässt. Stilbewusst zitiert man aus dem eigenen Werk - und aus 60er-Psychedelik, 70er-Krautrock, und 90er-Postrock. Leider fehlt es dabei an horizonteinreißenden, so monumental wie dekonstruktivistisch klingenden Stücken wie 'Afterglow' und 'Be Here Now' von 1990. Auch wenn sich ein Song wie 'Isochrome' als Herzstück von 'Sonancy' hierbei alle Mühe gibt."



Weitere Artikel: Für die SZ porträtiert Reinhard J. Brembeck den aufstrebenden Tenor Pene Pati. Volkan Ağar erinnert in der taz an das vor zehn Jahren erschiene Debütalbum "Hinterhofjargon" des Rap-Duos Celo & Abidi. Kai Müller berichtet im Tagesspiegel von der Verleihung des Soundcheck Awards an The Notwist. Detlef Diederichsen schreibt in der taz zum Tod des irischen Songwriters Cathal Coughlan.

Besprochen werden ein Abend mit Marina Herlop, Space Afrika und Moor Mother an der Berliner Volksbühne (taz), ein Konzert von Casper, Kraftklub und K.I.Z. (Tsp), eine Aufnahme der beiden "Magnificat"-Vertonungen von Johann Sebastian Bach und dessen Sohn Carl Philipp Emanuel durch die Gaechinger Cantorey unter Hans-Christoph Rademann (FAZ) und das neue Album von Erdmöbel (FAZ). Wir hören rein:

Archiv: Musik