Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Sprengmeister am Werk

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31.05.2022. Die Welt bewundert in Stuttgart die nachdenkliche Eleganz der Carrie Mae Weems. Die FAZ entdeckt in Oskar Zwintscher den sächsischen Klimt. Die NZZ würdigt den verstorbenen slowenischen Dichter Boris Pahor als Verteidiger einer nicht geduldeten Wahrheit. Auf ZeitOnline erklärt Regisseur und Cannes-Gewinner Ruben Östlund, wie Marx ihn davor feit, die Welt in Gut und Böse einzuteilen, selbst wenn es um Superreiche geht. Die SZ feiert die explosive Kraft im Blues von Albert Ayler und Mary Parks.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.05.2022 finden Sie hier

Kunst

Carrie Mae Weems: Woman playing solitaire / kitchen table. Bild: Württembergischer Kunstverein Stuttgart

Völlig umgehauen ist Welt-Kritiker Hans-Joachim Müller im Kunstverein Stuttgart vom Werk der amerikanischen Künstlerin Carrie Mae Weems, die mit ihren konzentrierten Bildarrangements über schwarze Identität nachdenkt und dabei beharrlich unterhalb des Kanzeltons der Anklage bleibt, wie Müller meint: "Nichts ist spontan, nichts, was nicht genau überlegt, präzise arrangiert, nach minutiösem Skript Bild geworden ist. Das Wort 'Haltung' gewinnt hier noch einmal den alten Mitsinn einer Gefasstheit, die die Wut und Empörung über das rassistische Unrecht nicht anders als mit Bedachtheit begleitet. Dokumentation ist nicht versprochen. Wer sich nicht auf die inszenierende Argumentationsweise der Künstlerin einlassen mag, ist möglicherweise für Carrie Mae West verloren. Ihr ganzes Werk ist zugleich strikte Form, die die Dinge auf nachdenklichem Abstand hält. Es liegt im Aufbegehren eine Vornehmheit und Eleganz, die fast ebenso erschreckt wie das terroristische Thema, das in der ganz ohne Führungslinie eingerichteten Ausstellung immer neu angestimmt wird. So fehlt den Arbeiten auch die Unerbittlichkeit der 'cancel culture', die Gnadenlosigkeit, mit der die Kulturgeschichte als weiße Triumphspur umgeschrieben werden soll. Es ist gar nicht so sicher, ob die radikalen Eliten eines 'schwarzen visuellen Denkens' im nachdenklichen Design dieser Arbeiten nicht schon wieder Verrat an der eigenen Sache entdecken."

Oskar Zwintscher: Bildnis einer Dame mit Zigarette, 1904. Bild: Albertinum Dresden

Als Entdeckung feiert Stefan Trinks in der FAZ den Fin-de-siècle-Maler Oskar Zwintscher, dem das Dresdner Albertinum eine große Ausstellung widmet: "Malerisch kann Zwintscher allemal mit den Symbolisten Böcklin, Hodler und Klimt mithalten. Sein Dresdner 'Bildnis einer Dame mit Zigarette' von 1904 ist eine Ikone der selbstbewussten Frau, die in der Lebensreformbewegung und im Jugendstil eine völlig neue Wahrnehmung erfuhr. Die frontal uns gegenübersitzende Rothaarige mit den großen grünen Augen lässt sich vom Betrachter nicht begaffen, sie hält dem Blick mühelos stand - dem Gesichtsausdruck nach zu schließen auch intellektuell." Und so lässig!

Weiteres: In der Ausstellung "1929/1955", mit der das Zentrum für verfolgte Künste in Solingen die erste Documenta von 1955 mit der Vierten Großen Kunstausstellung von 1929 verknüpft, erkennt taz-Kritikerin Julia Hubernagel, wie verkorkst die Aufarbeitung bleibt. In der SZ meldet Alexander Menden, dass Lovis Corinths Gemälde "Blumenstillleben mit Flieder und Anemonen" in den Düsseldorfer Kunstpalast zurückkehrt. In der NZZ beschwert sich Philipp Meier, dass ihm bisher niemand klar machte, wie lange die Kunstgeschichte Gewalt an Frauen ästhetisierte, etwa mit dem Raub der Sabinerinnen: "Wir bewundern die Virtuosität solcher Kompositionen, hinterfragen aber kaum je, was sie zum Gegenstand haben. Diese Gleichgültigkeit muss mit dem blinden Fleck im Auge ihrer Urheber zusammenhängen." (Wir empfehlen den Blick auf andere Disziplinen und Ruth Klügers "Frauen lesen anders").
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Literatur

Der slowenische, aus Triest stammende Schriftsteller und KZ-Überlebende Boris Pahor ist im Alter von 108 Jahren gestorben. Den Erfahrungen seiner "Odyssee zwischen verschiedenen Konzentrationslagern" verschaffte er in den späten Sechzigern mit "Nekropolis" literarischen Ausdruck, erinnert Jörg Plath in der NZZ. Weltweit Anerkennung fand er jedoch erst in den Achtzigern. "Als Autor einer Minderheit blieb er in Italien praktisch unbekannt, und in Slowenien war er verfemt als Vertreter einer nicht geduldeten Wahrheit: Pahor setzte sich für Edvard Kocbek ein, der 1951 in seiner Novellensammlung 'Furcht und Mut' die Massenmorde an Partisanen nach 1945 kritisierte, daraufhin sein Amt als jugoslawischer Minister für Slowenien verlor und ein elfjähriges Publikationsverbot erhielt."

Pahor "hat in seinem langen Leben gegen den grausamen und engstirnigen Nationalismus gekämpft, von dem der heimatliche Landstrich bis in die siebziger Jahre geprägt war", würdigt Paul Jandl den Verstorbenen in der Welt. Das Werk von Boris Pahor steht neben dem von Primo Levi, Imre Kertész und Ruth Klüger, und es erinnert daran, dass neben der Ermordung von Millionen Juden auch die Verfolgung politisch Andersdenkender und Widerständler zu den großen Verbrechen der NS-Zeit gehört." Weitere Nachrufe schreiben Martin Reichert (taz) und Andreas Platthaus (FAZ).

Der russische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky war zwar leidenschaftlicher Dissident, schreibt Hans Christoph Buch in der NZZ, aber zu einem Freund der Ukraine machte ihn das noch nicht. Brodskys Gedicht "Auf die Unabhängigkeit der Ukraine" bestehe "nur aus idiomatischen Redensarten und Schimpfwörtern, die Russen und Ukrainer einander um die Ohren hauen." Woran lagen diese Vorbehalte? Als Jude waren Brodsky "die antisemitischen Pogrome der sogenannten 'Schwarzhundert' in frischer Erinnerung, ähnlich wie die Tatsache, dass Ukrainer sich für das ihnen angetane Unrecht an Juden rächten und im KZ wie auch im Gulag von Opfern zu Tätern wurden. ... Dass heute ein jüdischer Komödiant die Gegenwehr der Ukraine gegen Russlands hochgerüstete Armee anführt, hätte Brodsky sich in den kühnsten Träumen nicht ausgemalt."

Weitere Artikel: Sabine Scholl erinnert im Standard an die Schriftstellerin Elfriede Gerstl, die im Juni 90 Jahre alt geworden wäre. Und: Die Jury der Stiftung Buchkultur hat Stephan Malinowskis Studie "Die Hohenzollern und die Nazis" zum Sachbuch des Jahres gekürt.

Besprochen werden unter anderem Steinunn Sigurdardottirs Gedichtband "Nachtdämmern" (NZZ), Derek Penslars Biografie über Theodor Herzl (taz), Szczepan Twardochs "Demut" (SZ), Catherine Meurisses Comic "Nami und das Meer" (Tsp), Dieter Bachmanns Essaysammlung "Archipel" (NZZ), Gerhard Roths "Die Imker" (Standard), Bodo V. Hechelhammers Biografie über den Comicverleger Rolf Kauka (online nachgereicht von der FAZ), Andrea Sawatzkis "Brunnenstraße" (FR) und Anna Yeliz Schentkes Debüt "Kangal" (FAZ).
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Film

Für ZeitOnline unterhält sich Patrick Heidmann mit Ruben Östlund, dessen Film "Triangle of Sadness" eben in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde (unser Resümee). Unter anderem erklärt Östlund, warum er seine Kritik an den Superreichen, den Influencern und dem Modelbetrieb nicht einfach als Film über die Modebranche konzipiert, sondern seinen Film als Triptychon angelegt hat: "Weil ich etwas vermeiden wollte, was meiner Meinung heutzutage viel zu sehr an der Tagesordnung ist. Nämlich der Versuch, die Welt anhand des Verhaltens einzelner Individuen zu erklären. Wir sind geradezu besessen davon, dass es die Guten und Bösen gibt, doch mir ging es mehr um einen soziologischen Ansatz. Marx ist einer der Begründer der Soziologie und viele seiner Wirtschaftstheorien darüber, wie unsere Position innerhalb ökonomischer Strukturen unser Verhalten beeinflusst, haben mich bei 'Triangle of Sadness' sehr inspiriert. Gerade weil die Linke heutzutage Marx vergessen zu haben scheint und sowohl die Politikerinnen und Politiker als auch die Wählerinnen und Wähler sich fast nur noch auf diese Gut-Böse-Einteilung versteifen."

Thomas Abeltshauser resümiert im Freitag die Filmfestspiele in Cannes, deren Wettbewerb er allenfalls mittelprächtig fand. Insbesondere die Nebenreihen boten Entdeckungen: "Joao Pedro Rodrigues queere Musicalkomödie 'Fogo-fátuo' etwa, die Portugals Kolonialvergangenheit und schwule Fantasien über Feuerwehrmänner verzahnt. Oder Lola Quiverons hochtouriges Bikerdrama 'Rodéo' über eine nonbinäre Teenager-Rebellin. Oder die schillernd verwobene Dreiecksgeschichte 'Le bleue du caftan' der Marokkanerin Maryam Touzani über einen Kaftanschneider in der Medina von Salé, seine schwerkranke Frau und die lange unterdrückte Zuneigung zu seinem jungen Lehrling."

Außerdem: Karin Janker berichtet in der SZ von ihrer Begegnung mit Maixabel Lasa, über die die Filmemacherin Icíar Bollaín gerade einen Film gedreht hat (unsere Kritik). Besprochen werden James Bennings Essayfilm "The United States of America" (taz), Jonas Poher Rasmussens oscarnominierter Animationsfilm "Flee" über eine Flucht aus Afghanistan (Freitag, ZeitOnline), die neue "Star Wars"-Serie "Obi-Wan Kenobi" (FAZ) und die Sky-Serie "Tschugger" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Florentina Holzinger "Étude for Disappearing", Komposition für acht Körper, fünf Harfen und ein Auto, auf dem Parkplatz der Gallus Druckerei, Berlin. Foto: Silke Briel, © Schinkel Pavillon and the Artist


Ganz hingerissen ist SZ-Kritikerin Johanna Adorjan von Florentina Holzingers Hardcore-Performance "Étude für Disappearing", nicht zuletzt weil hier das Berliner Publikum ein bisschen mehr Style zeigt als gewohnt, aber auch weil das Ensemble nackter Frauen so selbstverständlich erscheint, selbst wenn es sich prügelt: "Ein fast heiliger Ernst geht von dem Spektakel aus, das von Sound hart untermalt wird. Man hört die Schläge, sieht Körper in Aktion und Reaktion, nach und nach färbt (Theater)-Blut die weißen Matten rot. Es ist brutal und lyrisch zugleich, eine Mischung, die so wohl nur Holzinger hinbekommt, die mit einfachsten Mitteln geradezu opernhafte Stimmungen erzeugen kann." Birgit Rieger unterhält sich im Tagesspiegel mit den Veranstalterinnen von "Disappearing Berlin", in deren Reihe die Performance stattfand.

Besprochen werden Händels Oratorium "Il trionfo del Tempo e del Disinganno" in Mainz (FR), Stücke beim Theatertreffen der Jugend (Nachtkritik) und eine Ausstellung über die freie Szene im Deutschen Theatermuseum in München (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

SZ-Jazzkritiker Andrian Kreye im Glück: Erstmals lassen sich die Aufnahmen der gemeinsamen Konzerte von Albert Ayler und Mary Parks im südfranzösischen Museum der Fondation Maeght aus dem Juli 1970 in voller Länge nachvollziehen. Mitunter erlebt man hier nun, "welche explosive Kraft Albert Ayler auf dem Tenorsaxofon entwickelte", wenn "er sich aus seinen trügerisch schlichten Motiven in Ekstasen spielte, die John Coltrane damals als Vorbild dienten, die Bahnen des Jazz und der westlichen Musik zu verlassen. Das ist nicht mehr der Free Jazz der kollektiven Improvisation. Da ist ein Sprengmeister am Werk, der dem Blues und dem Gospel ganz neue Kräfte verleiht. Was man nicht wusste - Parks konnte auf dem Sopransaxofon durchaus mithalten. Auf den ersten Veröffentlichungen dieser Konzerte, die ein paar Jahre später erschienen, hatten sie die Passagen mit ihr weitgehend ausgelassen. Dass da eine Dimension fehlte, wird jetzt deutlich." Auch Pitchfork-Kritiker Marc Masters (hier) und Lee Rice Epstein vom Free Jazz Collective (dort) gehen vor dieser Veröffentlichung auf die Knie.



Auch wenn es in Madrid und Paris Jubel für Anna Netrebkos "Comeback" nach der kurzen Ukraine-Kontroverse gegeben hat und dies manche wohl als "Bestätigung der eigenen, nun wieder 'kunstautonomen' Vorgangsweise erleben", so "bleibt allerdings Teil der Geschichte von Anna Netrebko, von Wladimir Putin für die Behübschung seiner Politik eingespannt worden zu sein", merkt Ljubiša Tošic im Standard an.

Axel Brüggemann resümiert auf Twitter eine Recherche über Teodor Currentzis, die er bei Cicero (hinter Zahlschranke) veröffentlicht hat. Es geht um die Frage, wie Putin-nah Currentzis eigentlich ist. Bis 2020, war er regimekritisch, schreibt Brüggemann, aber dann bekam er einen schönen Saal in Petersburg und schöne Vorstandsleute für sein Ensemble musicAeterna:

Außerdem: Ueli Bernays porträtiert für die NZZ den Schweizer Sänger und Komiker Manuel Stahlberger. Artur Weigandt wirft für die Welt einen Blick nach Österreich, wo darüber diskutiert wird, ob der vor wenigen Jahren noch sehr gefeierte Rapper Yung Hurn nicht vielleicht doch zu sexistische Texte hat. Für die NMZ unternimmt Anja-Rosa Thöming einen Streifzug durch Komponisten-Websites im Netz. Edo Reents schreibt in der FAZ einen Nachruf auf RonnieHawkins.

Besprochen werden ein Rammstein-Konzert in Zürich (NZZ), ein Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters unter Christian Schumann mit Filmarbeiten von John Williams, Franz Waxman und Erich Wolfgang Korngold (Tsp), ein Konzert des Frankfurter Museumsorchesters (FR), Liam Gallaghers Solo-Album "C'Mon You Know" (Standard) und die Debüt-EPs der österreichischen Popmusikerinnen Resi Reiner und Rahel (Tsp).

Archiv: Musik