Efeu - Die Kulturrundschau

Nein, nein, wir haben nichts zensiert

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08.06.2022. In der FAZ erklärt der Theatermacher Sulayman al-Basam, wie Zensur in Kuweit funktioniert. FR und FAZ bestaunen in Basel den Willen zur Abstraktion schon in den frühen Werken Mondrians. Der Standard ermuntert die Gen Z, ihren Nonkonformismus mit Kate Bush zu stärken. In der Welt erklärt Verleger Herbert Wiesner, warum er zusammen mit Deniz Yücel und 200 weiteren Autoren am Wochenende den PEN Berlin gegründet hat. Zeit online bewundert jetzt schon die weltanschauliche Dynamik des neuen PEN.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.06.2022 finden Sie hier

Kunst

Piet Mondrian: "Die rote Wolke" (Ausschnitt), 1907 Foto: Kunstmuseum Den Haag


Gleich zwei Maler kann Peter Iden in der Fondation Beyeler bewundern: Den Landschaftsmaler Piet Mondrian und den abstrakten Künstler Piet Mondrian. Kaum zu glauben, das beide die selbe Person sind, erklärt Iden in der FR: "Beide Positionen sind dermaßen weit voneinander entfernt, dass ihre Herkunft von einer Hand und also auch der Vorgang einer Entwicklung, den die Ausstellung zum Titel hat, 'Mondrian Evolution', kaum möglich erscheinen. Was beim Betrachten allenfalls gelingt, ist die Identifikation eher beiläufiger Details, die in den Landschaften auf die Abstraktion womöglich hinweisen. So liegen die einsamen Bauernhöfe oft an fließenden Gewässern, es gibt eine Ahnung von Dynamik ebenso wie die Schilderung von Türmen und Windmühlen, auch von Bäumen und Waldstücken, vertikale Strukturen betonen, die etwas antizipieren von der strengen geometrischen Gliederung der abstrakten Bilder."

Der "Wille zur Reduktion auf das Wesentliche" ist schon sehr früh da, erkennt dagegen FAZ-Kritiker Stefan Trinks, die "Frau mit Spindel" betrachtend, die "steif wie ein menschgewordener rechter Winkel auf ihrem Stuhl" sitzt. Er ist schon hin und weg von der Präsentation: Sieben Mondrians kommen allein aus der hauseigenen Sammlung, "die in der Ausstellung ihre subtilen Oberflächen ohne Schutzverglasung darbieten, was in keinem Großmuseum der Welt mehr denkbar wäre. Die ultrafeinen Oberflächentexturen mit ihren oftmaligen Richtungswechseln der Pinselstruktur um neunzig Grad und damit verbundenem anderen Weißgrad der Farbe durch gekipptes 'Schattenspiel' kommen einer Offenbarung gleich." (Hier der Link zum Ausstellungskatalog).

Weiteres: Trinks gratuliert in der FAZ dem Künstler Peter Fischli zum Siebzigsten. Besprochen werden außerdem "Inseljugend", eine Ausstellung des Fotografen Andreas Jorns im Museum Kunst der Westküste auf Föhr (taz), die Ausstellung "Die Form der Freiheit" mit Nachkriegskunst im Potsdamer Museum Barberini (Tsp) und eine Retrospektive des Künstlers Manfred Erjautz im Kultum der Grazer Minoriten (Standard).
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Literatur



Die Sensation ist perfekt: Nach dem Eklat von Gotha gründen über 200 Autorinnen und Autoren rund um Deniz Yücel am kommenden Freitag offiziell (inoffiziell schon letztes Wochenende) den PEN Berlin - viele des neuen Verbands sind Mitglieder des deutschen PEN-Zentrums, unter anderem auch Ursula Krechel, dessen bisherige Ehren-Präsidentin. Keinen Gegen-, sondern einen besseren PEN wolle man schaffen, schreibt Yücel dazu auf Twitter. Auch "Doppelmitgliedschaften mit dem bestehenden PEN sollen ausdrücklich möglich sein", weiß Dirk Knipphals in der taz. Die Mitgliedsliste liest sich schon jetzt "wie das Who is Who des deutschen Literaturbetriebs", schreibt Marc Reichwein in der Welt. "Es wird im alten PEN keinen Neuanfang geben. Vielmehr hat sich der relevante Teil des literarischen Lebens vom PEN Darmstadt verabschiedet. Der alte PEN dürfte nun in Kürze in der Bedeutungslosigkeit verschwinden."

Herbert Wiesner, Verleger, Gründer des Berliner Literaturhauses (wo am Freitag die Gründung formal vollzogen wird) und Erstmitglied, verbreitet auf Welt+ Aufbruchstimmung: "Ich habe selten mehr Freude an Zukunft und Veränderung erlebt als in dieser von Minute zu Minute größer und gewichtiger werdenden Schar derer, die eine Neugründung den Reha-Bemühungen des in die Jahre gekommenen PEN Darmstadt vorziehen. ...  Thomas Mann hat in Amerika vom bedrohlichen 'Herzasthma' des Exils gesprochen. PEN Berlin wird auch jene, die unter dieser Krankheit leiden, zu sich aufnehmen, nicht als Schutzbefohlene, sondern als gleichberechtigte Mitglieder, von denen wir lernen können. Das Miteinander der Sprachenvielfalt kann nicht ohne literarästhetische Folgen bleiben; darüber müssen wir nachdenken."

Johannes Schneider staunt auf ZeitOnline über die weltanschauliche Dynamik, die sich schon jetzt im PEN Berlin abzeichnet: "Ein bisschen ist es so, als habe man die (konservative) Liste der 500 bedeutsamsten deutschen Intellektuellen des Magazins Cicero wild mit der Speakerinnenliste einer postmarxistischen Tagung gekreuzt. ...  Lange nicht mehr - wenn überhaupt je - haben sich unterschiedlichste intellektuelle Submilieus so einmütig und kurzfristig hinter einer Sache versammelt."

Auch Andreas Platthaus von der FAZ sieht im selbstbewussten Aufschlag des neuen Verbands "eine klare Sprache dafür, dass Yücels bei seinem Austritt verkündetes Urteil, der alte PEN sei politisch gar nicht mehr zeitgemäß gewesen, Resonanz findet". Ein "Präsidium nach altem Stil mit einem Vorsitzenden" werde es nicht geben, "sondern ein 'Board' aus zwei 'gleichberechtigten Sprecher:innen' und wahlweise fünf, sieben oder neun weiteren Mitgliedern. Das ist die Antwort des PEN Berlin auf die absehbaren Vorhaltungen, dass er nur als Akklamationsverein für den bei seinen Gegnern als Selbstdarsteller verschrienen Yücel fungiere, dessen Wahl zum Sprecher indes wahrscheinlich sein dürfte."

Wie geht es nun weiter? Mit dem Äußersten ist wohl nicht zu rechnen, meint Cornelius Pollmer in der SZ, also keineswegs damit, "dass PEN I und PEN II bald auf Hogwarts im Quidditch gegeneinander antreten, es wird auch kein regelmäßiges Lanzenstechen im Innenhof von Schloss Friedenstein zu Gotha geben". Doch "was schon entstehen dürfte, ist eine Konkurrenz um Vertretungsansprüche (offenbar eruiert die Gruppe 'Berlin' bereits eine Anerkennung durch den Internationalen PEN) - und vor allem um finanzielle Mittel, etwa jene gut 600 000 Euro von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, mit denen das Programm 'Writer's in Exile' finanziert wird."

Themenwechsel: In der NZZ erinnert Ulrich M. Schmid an den 2009 verstorbenen russischen Dichter Sergei Michalkow, der seit den Vierzigern sämtliche Versionen der sowjetischen, später dann russischen Nationalhymne gedichtet hat und auch ansonsten von seinem Heimatland mit Ehren und Medaillen überhäuft wurde: Er "suchte die Nähe der Herrscher, und sie wurde ihm gewährt", ferner "beteiligte sich Michalkow mit erschreckender Regelmäßigkeit an Hetzkampagnen gegen oppositionelle Künstler. ... Spiegeln diese Äußerungen Michalkows Überzeugungen wider, oder waren sie bloß die Liebedienerei eines virtuosen Wendehalses vor dem Thron der (wechselnden) Mächtigen? Man kann Sergei Michalkow fraglos vieles vorwerfen, aber keinen Opportunismus. Seine Staatsgläubigkeit entsprang vielmehr seinem unkritischen und naiven Naturell."

Besprochen werden unter anderem Fiston Mwanza Mujilas "Tanz der Teufel" (SZ), Aleš Štegers "Neverend" (FR) und Sibylle Bergs "RCE" (FAZ).
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Film

Wer desavouiert hier eigentlich wen? Historisches Material und Film Still aus "Gladbeck. Das Geiseldrama" (Netflix)

Für Netflix hat Archivmaterial-Collageur Volker Heise das Material zum Geiseldrama von Gladbeck gesichtet und den Film "Gladbeck. Das Geiseldrama" zusammengestellt. "Das Erzählerische ist ganz in der Montage aufgegangen", schreibt Peter Körte in seiner von der FAS online nachgereichten Besprechung. "Die Gruppierung, das Arrangement des Materials, Auswahl und Timing sorgen für die narrative Form. Zugleich gilt es, diese reflexionslosen Bilder, die Kumpanei und die Distanzlosigkeit derer, die sie gemacht, und derer, die sie in Auftrag gegeben und verarbeitet haben, nicht einfach zu reproduzieren. Heise löst das souverän: Er lässt die Bilder von damals die Bedingungen ihrer Entstehung desavouieren." Doch Körte beschleicht dabei auch "ein seltsamer Effekt. Man könnte von 'Refiktionalisierung' sprechen. Es kommt einem so vor, als sähe man einen formal avancierten Kriminalfilm, der mit einem Mangel an Perfektion kokettiert, gezielt verschiedene visuelle Formate einsetzt."

Außerdem: David Steinitz berichtet in der SZ von einem Urheberrechtsstreit um Tom Cruise' aktuellen "Top Gun"-Blockbuster: Die Erben des Journalisten, auf dessen Reportage der erste "Top Gun"-Film aus den Achtzigern lose basiert, machen Ansprüche geltend. Carolin Ströbele erinnert auf ZeitOnline an den 80er-Nahtanz-Klassiker "La Boum", der vor 40 Jahren in die Kinos kam.

Besprochen werden der neue "Jurassic World"-Blockbuster (NZZ, Freitag), die Satire "Der perfekte Chef" mit Javier Bardem, die in Deutschland allerdings erst Ende Juli startet (NZZ), und die Sky-Doku "Welcome to Flatch" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus "I Medea" von Sulayman al-Basam. Foto: jtc


Sulayman al-Basams Theaterstück "I Medea" kann man diese Woche bei den "Arabischen Theatertagen" in Hannover sehen. In seinem Heimatland Kuweit kann er das Stück über eine Flüchtlingsfrau, deren Land von Korruption und Islamismus geprägt ist, während sie im Westen unter Rassismus leidet, nicht zeigen, erzählt er im Interview mit der FAZ. "'Sie haben die ganze Sache unmöglich gemacht', sagt er nun, in der Abendsonne sitzend, welche die bröckelnde Fassade des Beiruter Restaurants in warmes Licht hüllt. Unmöglich, indem die kuwaitischen Behören die zum Zweck der Verzögerung und Verunsicherung in dieser Weltgegend sehr geschätzten 'Komitees' einsetzten, die alle erst ihrer etwas undurchsichtigen Arbeit nachgehen mussten, bevor er auftreten durfte. 'Ich sage es immer wieder', meint er, 'es kommen keine Polizisten, die einen ins Gefängnis stecken.' Zensur habe eine subtilere Form: 'Eine, die dem anderen immer die Möglichkeit lässt zu sagen: Nein, nein, wir haben nichts zensiert.'"


Weiteres: Andreas Rossmann schreibt in der FAZ zum Tod des Theaterintendanten Klaus Pierwoß. Besprochen werden Karin Henkels Thomas-Bernhard-Inszenierung "Auslöschung. Ein Zerfall" am Deutschen Theater (taz, SZ), Susanne Kennedys Inszenierung von Philip Glass' und Robert Wilsons "Einstein on the Beach" am Theater Basel (SZ), Kirill Serebrennikows Inszenierung von Webers "Der Freischütz" in Amsterdam (SZ) und Yurii Radionovs Inszenierung der Exilpremiere von Luda Tymoshenkos "Zal'ot" in Stuttgart (FAZ, SZ)
Archiv: Bühne

Musik

Im Standard freut sich Amira Ben Saoud darüber, dass Kate Bushs 80s-Klassiker "Running Up That Hill" dank der neuen Staffel der Netflix-80s-Horrorsause "Stranger Things" wieder in den Charts steht. "Die Gen Z, immer auf der Seite der Outsider, kann mit Bushs Nonkonformismus viel anfangen und liest sie sicherlich auch anders als ihre Ersthörerinnen und Hörer: als LGTBQ+-Verbündete, Feministin, als politischen Menschen, als den sich Bush selbst überhaupt nicht begreift. Aber genau das ist das Schöne an verschiedenen Lesarten, weil sie einen Dialog ermöglichen. Im besten Fall haben Boomer, Millennials und die Gen Z jetzt für einen Tag ein gemeinsames Thema, zu dem sie sich austauschen können: 'Running Up that Hill'. 'Let's exchange the experience, oh, uhh!,' heißt es dort ja passenderweise." In der Serie holt der Song ein Mädchen via Walkman aus einer dämonischen Parallelwelt zurück in unsere Welt:



Weiteres: SZ-Popkolumnist Jakob Biazza freut sich darüber, dass Brian May im Herbst den letzten Song, den Freddie Mercury je sang, nach langem Zaudern und Zögern nun doch veröffentlichen wird. Ein Songschreiber wirft Mariah Carey vor, ihren Hit "All I Want for Christmas is You" von ihm abgekupfert zu haben, berichtet Johannes Korsche in der SZ. Frederik Hanssen porträtiert im Tagesspiegel die Solo-Kontrabassistin Maria Krykov, die in der kommenden Saison zum Berliner Konzerthaus wechselt. Im Tagesspiegel porträtiert Gunda Bartels die Popmusikerin Wilhelmine.

Besprochen werden der erste Auftritt der Ärzte in Spandau seit 40 Jahren (Tsp), ein Konzert von Japanik in Frankfurt ("es ist ein Schweben von außerordentlicher Suggestivkraft in der Musik", notiert Stefan Michalzik in der FR), neue Popwiederveröffentlichungen, darunter "Sister" von Sonic Youth (Standard), und das neue Country-Album von Lyle Lovett (NZZ). Hier das Titelstück:

Archiv: Musik