Efeu - Die Kulturrundschau

Es geht darum, die Sonne einzufangen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.06.2022. Intellectures schwelgt in der Kunsthalle St. Annen in den dezidiert weiblichen Perspektiven von Modefotografinnen. John Waters erklärt in der LA Times, was ihm die größten Sorgen bei seinem Debütroman bereitet. "Fünfzig Prozent sind das neue Ausverkauft", spottet der Standard und erwartet neue Strategien von den Bühnen. Im Interview mit monopol erklären die Künstlerinnen Sung Tieu, Marianna Simnett und Verena Issel ihre Vorstellungen von fairen Strukturen in der Kunstwelt. Zeit online freut sich über die neuen Folgen von "Borgen".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.06.2022 finden Sie hier

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Schon Pläne fürs 9-Euro-Ticket? Thomas Hummitzsch vom Intellectures-Blog rät jedenfalls zur Fahrt nach Lübeck. Noch bis Anfang Juli ist dort in der Kunsthalle St. Annen die Ausstellung "Female View" über Modefotografinnen zu sehen, auf die wir hier schon hingewiesen hatten. "Es geht den Macher:innen der Schau darum, dezidiert weibliche Perspektiven zu versammeln, die in einem Modell mehr sehen als eine hübsche Kleiderstange. Die in der Schau versammelten Bilder sind auch Ausdruck einer Art empathischen Zuwendung der Fotografierenden zu den Fotografierten. Die Modefotografie von Frauen ist oft auch ein gesellschaftspolitisches Abbild der Zeit." Etwa "mit den Fotografien von Madame D'Ora, Lillian Bassman und Louise Dahl-Wolfe geht die Modefotografie auf die Straße. Ob königliche Gärten oder städtische Panoramen - die Modefotografie sucht die Wirklichkeit und lässt die artifizielle Umgebung der Studios hinter sich. Das wird auf den Bildern von Charlotte March und Alice Springs, aber auch im fotografischen Werk von OSTKREUZ-Pionierin Ute Mahler deutlich. Sie holen in den Siebzigern die Frau raus aus der Enge von Haushalt und Fürsorge und geben der selbstbewussten Frau die Bühne."
Archiv: Design

Literatur

Mit "Liarmouth: A Feel-Bad Romance" hat der Trashfilmer, Kunstsachverständige und Buchautor John Waters seinen ersten Roman veröffentlicht. Im Porträt in der Los Angeles Times gibt er sich wie gewohnt kantig, aber herzig. Ursprünglich sollte der Stoff ein Film werden. Doch "nicht nur gestattete der Roman es ihm, die schwierigeren Aspekte des Filmemachens zu umschiffen - 'Ich musste mich weder ums Budget, noch um die Filmeinstufung der MPAA kümmern' -, sondern ließ ihn auch tiefer in die Verkommenheit seiner Figuren eintauchen. Natürlich haben auch Romane ihre Grenzen, insbesondere im Zeitalter von Sensitivity-Lesern. 'Wir haben ihn einer zukommen lassen, aber sie rief nie zurück', ulkt Waters. 'Wir haben keine Ahnung, was mit ihr geschehen ist. Ist sie tot umgefallen? Hat sie ihren Job an den Nagel gehängt?' Aber ernsthaft: Waters hat das Buch von drei Frauen gegenlesen lassen und hier und da etwas geändert. Auch wenn er nicht gerade meint, es sei die Aufgabe eines Künstlers, sich darüber zu sorgen, Leute vor den Kopf zu stoßen. 'Ich sorge mich darüber, dass sie nicht lachen. Aber um ihre Sensibilitäten habe ich keine Bedenken.'"

Besprochen werden Don Winslows "City on Fire" (Dlf Kultur), eine Ausgabe von Tove Janssons Comicklassiker "Mumin und der Weltuntergang" (Tsp), ein Porträtfilm von Erich Schmid über Adolf Muschg (NZZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Alina Bronskys "Schallplattensommer" (SZ). Außerdem kürt Dlf Kultur die besten Krimis des Monats.

Und in der FAZ schreibt Durs Grünbein ein Gedicht über sein Geburtsjahr 1962:

"Das war das Jahr der Oktoberkrise,
der Härtetest
für die Kalten Krieger in Ost und West,
..."
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Film

Sidse Babett Knudsen in der vierten Staffel von "Borgen" (Netflix)

Netflix sei Dank: "Borgen" ist wieder da, jubelt Carolin Ströbele auf ZeitOnline. Seit neun Jahren lag die einst für den dänischen Sender DR1 produzierte, international gefeierte Serie auf Eis. Die Polit-Serie erweist sich in ihrem Comeback, das von einem massiven Erdölfund in Grönland handelt, als "so aktuell wie nie. Sie führt im Grunde alle aktuellen politischen Themen in einem Strang zusammen: die Klimakrise, die Energiefrage, das Machtspiel zwischen Russland, China und den USA. ... All diese Großmachtinteressen spinnt der Serienschöpfer Adam Price kunstvoll um seine Königin Birgitte Nyborg herum. Wie eine Kampfkünstlerin lässt er sie einen Angriff nach dem anderen parieren. Einmal ist sie elegant und wendig, lässt ihre Gegner ins Leere laufen, ein anderes Mal unbeweglich wie ein Bollwerk. Wäre Nyborg ein Mann, würde man sagen, sie sei ein Homo politicus, vollkommen fokussiert auf ihre Leidenschaft für Politik, für Kommunikation, für den Kampf um Mehrheiten. Doch der Terminus existiert nicht in der weiblichen Version."

Außerdem: Marc Hairapetian spricht in der FR mit Felix Florian Werner, dem Sohn von Oskar Werner, dem das Filmarchiv Austria in Wien derzeit eine große Ausstellung widmet, deren größten Attraktionen Hairapetian an dieser Stelle präsentiert. In einer ZeitOnline-Glosse denkt Daniel Gerhardt über die Ästhetik direkter Ansprachen von Hollywoodstars an ihre Fans nach.

Besprochen werden die vierte Staffel von "Stranger Things" (Freitag) und Julian Radlmaiers marxistische Vampirkomödie "Blutsauger" (Standard, unsere Kritik hier).
Archiv: Film

Kunst

Im Interview mit monopol erklären die Künstlerinnen Sung Tieu, Marianna Simnett und Verena Issel ihre Vorstellungen von fairen Strukturen in der Kunstwelt angesichts immer knapperer öffentlicher Mittel. Ein Weg ist die von ihnen initiierte Open-Source-Plattform Case, die Tieu vorstellt: "Case möchte vorerst kleine Veränderungen umsetzen und sich in kleinen Schritten hin zu etwas Größerem vorarbeiten. Ganz konkret schlagen wir vor, dass fünf oder zehn Prozent jedes Verkaufs in kommerziellen Gruppenausstellungen von Künstler:innen- und Galerieseite in einen gemeinsamen Topf fließen. Und dieser Topf wird unter allen, die an der Ausstellung teilnehmen, neu verteilt." Außerdem sollen Fragen offengelegt werden, die jeder Künstler kennt. "Die Geschäfte sind oft eine Mischung aus privaten Interaktionen, die zu geschäftlichen Interaktionen werden und umgekehrt", erklärt Issel. "Es existieren keine Verträge, und Deals werden per Handschlag abgewickelt. Man erklärt sich einfach so bereit, 30 Gemälde zu übergeben, oder etliche Arbeitsstunden für ein Proposal zu einer Ausstellungsbeteiligung zu investieren. Für konservative Dinge wie ein Lieferangebot muss ich oft kämpfen. Ich denke, viele Akteur:innen vermischen einfach absichtlich die beiden Sphären, weil es sich als vorteilhaft für sie erweist."

Lena Schneider besucht für den Tagesspiegel den ukrainischen Künstler Artem Volokitin in seinem Atelier im Potsdamer Rechenzentrum. Volokitin war mit seiner Familie im März aus Charkiw nach Deutschland geflohen. Im Atelier hängt auch das Bild, an dem er gerade arbeitet: "Zu sehen sind feine schwarze Linien auf weißer Leinwand, ein Kampf zwischen Farbfeldern aus Gelb und Schwarz. Es ist die Variation eines Themas, das ihn seit zwei Jahren beschäftigt und den Zyklus 'Irreversible Beauty' nun abgelöst hat. Es geht um das Paradoxon, dass es dort, wo es am hellsten ist, auch am dunkelsten ist. Wer direkt in die Sonne schaut, sieht einen schwarzen Fleck. Und wer die Augen fest zusammenpresst, sieht wiederum bunte Farben. 'After Image' heißt der Zyklus. Es geht darum, die Sonne einzufangen."

Weiteres: In monopol berichtet Alia Lübben über die Düsseldorf Photo+. Besprochen werden außerdem die große Bellotto-Ausstellung in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden (Tsp) und eine Ausstellung der frühen Informel-Arbeiten der argentinischen Künstlerin Marta Minujín in New York (hyperallergic).
Archiv: Kunst

Bühne

"Fünfzig Prozent sind das neue Ausverkauft" an deutschsprachigen Bühnen, zitiert Uwe Mattheiß im Standard spöttisch Theaterleute. Um die Theater wieder zu füllen, braucht es eine Strategie, meint er und empfiehlt eine von dem Soziologen Martin Tröndle 2019 herausgegebene Studie zur "Nicht-Besucherforschung": "Dieses Papier müsste das Zeug zum Bestseller haben. Akademische Forschung bietet solide Daten. Eingang in kulturpolitische Entscheidung finden sie eher selten, was Tröndle und der inzwischen auch in Krems lehrende Markus Rhomberg in einer weiteren Studie beklagen. Sie zeigen darin, dass das Durchschnittsalter der Konzertbesucher in den zwei Jahrzehnten um die Jahrtausendwende um elf Jahre gestiegen ist. Publikum wird zur schützenswerten Spezies." Die neuen Besucher können aber offenbar nur um den Preis der Abwertung der alten gewonnen werden: "Das Theater der Zukunft wird ein Theater der Bildung sein und nicht mehr eines des Bildungsdünkels", ist sich Mattheiß sicher.  

Weiteres: Dorion Weickmann berichtet in der SZ über Missbrauchsvorwürfe gegen die Tanz-Akademie Zürich. Michael Stallknecht schreibt in der SZ zum Hundertsten der Händel-Festspiele in Halle. Besprochen wird ein "Ring" von Necati Öziri und Christopher Rüping im Wiener Museumsquartiert (Standard).
Archiv: Bühne

Musik

Pop- und Rockkonzerte kommen nach zwei Jahren wieder - und es sind vor allem die Alten und noch Älteren, die die Bühnen und Konzertarenen stürmen, muss ein ebenfalls nicht mehr völlig junger und darüber zuweilen ziemlich melancholischer Kurt Kister in der SZ feststellen. Das Publikum altert mit: "Mit jedem Bandscheibenvorfall und jedem künstlichen Hüftgelenk merken auch sie, dass wirklich Willy Brandt Kanzler war, als sie 17 Minuten lang zu 'In-a-gadda-da-vida' von Iron Butterfly tanzten. ... Kein Wunder also, dass die Leute immer noch zu den Stones, zu Elton John oder auch zu den noch existierenden Rumpfbands wie Jethro Tull, Uriah Heep oder Deep Purple pilgern. Sie hören da ihr Leben. Weil sie es hören, können sie, und sei es nur einen Abend lang, sicher sein, dass eigentlich alles immer noch immerhin halbwegs okay ist."

Weitere Artikel: Ueli Bernays berichtet in der NZZ vom Ärger um das Tessiner Musikfestival Moon & Stars, das in seinem Comeback-Jahrgang ein rein männlich zusammengestelltes Hauptprogramm präsentiert, worauf Sophie Hunger auf Twitter mit gerechtem Zorn aufmerksam gemacht hat, während der Veranstalter beteuert, Musikerinnen zwar angefragt, aber keine Zusage erhalten zu haben. tazlerin Katrin Gänsler lässt sich in einer senegalesischen Werkstatt zeigen, wie aus einem Flaschenkürbis ein Musikinstrument gebaut wird. Tobias Prüwer schreibt im Freitag zum Tod des Depeche-Mode-Keyboarders Andrew Fletcher (unser Resümee).

Besprochen werden Angel Olsons Album "Big Time" (Pitchfork), das neue Album von Kendrick Lamar (FR), eine Buch/Single-Kombi von Jowe Head, dem Bassisten der Swell Maps (taz), ein Akustikkonzert von Billie Eilish in Bonn vor geladenem Influencer- und Fan-Publikum (Welt), ein Buch von Eva Ries über den Wu-Tang Clan (Welt), neue Jazzveröffentlichungen, darunter Mary Halvorsons "Amaryllis & Belladonna" (The Quietus), das neue Album von Harry Styles (taz), ein Schostakowitsch-Konzert des Hagen Quartetts im Berliner Boulez Saal (Tsp).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Birte Förster passend zum Thronjubiläum von Queen Elisabeth II. über "God Save the Queen" von den Sex Pistols:

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