Efeu - Die Kulturrundschau

Die Betonung ziviler Standards

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01.06.2022. Friedrich Christian Delius ist tot. Die Feuilletons trauern um den Intellektuellen, Mentalitätshistoriker und sensiblen Stilisten. Die SZ widmet sich auf zwei Seiten dem eskalierenden Streit um die Documenta. Die Nachtkritik lernt bei den Wiener Festwochen, wie Glockenläuten einen Sturm beenden kann. Die Jungle World erzählt die Geschichte des kollektiv organisierten Avantgarde-Labels Free Music Production.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.06.2022 finden Sie hier

Literatur

F.C. Delius, 1992 (Foto: Otto Stender, CC BY-SA 4.0)

Eben hat er nach der Schlammschlacht von Gotha noch seinen Austritt aus dem deutschen PEN-Zentrum verkündet (unser Resümee), nun ist Friedrich Christian Delius gestorben. Gruppe 47, Lektor bei Klaus Wagenbach und bei Rotbuch, stete Präsenz im Betrieb, nicht zuletzt der Büchner-Preis: "Was für ein Leben, was für eine literarische Karriere", ruft Tilman Krause in der Welt: Mit dem Schriftsteller geht auch ein Stück alte BRD von der Bühne. Jedenfalls werden sich beim zukünftigen Blick "auf die geistigen Strömungen von den Sechzigerjahren bis heute wenige Figuren auf dem Feld der Literatur finden, an denen so wie am umfangreichen, vielgestaltigen Werk des Friedrich Christian Delius ablesbar ist, was hierzulande einmal gedacht und diskutiert worden ist." Doch seine "Intellektualität hatte nie etwas Einschüchterndes oder gar Doktrinäres", auch "ein gewisser Alterskonservatismus und die Betonung ziviler Standards lassen sich in seinen späten Texten nicht übersehen".

Seine Bücher "begleiten den Gang der deutschen Geschichte von der Studentenrevolte bis zur Gegenwart", schreibt Thomas Steinfeld in der SZ. Auch tazler Dirk Knipphals erblickt in Delius' Schaffen "eine eindringliche Mentalitätsgeschichte Deutschlands", die sich auf bloße Themenromane allerdings nicht beschränken lässt. "Schön an ihnen ist vielmehr immer wieder, wenn in ihnen aufblitzt, was F. C. Delius vor allen ideologischen Verhärtungen bewahren konnte: der Jazz etwa, dem er noch 2018 in 'Die Zukunft der Schönheit' ein Denkmal setzte, und das spöttische Lachen." Andreas Platthaus würdigt in der FAZ Delius' "Sprachsensibilität, die in Büchern Ausdruck fand, die zum stilistisch Schönsten gehören, was die deutsche Gegenwartsliteratur hervorgebracht hat". Doch "als opulenter Stoffauftürmer und praller Geschichtenerzähler verstand er sich nicht", fügt Gerrit Bartels im Tagesspiegel hinzu, der Delius' dokumentarischen Ansatz hervorkehrt. "Er gehörte zu den Stillen im deutschen Literaturbetrieb", schreibt Cornelia Geißler in der FR, nicht ohne an die politischen Auseinandersetzungen zu erinnern, die F.C. Delius durchaus und auch in seinen Büchern ausfechten konnte.

ZeitOnline hat ein episches Interview mit Don Winslow geführt, der mit "City on Fire" gerade einen Roman über die Geschichte der Mafia in seinem Heimatort Providence vorgelegt hat. "Ich war bereit, nach Hause zu gehen, sowohl in einem physischen als auch in einem literarischen Sinne. Und ich brauchte die Realität der Mafia-Kriege, das passte perfekt zu diesem Ort. Providence ist klein. Wenn man über die Mafia in New York oder Chicago schreibt, kennt wahrscheinlich nicht jeder jeden. In Rhode Island kennt jeder jeden. Man hat diese intimen Beziehungen, Freundschaften, Ehen. ... Es gab bestimmte Orte, von denen man wusste, dass sie 'mobbed up' waren, wo es also nichts als Mafia gab. Das war einem als Kind sehr bewusst. ... Ich erinnere mich, dass ich damals, als ich wegging, dachte, dass wir alle doch schon besiegt waren. Wir waren nicht nur an die Korruption der Mafia gewöhnt, sondern auch an die Korruption der Polizei. Die Polizisten in unserer Stadt gehörten zu den größten Drogenhändlern."

Weitere Artikel: Auf 54books erinnert Nicole Seifert an die Schriftstellerin Ruth Rehmann, die heute 100 Jahre alt geworden wäre. Nils Minkmar porträtiert in der SZ die Schrifstellerin Alice Zeniter. Hans-Christian Rößler berichtet in der FAZ von der Buchmesse in Madrid. Die NZZ dokumentiert Norbert Gstreins Dankesrede zur Auszeichnung mit dem Thomas-Mann-Preis.

Besprochen werden unter anderem Delphine de Vigans "Die Kinder sind Könige" (taz), Donna Leons Krimi "Milde Gaben" (BLZ), Ken Kalmus "2 a.m. in Little America" (Welt), Bonnie Garmus' "Eine Frage der Chemie" (Tsp), Richard Schuberths "Lord Byrons letzte Fahrt" (Freitag) und Christian Lehnerts Gedichtband "Opus 8" (FAZ).
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Kunst

Zwei Seiten widmet die SZ dem eskalierenden Streit um die Documenta, die in zwei Wochen eröffnen soll. Der Historiker Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, wirft Zeit und FAZ vor, ungeprüft Behauptungen eines "obskuren Blogs" übernommen zu haben, womit er das Kasseler Bündnis gegen Antisemitismus meint. Dabei seien dessen Vorwürfe gegen das palästinensische Kollektiv Questing of Finding unhaltbar, meint Loewy, der palästinensische Reformpädagoge Khalil Sakakini, nach dem ihr Zentrum benannt sei, sei alles andere als ein Nazi-Freund gewesen. Loewy schließt: "Es muss darüber geredet werden, wo postkoloniale Bewegungen legitime Perspektivenwechsel einfordern, und wo sie selbst in die Falle kulturalistischer, verschwörungstheoretischer und auch antisemitischer Muster treten. Und es muss darüber geredet werden, wo der 'Kampf gegen Antisemitismus' nur die Abwehr von legitimen Ansprüchen auf Anerkennung munitionieren soll. So wie der pauschale Rassismusvorwurf gegen Israel und alle Israelis oft genug eine Deckadresse für antisemitische Ressentiments ist, so ist auch der pauschale Antisemitismusvorwurf gegen jeden, der auch Zweifel daran hat, dass Israel als ethnisch exklusiv-jüdischer Staat eine gute Zukunft hat."

Der deutsch-israelische Künstler Leon Kahane will in einem zweiten Text in der SZ diese Verschiebung im Diskurs nicht mitmachen. Der Antisemitismus sei das Problem, nicht eine vermeintliche Gefährdung der Kunstfreiheit: "Als ungerechtfertigt wahrgenommene Antisemitismusvorwürfe scheinen im heutigen Deutschland schwerer zu wiegen, als Antisemitismus selbst. Wer würde sich nach der Shoah überhaupt noch selbst zum Antisemitismus bekennen? Kaum jemand - aber das deckt sich nicht mit den statistischen Erhebungen zu antisemitischen Einstellungen in Deutschland."

SZ-Kunstkritikerin Catrin Lorch beklagt den neuen Rigorismus in der Debatte, an dem die Kunst und auch die Documenta selbst allerdings nicht ganz unschuldig seien: "Die aktuelle Documenta versucht sich erneut an einer Verschiebung der Grenzen der Ästhetik: hin zum Aktivismus. Deswegen hat man vor allem NGOs, Kollektive und Gruppierungen eingeladen, die sich als politisch und aktivistisch verstehen. Doch die gegenwärtige Skandalisierung hat weniger mit einer Debatte zu tun, denn mit einer öffentlichen Gesinnungsprüfung. Man fühlt sich erinnert an die nach Joseph McCarthy benannte Ära in den USA. Da genügte es, in den Verdacht zu geraten, mit dem Kommunismus zu sympathisieren, um geächtet zu werden - mit heftigen Folgen vor allem für Kulturschaffende. Berichten aus Kunstvereinen und Museen zufolge verbringen Praktikanten dort ihre Zeit heute zu einem guten Teil damit, die Social-Media-Accounts der geladenen Künstler oder Theoretiker rückwirkend zu durchforsten. Nach Likes an falschen Stellen und nach potenziell belastenden Aussagen." Die Berliner Zeitung meldet, dass die Räume der Documenta erneut mit rechtsradikalen Graffitis beschmiert wurden.

Außerdem: Im Standard begutachtet Wojciech Czaja das neue "vanillesaucengelbe" Museum in Wien, in dem Milliardärin Heidi Horten ihre Kunstsammlung zeigt. In der NZZ weiß Philipp Meier zu schätzen, dass sie das opportunistische Geschäftsgebaren ihres Mannes aufarbeiten ließ, der unter den Nazis sein Kaufhausimperien aufbauen konnte.
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Bühne

We Had a lot of Bells. Foto: Matthias Heschl/Wiener Festwochen

Nachtkritikerin Gabi Hift nimmt es dem Theatermacher und Musiker Damien Rebgetz nicht ganz ab, wenn er behauptet, ganz und gar unsentimental zu sein. Trotzdem gefällt ihr sein mild ironischer Abend "We had a lot of bells" bei den Wiener Festwochen: "Man erfährt allerlei über die Sprache der Glocke. Zum Beispiel, wie bei verschiedenen Anlässen geläutet wurde: bei der Geburt eines ehelichen Jungen, bei der eines ehelichen Mädchens (kürzer, höher), wenn eine gestorben ist, bei Hochzeiten, beim Angelusläuten, bei Gefahr. Nur bei Selbstmördern und bei unehelichen Geburten blieben die Glocken stumm. Und man lernt, wodurch über Stunden anhaltendes Glockenläuten einen Sturm beenden kann: Das Läuten rührt die Luft um."

Besprochen werden Yael Ronens und Dimitrij Schaads neues Stück "Operation Mindfuck" am Gorki Theater Berlin (taz) und Marco Pogos Kabarett "Gschichtldrucker" (Standard).
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Film

Im Standard spricht die Schauspielerin Renate Reinsve über ihre Rolle in Joachim Triers "The Worst Person in the World", wo sie eine junge Frau spielt, die ihr (Beziehungs-)Leben nur halb sortiert bekommt. In der Welt spricht die Schauspielerin Natja Brunckhorst, die als Christiane F. bekannt wurde, über ihr Regiedebüt "Alles in bester Ordnung". Besprochen werden die Arte-Serie "Europa. Kontinent im Umbruch" (ZeitOnline), die WDR-Serie "Hype" (taz) und die Amazon-Serie "Outer Range" (BLZ).
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Musik

Holger Pauler erzählt in der Jungle World die Geschichte von Jost Gebers jahrzehntelang wirkmächtigem Avantgarde-Label Free Music Production, über das Markus Müller gerade auch ein Buch herausgegeben hat. Erzählt wird darin, wie Musiker sich kollektiv organisieren, um ihr Ideal totaler künstlerischer Freiheit zu verwirklichen. "Zur Vorgeschichte der Musikerinitiative gehört ein Streit vor den Berliner Jazztagen (die sich 1980 in Jazzfest Berlin umbenannten). Brötzmann sollte mit seiner Gruppe 1968 dort auftreten, und zwar, wie es die damalige Kleiderordnung des Festivals vorsah, im dunklen Anzug. Als er sich weigerte, schriftlich zu versichern, dass er und seine Mitspieler korrekt gekleidet auf die Bühne kommen würden, wurden sie ausgeladen. Als Jost Gebers davon erfuhr, entschloss er sich, alternative Auftrittsmöglichkeiten zu schaffen." Auf Bandcamp kann man in den Katalog des Labels reinhören.

Außerdem: Jan Brachmann berichtet in der FAZ von den Festspielen in Bergen. In der FAZ gratuliert Philipp Krohn dem früheren Kraftwerk-Mitglied Karl Bartos zum 70. Geburtstag. Pitchfork listet außerdem auf, auf welche Alben wir uns in diesem Sommer freuen können.

Besprochen werden das neue Album von Liam Gallagher (ZeitOnline), die holografische Abba-Revue in London (FAZ, mehr dazu bereits hier) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album von Jacques Palmingers Band Kings of Dubrock (SZ-Popkolumnist Max Fellmann fühlt sich beim Hören "irgendwann eigenartig leicht, der banalen Logik des Alltags enthoben"). Wir hören rein:

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